Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Mathias Lohmer (Hrsg.): Psychodynamische Therapie der Persönlichkeitsstörungen

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 23.05.2024

Cover Mathias Lohmer (Hrsg.): Psychodynamische Therapie der Persönlichkeitsstörungen ISBN 978-3-608-40170-7

Mathias Lohmer (Hrsg.): Psychodynamische Therapie der Persönlichkeitsstörungen. Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) bei Borderline-, Narzissmus- und Traumafolgestörungen. Schattauer (Stuttgart) 2024. 408 Seiten. ISBN 978-3-608-40170-7. D: 53,00 EUR, A: 54,50 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Neben Psychodynamik, Behandlungstheorien und Settings wird auch der wissenschaftliche Status der Diagnostik in den Klassifikationssystemen DSM und ICD erörtert sowie absehbare Konsequenzen der Einführung des ICD 11 (kategoriale und dimensionale Klassifiation); TFP wird mit anderen möglichen Perspektiven verglichen wie MBT, TP etc.

Herausgeber und Autor-innen

Mathias Lohmer, Dr. phil., Dipl.-Psychologe, Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA), Coach, Supervisor und Organisationsberater, Dozent und Supervisor für TFP (ISTFP), Institut für Psychodynamische Organisationsberatung München (IPOM).

Entstehungshintergrund

Dieses Buch kann als umfassende Überarbeitung und Aktualisierung von Lohmers Buch: Borderline-Therapie. Psychodynamik, Behandlungstechnik und therapeutische Settings gesehen werden (Schattauer 2018), das auf ‚Stationäre Therapie bei Borderlinestörungen‘ zurückgeht (Springer 1988). Dieser Text war der erste deutsche Originalbeitrag zur Behandlung von Menschen mit einer Borderlineprsönlichkeitsorganisation (Christa Rohde-Dachser: ‚Das Borderlinesyndrom‘ erschien erst ein Jahr später). Er geht auf einen Aufenthalt im Wite Plains Hospital in Westchester County, New York, United States zurück, der Kinik von Otto Kernberg. Als Erstes deutschsprachiges Buch lieferte es eine sehr gute und didaktisch differenzierte Einführung in die übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP). Erstaunlich ist Lohmers Hinwendung zur Führungskräfte- und Organisationsberatung, fast entsteht der Eindruck, seine Beschäftigung mit narzisstischen und borderline-Personen hätte ihn dafür weiter qualifiziert.

Aufbau und Inhalt

I Grundkonzepte

In Kapitel 1 beschreiben Susanne Hörz-Sagstetter und Mathias Lohmer aktuelle Entwicklungen in der psychodynamischen Theorie der Persönlichkeitsstörungen und ihrem Verhältnis zur übertragungsfokussierten Psychotherapie.

Besonders berücksichtigt wird Kernbergs jahrelanges Anliegen, eine dimensionale psychopathologische Diagnostik für die Behandlung von Persönlichkeits(entwicklungs)störungen zu nutzen. Das bedeutet für den klinischen Alltag eine schrittweise Abkehr von den kategorialen Einordnungen entsprechend ICD-10 und DSM-IV; während der DSM-V für die psychodynamische Perspektive der Persönlichkeitsentwicklungsstörungen ein zweites Klassifikationsschema anbietet (AMPD), ist dieser Verstehenszugang in den ICD-11 direkt eingeflossen. „Das AMPD ist ein Hybridmodell, das eine kategoriale Diagnostik von sechs Persönlichkeitsstörungen ermöglicht, darüber hinaus jedoch auf dimensionalen Kriterien basiert: der theoretisch begründeten Skala zur Erfassung der Persönlichkeit SEEP und auf psychometrischen Diagnoseverfahren beruhenden pathologischen Persönlichkeitsmerkmalen. Das Funktionsniveau der Persönlichkeit umfasst Fähigkeitsbereiche, die das Selbst, Identität und Selbststeuerung und interpersonelle Beziehungen – Empathie und Intimität betreffen“ (S. 29). Kriterium B beinhaltet 25 pathologische Persönlichkeitsmerkmale, die sich zu fünf Domänen zusammenfassen lassen (APA 2015: 1. negative Affektivität vs. emotionale Stabilität, 2. Verschlossenheit vs. Extraversion, 3. Antagonismus vs. Verträglichkeit, 4. Enthemmtheit vs. Gewissenhaftigkeit, 5. Psychotizismus vs. Adäquatheit). Im ICD-11 handelt es sich um ähnliche Dimensionen wie im DSM-V: negative Affektivität, Distanziertheit, Dissozialität, Enthemmung und Anankasmus. Bei Kernberg beziehen sich die strukturellen Kriterien auf die Dimensionen Identität, Objektbeziehungen, Abwehrmechanismen, Aggression, moralische Werte und Realitätsprüfung. Je nach Ausprägung dieser Kriterien lassen sich normale Persönlichkeitsorganisationen, neurotische und Borderline-Presönlichkeitsorganisationen differenzieren.

Dialektisch-behaviorale Therapie, übertragungsfokussierte Psychotherapie und mentalisierungsbasierte Therapie werden in ihren wichtigsten Merkmalen beschrieben und voneinander abgegrenzt.

In Kapitel 2 beschreibt Anna Buchheim ‚Veränderungsprozesse von Bindung, Mentalisierung und Struktur durch übertragungsfokussierte Psychotherapie‘. In Kapitel 3 schildern Marion Braun und Werner Köpp das psychoanalytische Standardverfahren und die übertragungsfokussierte Psychotherapie.

Für die Bereiche Deutung, Bearbeitung der Übertragung, technische Neutralität und Nutzung der Gegenübertraung werden Psychoanalyse, TFP, TP, MBT, erlebnisorientierte Psychotherapie und stützende Psychotherapie miteinander verglichen, wobei das spezifisch Psychoanalytische in der Behandlungstechnik jeweils abnimmt; dabei handelt es sich nicht nur um eine quantitative Abnahme, sondern vielmehr um eine für die Behandlungsmethode spezifische Qualität der Intervention.

Im 4. Kapitel erläutern Werner Köpp und Gabriele Kehr die ‚Modifikation psychoanalytischer Standardtechnik bei schwer gestörten Patienten: Unterstützung der Mentalisierung als Vorbereitung von Übertragungsdeutungen‘. Hier wird deutlich, dass die Fähigkeit zur Annahme einer Deutung von einer zum Zeitpunkt einigermaßen intakten Mentalisierung abhängig ist.

In Kapitel 5 werden ‚Übertragungsfokussierte Therapie und Mentalisierungsbasierte Therapie‘ werden von Mathias Lohmer und Ulrich Schultz-Venrath beschrieben. Während MBT gegenüber vielen Behandlungsmöglichkeiten in mehreren randomisierten Studien ihre Überlegenheit hinsichtlich des klinischen Outcomes gezeigt haben, steht ein direkter Vergleich zwischen MBT und TFP noch aus.

In Kapitel 6 beschreibt Bernhard Brömmel die ‚Angst des Therapeuten vor der negativen Übertragung‘ und in Kapitel 7 zeigen die Bedeutung von Supervision in der übertragungsfokussierten Psychotherapie schwerer Persönlichkeitsstörungen, speziell in der Ausbildung 

II Spezielle Patentengruppen

Im 8. Kapitel beschreiben Agnes Schneider-Heine und Michael Rentrup, wie die Behandlung komplexen Posttraumatischer Belastungsstörungen von TFP profitieren kann und wie traumatherapeutische Techniken dabei integriert werden können.

Im Kapitel 9 wird von Mathias Lohmer und Corinna Wernz die Rolle des Narzissmus für die TFP beschrieben.

Martina Drust und Maya Krischer erörtern in Kapitel 10 die Rolle des pathologischen Narzissmus im Jugendalter. Der Umgang damit in der TFP wird beleuchtet.

In Kapitel 11 ‚Antisoziale Persönlichkeitsstörungen und TFP‘ beschreiben Mathias Lohmer und Jonni Brem die besonderen Schwierigkeiten dieser Arbeit: ‚Veränderungen bedrohen basal die prekäre antisoziale Identität die durch das Leben im zeitweisen negativen der Haft oder des Maßregelvollzugs geschützt wird. Zu den Peers der in einer respektierten Position dazuzugehören, scheint überlebenswichtig.‘ (S. 245). Dennoch wird die Outcomeprognose dieser Arbeit heute optimistischer eingeschätzt als ursprünglich von Kernberg.

Petra Holler untersucht in Kapitel 12 ‚Die Herrschaft des „verfolgenden Objekts“. Angst, Aggression und Paranoia in therapeutischen Prozessen’. Dabei handelt es sich um existenziell bedrohliche Zustände, deren Wirkung nur in einem Containing-Prozess schrittweise aufgehoben werden kann.

Im 13. Kapitel legt Stefan Döring ‚Eine objektbeziehungstheoretische Sicht der hysterischen (histrionischen) Persönlichkeitsstörung‘ vor.

Philipp Martius beschreibt in Kapitel 14 die Besonderheiten der TFP in der Anwendung bei älteren Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung.

III Besondere Settings

Christiane Rösch und Philipp Martius stellen ein technisches Vorgehen dar in: ‚Modifizierte Gruppenpsychotherapie für Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Perspektiven der TFP‘. Nach früherer Skepsis herrscht zunehmend Optimismus in Bezug auf die Behandelbarkeit in homogenen Gruppen; maßgeblich scheint der Umgang mit negativen Affekten zu sein sowie eine aktive Ansprache seitens der Therapeutin.

Birger Dulz, Bernhard Grimmer, Mathias Lohmer und Gerhard Dammann († ) beschreiben in Kapitel 16 ‚Prinzipien der stationären Behandlung mit übertragungsfokussierter Psychotherapie‘: In einem integrierten Setting kommen verschiedene Bestandteile zum Tragen wie Einzel-, Gruppentherapie, Bezugspflege, Sozial-, Ergo-, Kunst- und Körpertherapie. 18 – 25 Patientinnen und Patienten befänden jeweils auf einer Station. Es sei wichtig darauf zu achten, dass keine einzelne Person zu sehr in eine Außenseiterposition gerät bzw. in eine Alleinstellungsposition bezüglich Alter, Geschlecht und Status. Um die Regression zu begrenzen, wird das Entlassungsdatum oft bereits am Aufnahmetag festgelegt; die Dauer des stationären Aufenthalts beträgt 3 – 6 Monate. Obwohl nur geplante Aufnahmen möglich sind, ist zu Beginn des Aufenthalts eine differenzierte Diagnostikphase erforderlich; neben ICD-/DSM- kommen die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik und das Strukturelle Interview zur Anwendung. Die Therapie erfordert Vereinbarungen mindestens zu suizidalen und gravierend selbstschädigenden Verhaltensweisen, aber auch zu drohendem Behandlungsabbruch und weiteren (z.B. Liebesbeziehungen auf Station).

Krisztina Csáky-Pallavicini zeigt in Kapitel 17 ‚Selbst und Objekt auf der Bühne – Aspekte und Besonderheiten der Übertragungsfokussierten Psychodramatherapie‘, dass die Psychodramatherapie sich sehr gut in einen Gesamtbehandlungsplan integrieren lässt: ‚Durch das Psychodrama wird es möglich, innere und interpersonelle psychische Prozesse sowie Abwehr, Übetragung und Gegenübertragung äußerlich, in Bühnenbildern zu erfassen und dadurch psychotherapeutisch erreichbar zu machen.‘ (S. 376).

Alle Kapitel enthalten auf den jeweiligen Inhalt bezogene, oft mehrteilige Fallstudien; ein Literatur- und Sachverzeichnis schließen das Buch ab.

Diskussion

Die Qualität der Texte dieses umfangreichen Handbuchs ist unterschiedlich: Einige Beiträge machen Lust auf die praktische Arbeit, andere sind eher wissenschaftlich und verbinden TFP mit Denkweisen der sich nomothetisch verstehenden Psychiatrie, etwa die Diskussin zwischen dimensionaler und kategorialer Diagnostik in DSM -5 und ICD-11.

Ein Manko ist die nicht aufgenommene Kontroverse mit der Strukturbezogenen Psychotherapie, wodurch auch Resultate der OPD-Forschung ausgeblendet werden. Ohne ausdrücklichen Bezug werden jedoch diese Meinungsverschiedenheiten aufgegriffen, etwa wenn im Kapitel 4 Köpp und Kehr zeigen, wie zunächst an der Mentalsierung gearbeitet wird, bevor auf der Basis geteilter Realitäten Übertragungsdeutungen verstanden werden können. Rudolf hatte noch in der ersten Auflage der Strukturbezogenen Psychotherapie nachgewiesen, wie eine kleinianische Deutung von einem strukturell vulnerablen Patienten missverstanden und als Zurückweisung erfahren werden kann. Neben Ergebnissen der strukturbezogenen Therapie fehlen auch solche der psychodynamisch interaktionellen Methode, obwohl für letzteres Verfahren zumindest für Jugendliche sogar Ergebnisse aus RCT-Studien vorliegen. Dennoch wird differenziert nachgewiesen: Die TFP ist ein Therapieverfahren, das sich bewährt hat; im direkten Vergleich mit der Dialektisch-behavioralen Therapie ist das Behandlungsergebnis in einigen Dimensionen sogar nachhaltiger (notwendig bleiben Untersuchungen dazu, welche Patienten durch welche Verfahren am meisten profitieren).

Fazit

Das Buch von Mathias Lohmer hat gegenüber der vorangegangenen Auflage gewonnen: Es ist zunehmend ein Referenzwerk geworden für die Behandlung von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen. Besonders in Richtung Mentalisierungsbasierte Therapie und Bindungstheorie werden Brücken gebaut.

Literatur

Arbeitskreis OPD-KJ (2O23): Operationalisierte psychodynamische Diagnostik im Kindes und Jugendalter (OPD. Grundlagen und Manual. Bern: Huber.

Arbeitskreis OPD (2023): Operationalisierte psychodynamische Diagnostik (OPD 3). Grundlagen und Manual. Bern: Huber.

John F. Clarkin, Frank E. Yeomans, Otto F. Kernberg (2006): Psychotherapie der Borderline Persönlichkeit, Manual zur psychodynamischen Therapie (TFP), 2., aktualisierte und neu bearbeitete Auflage; Stuttgart: Schattauer

Cropp, Carola, Taubner, Svenja, Salzer, Simone und Streeck-Fischer, Annette (2019). Psychodynamic Psychotherapy with Severely Disturbed Adolescents: Changes in Reflective Functioning. Journal of Infant, Child and Adolescent Psychotherapy.DOI: 10.1080/15289168.2019.1643212IF(current): 0.57

Fonagy, Peter; György Gergely; Elliot L. Jurist; Mary Target (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst, Stuttgart: Klett-Cotta.

Kernberg, O. F. (1993): Psychodynamische Therapie bei Borderline-Patienten. Bern: (Huber).

Linehan Mascha (1996): Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline Persönlichkeitsstörung, München: CIP-Medien

Rudolf, Gerd (2004): Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen, Stuttgart: Schattauer.

Streeck-Fischer (2016) mit Carola Cropp, Ulrich Streeck und Simone Salzer: Borderline-Störungen bei Jugendlichen (OPD 3). Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode (Praxis der psychodynamischen Psychotherapie. Band 10). Hogrefe: Göttingen

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
Mailformular

Es gibt 42 Rezensionen von Ulrich Kießling.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 23.05.2024 zu: Mathias Lohmer (Hrsg.): Psychodynamische Therapie der Persönlichkeitsstörungen. Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP) bei Borderline-, Narzissmus- und Traumafolgestörungen. Schattauer (Stuttgart) 2024. ISBN 978-3-608-40170-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32187.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht