Eytan Celik: Der Wille als Ursache
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.07.2024

Eytan Celik: Der Wille als Ursache. Zum Verhältnis von Natur und Moral in spekulativer und praktischer Hinsicht bei Kant.
Verlag Karl Alber
(Baden-Baden) 2024.
285 Seiten.
ISBN 978-3-495-99324-8.
79,00 EUR.
Reihe: Praktische Philosophie - Band 101.
Ist alles machbar?
In der europäischen Aufklärung hat sich die Vorstellung entwickelt, dass der Mensch alles machen könne und dürfe, was er kann oder zu können meine. Der Vernunftoptimismus, wie er z.B. von Immanuel Kant in seinen Schriften zur „Kritik der reinen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ entwickelt wurde, geht davon aus, dass „beständiger Fortschritt“ das Non-Plus-Ultra des menschlichen Daseins sei: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“.
Entstehungshintergrund und Autorin
Kant neu lesen? Die Kulturwissenschaftlerin Eytan Celik hat 2023 die Dissertation „Der Wille als Ursache“ an der Universität Bayreuth vorgelegt. Kant hat in seiner Philosophie der Willensfreiheit des Menschen die entscheidende, grundlegende Denk- und Handlungsform zugewiesen. Ursache und Wirkung als theoretische und praktische Lebenselemente sind existenzielle Wertmaßstäbe des menschlichen Daseins. Die Autorin nimmt sich Kants Schriften vor, indem sie danach fragt, welchen Einfluss David Hume (1711 – 1776) auf Kants „Verständnis von Kausalität in Bezug auf die Möglichkeit des freien Willens“ hatte. Sie formuliert die These, „dass Hume sowohl in Bezug auf die Antinomieproblematik als auch bei der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe einen entscheidenden Funken geschlagen hat“.
Aufbau und Inhalt
Neben den Vorbemerkungen und der Einleitung, in der sie dafür plädiert, dass der Mensch als vernünftiges Lebewesen sich selbst nötigen müsse, sich dem moralischen Gesetz zu unterwerfen und sein Denken und Handeln „einer Selbstprüfung zu unterziehen, die, über die Prüfung des kategorischen Imperativs hinausgehend, nicht allein die Verallgemeinerbarkeit der Maxime feststellt, sondern eine Reflexion veranlasst, die über die wirkliche Maxime unserer Haltung entscheidet“, gliedert die Autorin ihre Dissertation in zwei Teile: Im ersten Teil thematisiert sie „Ursache und Gesetz“, im zweiten „Wille und Gesetz“, untergliedert in die Kapitel „Ursachen der Natur“ – „Von der Ursache zum Grund“ – „Der reine Wille“ und „Handlung und Moral“. Die wissenschaftliche Fragestellung der Autorin besteht darin, wie es gelingen könne, eine Kohärenz zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu erkennen: „Während Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ behauptet, dass die Kausalität als Verstandesbegriff auf Erscheinungen restringiert sein muss, ist im Begriff des reinen Willens eine Kausalität aus Freiheit enthalten, die nicht durch Naturgesetze bestimmt ist, sondern sich … über alle Bedingungen der Sinneswelt wegsetzt“. Das Revolutionäre und neue Kant’sche Denken zeichnet sich darin aus, „dass es keinen Gott als Ursacher der Welt bedarf, von dem die Wahrheiten über die Welt ausgehen und uns gleichermaßen über diese täuschen kann“.
Die Feststellung und der Nachweis, dass Hume Einfluss auf Kant und sein Denken gehabt habe, wird erst einmal dadurch vorbereitet, dass die Autorin die „Humesche Gabel“, als Lehren aus der Geometrie, Algebra, Arithmetik und intuitivem Denken aufschlüsselt und danach fragt, wie Kant diese Begrenztheiten ausweitet. In den „Prolegomena“ vollzieht Kant den Perspektivenwechsel, indem er auf die „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ kommt und „Erfahrung“ als prägenden Wert kennzeichnet. Es sind die dialektischen Zusammenhänge und Antinomien, die Thesis und Antithesis bestimmen.
Die Unterschiede im Hume’schen und Kant’schen Denken erklären gleichzeitig die Zusammenhänge: „Während Hume von einer Unabhängigkeit des Willens von der Vernunft ausgeht, behauptet Kant…, dass der Wille nichts anderes als praktische Vernunft ist“. Der freie (reine) Wille ist Vernunft! In der „Moralität“ wird das Dilemma deutlich: „Wenn wir unser Handeln moralisch nicht zurechnen können, hat das schließlich fatale Konsequenzen, stellt sich doch unmittelbar die Frage, warum wir dann überhaupt noch moralisch verhalten sollen“. Handlung hat moralischen Wert!
Diskussion
Die Auseinandersetzungen mit Kants moralphilosophischem Denken bewegt Legionen von Interpreten und Analysten. In der Bundeskunsthalle in Bonn wurde vom 24. 11. 2023 bis 17. 3. 2024 die Ausstellung „Immanuel Kant und die offenen Fragen“ gezeigt. Es wurden Fragen gestellt, was uns Kant heute noch zu sagen habe (Marcus Willaschek, Die Revolution des Denkens, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/​31601.php). Die Willensfreiheit des Menschen gilt als allgemeingültiges, nicht relativierbares Menschenrecht, wie es in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 heißt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Böses, menschenunwürdiges Verhalten unterliegt der Selbsttäuschung (vgl. dazu auch: Bettina Stangneth, Böses Denken, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/​23593.php). Bei der Beantwortung der Fragen – „Wer will ich sein“ und „Wie bin ich geworden, was ich bin?“ – kann behilflich sein, sich mit Kant und Anderen auseinanderzusetzen, wie in den Zeiten der Unsicherheiten und Krisen ein humanes Leben möglich ist (Omri Boehm, Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Universalismus als rettende Alternative, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29631.php).
Fazit
Die Kant’schen Fragen: „Wer ist der Mensch? – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“, münden sowohl in die spekulativen, als auch in die praktischen Denkprozesse. Sie ermöglichen ein Bewusstsein, dass die Auseinandersetzung mit dem Denken von Hume und Kant kein l’art pour l’art ist, sondern ein philosophie-praktisches und -theoretisches Fragen: „Wer will ich sein?“. Wenn sich dabei die Erkenntnis entwickelt – „Wir sind für jede Handlung selbst verantwortlich“ – mag entstehen: Eine gerechte, friedliche, menschenwürdige EINE WELT ist möglich!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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