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Pestalozzi-Fröbel Verband e.V (Hrsg.): Rethinking frühkindliche "Erziehung, Bildung und Betreuung"

Rezensiert von Alexandra Großer, 30.01.2025

Cover  Pestalozzi-Fröbel Verband e.V (Hrsg.): Rethinking frühkindliche "Erziehung, Bildung und Betreuung" ISBN 978-3-7799-7782-7

Pestalozzi-Fröbel Verband e.V (Hrsg.): Rethinking frühkindliche "Erziehung, Bildung und Betreuung". Fachwissenschaftliche und rechtliche Vermessungen zum Bildungsanspruch in der Kindertagesbetreuung : eine Expertise im Auftrag des Pestalozzi-Fröbel Verbands e.V. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 113 Seiten. ISBN 978-3-7799-7782-7. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Reihe: Beyond Frühpädagogik.

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Thema

Die Publikation beleuchtet kritisch die Trias „Erziehung, Bildung und Betreuung“. Der Begriff „Notbetreuung“ während der Corona-Pandemie offenbart, wie schnell Kindertageseinrichtungen und schulischer Ganztag auf historisch überholte Pfade ihrer Entwicklung zurückgeführt und von ihren pädagogischen Aufgaben entbunden werden konnten. Gefragt wird danach, wie das in den letzten Jahren errungene Verständnis frühkindlicher Bildung und Erziehung nachhaltig sichtbar gemacht und damit die Bedeutung eines „erweiterten Bildungsverständnisses“ in der Gesellschaft verankert werden kann (Klappentext).

Autorin oder HerausgeberIn

Ina Kaul, Dr. phil., ist Gastprofessorin der Universität Kassel im FB 01/Institut für Sozialwesen für das Fachgebiet Theorie, Organisation und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Sie ist Dipl. Sozialpädagogien (M.A.) und Erzieherin und war zehn Jahre als Dozentin am Ev. Fröbelseminar, einer privaten Fachschule für Sozialwesen der Diakonie Hessen, tätig.

Peter Cloos, Prof. Dr. phil., ist Hochschullehrer für Pädagogik der frühen Kindheit an der Universität Hildesheim. Er ist Sprecher des Kompetenzzentrums Frühe Kindheit Niedersachsen und des Forschungsverbundes Inklusive Bildungsforschung der frühen Kindheit, Vorstandsmitglied der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Mitglied des Sprecher*innenrates des Studiengangs Pädagogik der Kindheit, Landeskoordinator für Deutschland der European Early Childhood Education Research Association (EECERA), Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Robert Bosch Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Jugendinstitut e.V. und im Vorstand des Instituts für Theorie und Empirie des Sozialen (ITES) – Werkstatt für sozialpädagogisches Denken.

Stephanie Simon, Dr. phil., M. A. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik der TU Dortmund. Sie arbeitete im BMBF-geförderten Projekt „Kinder als ‚Stakeholder‘ in Kindertagesstätten“ und außerschulischen Bildung am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel und war von 2015 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Verbundprojekt von Ev. Fröbelseminar und Universität Kassel im Projekt „Umgang mit Deutungen von Armut in Kindertagesstätten“.

Werner Thole, Prof. Dr. phil. habil., Dipl. Sozialpädagoge und Dipl. Pädagoge, ist Hochschullehrer an der TU Dortmund und war bis 2021 Hochschullehrer für Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulischen Bildung an der Universität Kassel mit den forschungsbezogenen Arbeitsschwerpunkten theoretische, professionsbezogene und disziplinäre Fragen der Sozialpädagogik, Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Pädagogik der Kindheit sowie der Kinder- und Jugendforschung. Er ist Mitherausgeber mehrerer Buchreihen und Zeitschriften, unter anderem der Reihe „Edition Soziale Arbeit“, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden, sowie der Zeitschriften „Soziale Passagen“ und „Sozial Extra“. Seit 2018 ist er Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Jugendinstituts (DJI).

Johannes Münder, Prof. Dr. jur. (em. seit 2010), Universitätsprofessor, Lehrstuhl für Sozialrecht und Zivilrecht am Institut für Sozialpädagogik der Technischen Universität Berlin. Schwerpunkt seiner Forschungen sind das Familienrecht, das Kinder- und Jugendhilferecht, das Bürgergeld, das Sozialrecht und die Institutionen der sozialen Arbeit. Er berät auf seinen Fachgebieten die Bundesregierung und die Landesregierungen, öffentliche Träger sowie freie Träger der sozialen Arbeit. Er war ehrenamtlich tätig, so u.a. bei der Arbeiterwohlfahrt, dem Sozialpädagogischen Institut „Walter May“ in Berlin, dem Institut für soziale Arbeit e.V. in Münster. Im SOS-Kinderdorf Deutschland e.V. war er Vorstandsmitglied (ab 1992) und (ehrenamtlicher) Vorstandsvorsitzender (2004–2017). Für sein Engagement in der Wissenschaft und in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe erhielt Johannes Münder 2005 das Bundesverdienstkreuz.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist unterteilt in Einführung, Fachwissenschaftliche Expertise, und Rechtsexpertise. In der Einführung geben Anke König, Andreas Hilliger und Bettina Stobbe Einblick in die Hintergründe zur Trias „Erziehung, Bildung und Betreuung“ (S. 9). Die Fachwissenschaftliche Expertise Stärken und Schwächen der Trias „Erziehung, Bildung und Betreuung“ wurde von Ina Kaul, Peter Cloos, Stephanie Simon und Werner Thole verfasst. Die Rechtsexpertise stammt von Johannes Münder. Im Anhang werden die Kita-Ausführungsgesetze der einzelnen Bundesländer auf das Verständnis von Bildung hin analysiert und kommentiert. Deren Analyse und Zusammenfassung im 6. Kapitel zu finden sind.

1. Anlass und Aufbau der Expertise

„Kaum ein Bildungsbereich hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten derart rapide verändert wie das System frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE)“ (S. 19). Der zunehmende Ausbau von Kindertageseinrichtungen hat zu einem personellen Zuwachs von Personal und Kindern geführt. Damit „steigen die gesellschaftlichen Erwartungen an die Leistungen frühkindlicher Institutionen, was zu einer Ausdifferenzierung der Angebote führt. Zugleich lässt sich damit eine Verschiebung in der Gewichtung der entsprechenden pädagogischen Aufträge der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern beobachten“ (ebd.). Die Expertise setzt sich intensiv mit dem Begriff Bildung auseinander „und wird anhand unterschiedlicher Entwürfe Bildung als Schlüsselbegriff in Relation zu den Begriffen Erziehung und Betreuung beleuchten“ (ebd.). Zugleich reflektiert sie den Begriff Bildung. Mit der Expertise soll ein offenerer Bildungsbegriff und damit „erweitertes Bildungsverständnis“ (S. 13) gefunden werden, „um das errungene Verständnis frühkindlicher Bildung und Erziehung nachhaltig sichtbar zu machen“ (ebd.) und gesellschaftlich zu verankern, sowie zu weiteren Diskussionen anregen.

2. Gesellschaftliche und strukturelle Bedingungen und Herausforderungen

In Kindertageseinrichtungen findet Bildung, Betreuung, Erziehung und Kindheit statt. Sie gehören inzwischen zum Bildungssystem dazu. Sie sind die erste Bildungsinstitution für Kinder und haben heute vielfältige Aufgaben zu erfüllen. Neben Bildung Betreuung und Erziehung auch Hilfe zur Erziehung, Armutssensibles Handeln, Prävention, Schutz und Kindeswohl, Partizipation, Demokratiebildung, um nur einige zu nennen. Im Lauf der Geschichte und durch Reformen ausgelöst, rückte die Bildung im Elementarbereich immer wieder in den Fokus von Bildungsdiskursen. In den 70er Jahren war es der „Sputnik-Schock“ (S. 20) und die ausgerufenen „Bildungskatastrophe“ (ebd.), die zu grundlegenden Reformen des Bildungswesens führte. Chancengleichheit und Demokratie waren die Leitideen (vgl. S. 21). In den Diskursen um Bildung ging es immer wieder auch um die Ökonomisierung dieser. Mit den ersten PISA-Studien, die den PISA-Schock auslösten, rückte der Elementarbereich erneut in den Fokus. Dies führte „ab der Jahrtausendwende zu einer Implementation von Bildungs- und Erziehungsplänen“ (S. 21.). Welche zu einer verstärkten „schulischen Bildungsorientierung“ (ebd.) führte verbunden mit dem Auftrag Kinder Schulfähig zu machen, womit wieder ökonomische Leitideen zum Tragen kommen. Aufgrund der historischen Nachzeichnung, dem vermehrten Wandel an Bildungsaufträgen und Inhalten die Kindertageseinrichtungen herausfordern und „Zentrierung um das Ökonomische“ (S. 22) stellt sich die Frage, welcher Stellenwert Bildung in der Frühpädagogik zukommt, welches Bildungsverständnis und welcher Bildungsbegriff damit zugrunde liegt (vgl. ebd.). Neben Bildungsinhalten geht es hierbei auch um die Frage, was braucht es an Qualifizierung und Professionalisierung im frühpädagogischen Bereich (vgl. ebd.).

3. Betreuung und Erziehung

Bei den Begriffen Bildung, Betreuung und Erziehung handelt es sich um sogenannte „Umbrella-Begriffe“ (S. 23), die zum einen „nicht immer genau voneinander abgegrenzt werden können“ (ebd.) und zum anderen je nach Wertung und Gewichtung „sehr unterschiedlich ‚gefüllt‘, verstanden und diskutiert werden“ (ebd.). Die Autor*innen halten zunächst fest, dass die Begriffe Bildung, Betreuung und Erziehung in wissenschaftlichen Erörterungen anders debattiert werden, „als in der pädagogischen Alltagspraxis oder bildungs- und sozialpädagogischen Diskussionen“ (ebd.). Daher versuchen sie zunächst eine Annäherung an die Begriffe Betreuung und Erziehung und beschreiben, was sie darunter verstehen. Gleichzeitig stellen sie die Frage, ob es noch zeitgemäß ist, an der Trias festzuhalten, aufgrund der vielfältigen Aufträge, die Kitas zu erfüllen haben.

Zunächst stellen sie fest, dass der Begriff Betreuung, wenig scharf umrissen und wenig empirisch erforscht ist und damit ein „Schattendasein“ (S. 24) führt. Im Begriff Betreuung wird versucht „eine umfassende, zunächst elterliche, jedoch auch professionelle Aufmerksamkeit und Sorge für das leibliche, körperliche und psychische Wohlergehen von jüngeren Kindern auszudrücken“ (ebd.). Folgt man den weiteren Ausführungen der Autor*innen, welche den Begriff unter verschiedenen Betrachtungsweisen umreißen,

  • „Betreuung als beziehungsorientiertes (asymmetrisches) Handeln“ (S. 25) nach Ludwig Liegle,
  • „Betreuung als personalisierungsbedürftige Tätigkeit“ (S. 26) nach Dorothee Gutknecht,
  • „Betreuung als Sorgeverhältnis von Adressierung und Anerkennung“ (ebd.) nach Bettina Hünersdorf und als
  • „advokatorische Für-Sorge und sorgeversierte Pädagogik“ (S. 27) nach Ulrich Wehner),

erkennt man, dass mit diesem Begriff nicht nur Tätigkeiten, sondern auch zwischenmenschlichen Beziehungen und Interaktionen verbunden sind, die ebenso mit dem Begriff Erziehung zusammenhängen. Damit stecken im Begriff Betreuung sowohl Aspekte der Care Arbeit als auch pädagogische Aspekte. Es scheint so zu sein, dass Betreuung Bildung und Erziehung einschließt. Zugleich wird der Begriff Betreuung in gesellschaftlichen Diskursen zunehmend unter dem Gesichtspunkt der „Vereinbarkeitsthematik“ (S. 25) diskutiert, wie Debatten um Betreuungsplätze, Betreuungsformate, Betreuungsqualität und Betreuungsmöglichkeiten zeigen (vgl. ebd.). Im Anschluss betrachtet das Autorenteam den Begriff Betreuung unter der feministischen Perspektive. In der Auseinandersetzung mit dem „Themenfeld Betreuung“ (S. 28) geht es „im Rahmen der Care-Debatte“ (ebd.) auch um „geschlechterpolitische Fragestellungen“ (ebd.). Im Zwischenfazit stellt das Autorenteam fest, dass „die Rede von und der Fokus auf Betreuung Chancen [birgt], spezifische bisher noch immer anerkannte Teile professionellen Handelns sorge- oder caretheoretisch aufzuwerten“ (S. 29). Es zeigt sich jedoch auch, dass mit Betreuung auch konservative Perspektiven einhergehen, welche „die Rückbesinnung auf eine familiale Betreuung stärk[en]. Es wird deutlich, dass die Ausgestaltung des Aufwachsens von Kindern eine gesellschaftliche Aufgabe ist und bleibt“ (ebd.). Indem sie die feministischen Blickwinkel einbeziehen, legen sie dar, dass „nur mit einer grundlegenden Veränderung von Sorge-Ordnungen diese Herausforderung so gestaltet werden kann, dass sie sich positiv für alle Beteiligten auswirkt“ (ebd.). Auch scheint sich die Trias Bildung Betreuung und Erziehung aufzulösen.

Im nächsten Abschnitt widmet sich das Autorenteam dem Begriff Erziehung, welcher neben. „Bildung und Lernen als ein klassischer Begriff der Erziehungswissenschaft [gilt], wobei die Begriffe nicht immer trennscharf voneinander abgegrenzt werden können“ (ebd.). Die Autor*innen begnügen sich auf einen „kursorischen Überblick über einige markante Diskurse zu Erziehung [welche] eine grundlegende Einschätzung ermöglichen soll“ (S. 29), welche sich auf die „die institutionalisierte Erziehung in Kindertageseinrichtungen“ (S. 29 f.) konzentriert. Zunächst geht das Autorenteam auf den intentionalen Erziehungsbegriff von Wolfgang Brezinka ein, dem sie den kritisch-reflexiven Erziehungsbegriff von Klaus Mollenhauer gegenüberstellen. Mit Jürgen Oelkers Erziehungsbegriff, der „Erziehung als moralische Kommunikation“ (S. 32) versteht, bringen sie, neben den frühpädagogischen Perspektiven auf Erziehung, eine weitere Perspektive des Erziehungsbegriffs ein. Im Zwischenfazit konstatiert das Autorenteam, dass sich der Begriff Erziehung weder eindeutig definieren noch eindeutig vom Begriff Betreuung abgrenzen lässt.

4. Bildung

Nachfolgend beleuchten die Autor*innen den Begriff Bildung und besprechen diesen zunächst anhand erziehungswissenschaftlicher Sichtweisen. Neben Klafkis Bildungstheorie, „die zwischen einer formalen, einer materialen und einer kategorialen Idee und Konzeption von Bildung unterscheidet“ (S. 38), betrachtet das Autorenteam den Bildungsbegriff nach Lenzen mit seinen Dimensionen:

  • Bildung als individueller Bestand
  • Bildung als individuelles Vermögen
  • Bildung als individueller Prozess
  • Bildung als individuelle Selbstüberschreitung und
  • Aktivität bildender Institutionen oder Personen (vgl. S. 37).

Anschließend gehen sie auf den Bildungssoziologischen Ansatz Pierre Bourdieus ein und knüpfen mit bildungstheoretischen Überlegungen zu „Bildung als Transformation“ (S. 40) von Koller, Kokemohr und Wulf an, und zeigen auf, dass es eine „erweiterte Idee von Bildung“ (S. 41) bedarf. Nachfolgend greift das Autorenteam das Thema Bildung in der Pädagogik der Kindheit auf und erläutert, dass die „frühpädagogischen Debatten um Bildung der letzten 25 Jahre weniger bildungstheoretisch“ (S. 42) als „primär bildungs- (und sozial-) politisch motiviert“ (ebd.) geführt wurden. Damit wurde der Versuch unternommen „den gesellschaftlichen Stellenwert von Kindertageseinrichtungen über einen eigenständigen Bildungsauftrag zu stärken und diese als zentralen Teil des Bildungssystems zu verstehen“ (ebd.). In den Fokus pädagogischer Arbeit gerieten die Lern- und Bildungsprozesse der Kinder. Dies zeigte sich auch an den vielen entwickelten und in der Praxis implementierten „länderspezifischen Bildungsplänen“ (ebd.). Insgesamt ist das Thema Bildung im frühpädagogischen Bereich, mit den einhergehenden Debatten um Professionalisierung, „dem verlängerten Aufwachsen von Kindern in Institutionen“ (S. 43) und den Forderungen nach pädagogischer Qualität, wieder in den Fokus verschiedener Diskurse gerückt. Das Autorenteam greift die allgemeinen bildungstheoretischen Ansätze in der Kindheitspädagogik auf. Sie unterscheiden zunächst zwischen den Ansätzen der Selbstbildung und der Ko-Konstruktion und geben zu bedenken, dass im Unterschied zu den beschriebenen Ansätzen in letzter Zeit vermehrt phänomenologische Zugänge in die frühpädagogische Bildung eingebracht werden. Verbunden damit ist die Kritik an der Finalisierung und Funktionalisierung kindlicher Bildung. Das Autorenteam plädiert dafür, die Überlegungen zu den verschiedenen Ansätzen „für frühpädagogische Bildungsprozesse wahrzunehmen, zu gestalten und zu reflektieren“ (S. 46). Gleichfalls werden auch die „allgemein gefassten bildungstheoretischen Überlegungen in den frühpädagogischen Diskussionen noch nicht vollständig aufgegriffen“ (ebd.), sondern Bildung teilweise „stark anwendungsorientiert und didaktisierend“ (ebd.) diskutiert. Anschließend stellen sie exemplarisch einige Konzeptionen frühpädagogischer Bildung mit unterschiedlicher Akzentuierung heraus. Beleuchtet werden Konzepte zu

  • „Bildung als (Entwicklungs-) Förderung
  • Bildung als Alltags- und Lebensbildung und
  • Bildung im sozialen Raum“ (S. 46 ff).

Eine weitere Einflussgröße, die die Erziehungswissenschaftler*innen aufnehmen, ist der Bildungsgedanke der Slow Pedagoy. Die sich „gegen eine Effektivierung kindlichen Aufwachsens, gegen Prozesse der Scholarisierung, die Kinder jegliche Art von Förderung und Bildung zukommen lassen will“ (S. 50) wendet und sich dafür ausspricht nach den Bildungsprozessen und „Zeitstruktur der Kinder“ (ebd.) zu richten. Ein weiterer Aspekt, den das Autorenteam einbringt, und mit dem Bildung neu gedacht werden muss, ist der Umweltgedanke. Das heißt Bildung muss sich mit den „gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und Herausforderungen, die mit der ‚Klimakatastrophe‘ in Zusammenhang stehen“ (S. 51) und den damit verbundenen Fragen auseinandersetzen und neugedacht werden. „Eingefordert wird damit auch eine Neupositionierung des Menschen in der Welt, die im Zeitalter des ‚Anthropozäns‘ über Reflexionen der menschengemachten Krisen auch eine Neuausrichtung von Bildung nach sich ziehen“ (ebd.) Bezogen auf die bildungstheoretischen Überlegungen frühpädagogischer Bildung, wird „eine Erweiterung von Bildungskonzepten um eine Perspektive, die gesellschaftliche Veränderungen aufzugreifen vermag und sich gegenüber anderen Lebewesen und Naturressourcen sensibel und nachhaltig zeigt“ (ebd.) angemahnt.

5. Bildung – Versuch einer Positionierung

Nachdem kursorisch zusammengefassten und reflektierten Überblicks des Bildungsbegriffs zeigt sich, dass dieser je nach Wissenschaftstheorie sehr vielfältig verstanden und gerahmt wird. Zugleich verändert sich das Verständnis von Bildung je nach Diskurslinie. „In politisch-programmatischen Verwendungen von Bildung artikuliert sich ein anderes Verständnis als beispielsweise in der pädagogischen Praxis oder in der kindheitspädagogischen Theoriebildung. Die in der kindheitspädagogischen Praxis wiederum anzutreffenden Verständnisse von Bildung unterscheiden sich zuweilen erheblich von denen, die in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung formuliert werden“ (S. 55). Es scheint jedoch Einigkeit darüber zu bestehen, „dass die Formen, Qualitäten und das Ausmaß der erworbenen Bildung des hierein eingebundenen Wissens“ (S. 54) als auch „die tatsächlich jeweils vorzuweisenden Fertigkeiten und Fähigkeiten, das Potenzial biografisch erworbenen Wissens und Könnens“ (ebd.) sich weder über erworbene Zertifikate noch über Kompetenzbeschreibungen oder andere Verfahren hinreichend differenziert erfassen lässt (vgl. ebd.). Das Autorenteam weist daraufhin, dass gerade in der Kindheitspädagogik eine verengte Vorstellung von Bildung beliebt ist, die mit dem Verständnis von Bildung als formales Lernen einhergeht, obwohl Bildung immer und überall stattfindet. Das Autorenteam versteht „Bildung als ein[en] empirisch nicht vollends wahrnehm- und beobachtbare[n] Prozess“ (S. 55). und legt abschließend ihr erweitertes Bildungsverständnis dar: „Gedacht wird Bildung als ein Projekt, das Räume gestaltet, den Subjekten das Durchschauen und nicht die Beherrschung gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer geschichtlichen Gewordenheit ermöglicht sowie sich selbst in der Welt zu lokalisieren und sozial mit anderen Menschen, aber auch mit anderen, >nicht-menschlichen< Anderen zu interagieren. Bildung in diesem Sinne ist zu verstehen als kontinuierliche, nicht auf bestimmte Räume, Anlässe und Situationen begrenzte Aktivierung der Potenzialität, dass der Mensch gewillt und in der Verfassung ist, Wirklichkeit nicht nur zu erleben und zu ertragen, sondern diese auch in Anerkennung der Mitwelt und in Verantwortung für diese zu gestalten“ (S. 57)

6. Bildung in den SGB VIII Ausführungsgesetzen der Bundesländer – ein kommentierender Vergleich

Pädagogische Fachkräfte haben die Aufgabe Bildung, Betreuung und Erziehung in den Kindertageseinrichtungen umzusetzen. In den Ausführungsgesetzen der Länder finden sich daher Formulierungen, über die Erwartungen, die an Kindertageseinrichtungen gestellt werden (vgl. S. 58). Insgesamt fällt im Vergleich der Ausführungsgesetze „eine Verschränkung der Begriffe Bildung und Erziehung bzw. Bildung und Förderung auf“ (S. 59). Zusammenfassend lässt sich „ein Feld der Uneindeutigkeiten […] erkennen, was insbesondere einen ausgewiesenen Bildungsbegriff oder auch die Abgrenzung zu anderen Begriffen wie Erziehung und Förderung betrifft“ (S. 61). Auffällig ist auch, dass „mit Bezug auf Betreuung […] fast durchgängig Kindertagespflegesettings adressiert [werden]“ (ebd.). Es liegt, so die Autor*innen, wohl daran, dass in den Ausführungsgesetzen eher Aufgaben zu Betreuung, Bildung und Erziehung formuliert werden und weniger auf den Prozess fokussiert als auf das „Ergebnis des Besuchs einer solchen Einrichtung“ (ebd.) wird. Auch wenn Diversität, Vielfalt und Nachhaltigkeit in den Ausführungsgesetzen vorkommen beziehungsweise genannt werden, vermissen sie „insbesondere die Erkenntnis, dass sich Bildung als Projekt und Prozess darauf konzentriert, den Adressat*innen ein reflexives Durchdenken und Kritisieren gesellschaftlicher, historisch geprägter Wirklichkeiten und des eigenen biografischen Gewordenseins ermöglicht und eben nicht eine Beherrschung oder ein Einfügen in die Welt“ (S. 62) und beanstanden, dass die Gesetzestexte „weitgehend hinter einer reflexiven Lokalisierung, Positionierung und Gestaltung des Lebens der Subjekte im Kontext“ (ebd.) zurückbleiben.

7. Desiderate und Empfehlungen

Die Erziehungswissenschaftler*innen erklären am Ende, dass sich „aus all den kursorisch thematisierten Diskurssträngen zu Bildung vielfältige Forschungsdesiderat auf verschiedenen Ebenen“ (S. 62) feststellen lassen. So gibt es kaum Studien, die sich „mit der Frage auseinandersetzen, welches Bildungsverständnis bzw. welche Deutungen von Bildung in der konkreten Praxis, bei pädagogischen Fachkräften, Eltern oder Kindern“ (ebd.) existieren. So stehen auch „Forschungsansätze aus, die weniger auf vermeintlich objektivierbare Sachverhalte, sondern stärker auf Bildungs-Prozesse fokussieren, bei denen sich immer erst hinterher, vielleicht sogar erst in biografieanalytischer Perspektive oder im Rahmen von partizipativen Forschungsprozessen die jeweiligen Subjekte äußern können, ob tatsächlich ‚Bildung‘ im Geiste einer kritischen Auseinandersetzung mit Selbst-Welt-Verhältnissen stattgefunden hat“ (S. 63). Sie monieren, dass in den Ausführungsgesetzen der Länder „ein didaktisierbarer Bildungsbegriff“ zu finden ist, der „deutlich auf Förderung, Schulreife (z.B. Sprachbildung) und Anschlussfähigkeit“ (ebd.) abzielt und damit auf das Ergebnis fokussiert.

Rechtsexpertise

Johannes Münder fasst zunächst die Erziehungswissenschaftlichen Erkenntnisse der Expertise zusammen, bevor er einen Vorschlag für die Formulierung eines erweiterten Bildungsbegriffs in § 22 Abs. 3 SGB VIII unterbreitet.

In Satz 1 werden die Begriffe Erziehung, Bildung und Betreuung erwähnt, „denen sich in den Sätzen 2 und 3 ergänzende Ausführungen anschließen“ (S. 101 f). Johannes Münder schlägt folgend Formulierung vor:

§ 22 Abs. 3 SGB VIII

1 Förderung umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes, sie bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes, sie geht vom Kind aus, ihre Basis ist eine gute pädagogische Beziehung.

2 Erziehung unterstützt die Entwicklung von Mündigkeit und Autonomie, das Erlernen von Werten und Regeln, die Anerkennung von Vielfalt sowie die Achtung der natürlichen Grundlagen der Welt.

3 Bildung ist nonformale Bildung, sie wird ermöglicht durch Spiel und alltagsintegrierte Förderung, die die Selbstentfaltung des Kindes, die Erschließung der Umwelt, die Aneignung von Kenntnissen und Erfahrungen, den Erwerb von Sprache und von Kulturtechniken sowie die bewusste Auseinandersetzung mit diesen unterstützt.

4 Betreuung ist Aufmerksamkeit und Sorge für das leibliche und psychische Wohlbefinden des Kindes, wodurch das Kindeswohl gesichert und vor Schädigungen jeglicher Art geschützt wird.

Der bisherige Satz 3 bleibt und wir zum Satz 5“ (S. 102).

Sein Vorschlag „ersetzt die bisherigen Sätze 1 und 2, lässt den Satz 3 jedoch unverändert“ (ebd.).

Im Anschluss weist er daraufhin, dass es sich bei § 22 Abs. 3 SGB VIII um einen sogenannten Programmsatz handelt, aus dem sich „keine unmittelbaren Rechtsfolgen“ (S. 104) ergeben. Mit Programmsätzen „beschreibt der Gesetzgeber seine programmatischen Vorstellungen darüber, was mit den in diesem Zusammenhang weiteren Bestimmungen, gegebenenfalls auch funktionalen Normen, erreicht werden soll“ (ebd.). Des Weiteren prüft der Autor, ob es verfassungsrechtlich zulässig ist, den erweiterten Bildungsbegriff im SGB VIII aufzunehmen und kommt zu dem Schluss, dass diesem „nichts im Wege“ (S. 110) steht.

Diskussion

Die Erziehungswissenschaftler*innen setzen sich skizzenhaft mit verschiedenen Perspektiven und bildungstheoretischen Ansätzen zum Begriff Bildung auseinander. Zunächst bezogen auf die erziehungswissenschaftliche Perspektive gehen sie zu den bildungstheoretischen Ansätzen in der Frühpädagogik über. Das Autorenteam hat den Auftrag einen erweiterten Bildungsbegriff zu finden, der zur Folge hat, dass auch über Änderungen bei den Begriffen Betreuung und Erziehung nachgedacht werden muss.

Besonders der Begriff Betreuung ist noch immer zu sehr mit seinem historischen Ursprung verhaftet, der „in der Pädagogik auch als ‚Unwort‘ gilt“ (S. 9). Zu Unrecht, denn Betreuung, wie sie in der Expertise dargestellt wird, ist weit mehr, als nur „Beaufsichtigung, Versorgung und Begleitung“ (S. 54). Auf den der Begriff im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel und der Diskussion um Notbetreuungen reduziert wird.

Dem Autorenteam gelingt es den Begriff aus seinem Schattendasein zu führen und die „Chancen“ (S. 29), die der Begriff in sich trägt aufzuzeigen. Zugleich weisen sie auch auf die konservative „Kehrseite“ (ebd.) des Begriffs hin. Es braucht noch weitere Forschungsarbeiten, um eine Betreuungstheorie zu entwerfen.

Schwierig bleibt jedoch die Auflösung der Trias Bildung Erziehung und Betreuung. Denn diese Begriffe sind eng miteinander verwoben, scheinen sich gegenseitig zu bedingen. Es gilt diese Begrifflichkeiten schärfer zu konturieren.

Bei ihren Ausführungen analysieren sie die Ausführungsgesetze der Länder in Bezug auf Bildung. Außen vor bleiben jedoch die Bildungspläne der einzelnen Länder und deren Bildungsverständnis und Aussagen zum Bildungsbegriff. Ich wage zu bezweifeln, dass sich hier anderes finden lässt, als die Ausführungsgesetze vermuten lassen. Die Erziehungswissenschaftler zeichnen konzeptionelle Bildungsansätze für die frühpädagogische Bildung nach, die diese beeinflussen. Zuweilen wird Bildung, besonders kindheitspädagogische Bildung sehr eng gefasst und auf anwendungsorientierte, angebotsorientierte und bereichsspezifische Inhalte bezogen. Gleichzeitig gibt es bildungstheoretische Ansätze, die mehr auf die Bedürfnisorientierung und damit kindzentrierte Bildung fokussieren und bleiben damit in der Idee der Ko-Konstruktion und Selbstbildung verhaftet. Sie zeigen in ihrem Diskurs auf, dass es einen offeneren Bildungsbegriff und ein erweitertes Bildungsverständnis braucht, wenn Bildung Zukunftsfähig bleiben soll. Ein Bildungsverständnis, „dass sich als Projekt und Prozess darauf konzentriert, den Adressat*innen ein reflexives Durchdenken und Kritisieren gesellschaftlicher, historisch geprägter Wirklichkeiten und des eigenen biografischen Gewordenseins ermöglicht und eben nicht eine Beherrschung oder ein Einfügen in die Welt“ (S. 62).

Fazit

Die Expertise zeigt deutlich auf, dass wir gesellschaftlich einen offeneren Bildungsbegriff und damit erweitertes Bildungsverständnis brauchen, das jedoch nicht beliebig sein darf. Denn nicht nur in den frühpädagogischen Diskursen regt sich Kritik am teilweise zu sehr ökonomisierten und leistungsorientierten Bildungsverständnis, sondern zunehmend auch im schulischen Bereich. Für die FBBE wurde mit der Expertise ein Anfang gesetzt, der ein erweitertes Bildungsverständnis formuliert und zur Diskussion als auch weiteren Forschungsarbeiten einlädt.

Rezension von
Alexandra Großer
Fortbildnerin, päd. Prozessbegleiterin, systemische Beraterin
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ISSN 2190-9245