Gerd Grampp: Lernort Wohnung
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 21.06.2024

Gerd Grampp: Lernort Wohnung. Befähigung als Assistenzleistung in der Eingliederungshilfe. wbv (Bielefeld) 2024. 103 Seiten. ISBN 978-3-7639-7679-9. 34,90 EUR.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Anliegen des Buches besteht darin, den Leistungserbringern für die Bedarfsdeckung Instrumente vorzustellen, wie Leistungen zur Assistenz allgemein und konkret für die „Befähigung“ mit dem Kompetenz-hybrid-Ansatz (K-hyb) und dem pädagogischen System „Handlungsbasierte Entwicklung von Leistungsbefähigung und Persönlichkeit (HELP)“ konzipiert werden können. Erstellung und Herausgabe des Buches wurden von der 2G-Stiftung gefördert.
Autor
Prof. Dr. Gerd Grampp ist Emeritus der Professur „Theorie und Praxis der Rehabilitation“ am Fachbereich Sozialwesen der Ernst-Abbe-Hochschule in Jena. Er initiiert(e) zahlreiche Forschungsprojekte, ist ein gefragter Redner auf Fachtagungen und Autor zahlreicher Bücher. Zusammen mit seiner Frau gründete er die 2G-Stiftung.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert. Der Abschnitt „Ziel und Inhalt des Buches“ (S. 5–8) ist einführend vorangestellt. Die Bezugsliteratur ist auf den Seiten 101 bis 102 zu finden. Seite 103 umfasst das Abbildungs- und das Tabellenverzeichnis.
In Kapitel 1 „Die ICF und die ICHI als Basis für die Bedarfsermittlung und die Bedarfsdeckung“ (S. 9–31) stellt der Autor die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) in ihrer Etikettierung und Stigmatisierung vermeidenden Zielsetzung, den zugrunde liegenden ethischen Leitlinien, ihren Eigenschaften und den Besonderheiten der Sprache, ihrer Struktur, den Versionen und Formen, der Darstellung von Ausprägungen sowie dem favorisierten Modell der Behinderung vor und mündet in eine Darstellung der Wechselwirkung der einzelnen Komponenten der ICF. Danach legt der Verfasser die Basis für das Verständnis der International Classification of Health Interventions (ICHI), die bei Leistungen zur Förderung von Selbstbestimmung und Teilhabe zur Deckung des Hilfebedarfs angewendet werden kann. Nach einer kurzen historischen Einordnung werden die Ziele insgesamt und für die Eingliederungshilfe im Besonderen, die Interventionsstruktur sowie die Interventionen in den Arbeitsfeldern (Diagnostic, Therapeutic, Managing, Prevention) an sich und der 7B-Zyklus von Bedarfsermittlung und -deckung exemplarisch erläutert. Ergänzend verweist Grampp auf die von der 2G-Stiftung im Projekt „Auf Augenhöhe mitreden“ erarbeiteten Materialen in leichter Sprache.
Kapitel 2 „Die ICF als Orientierungsgrundlage der Bedarfsermittlung“ (S. 33–43) beginnt mit den gesetzlichen Vorgaben zu den Bedarfsermittlungsinstrumenten, wie sie in § 13 SGB IX bestimmt und in § 2 SGB IX in Anlehnung an die ICF formuliert werden. Weitere Ausführungen zu den Instrumenten sind in § 118 SGB IX hinterlegt. Für die Bedarfsermittlung wurden vier am ICF orientierte Komponenten einbezogen: Dokumentation der Behinderung, Auswirkung auf die Teilhabe, Ziele der Leistungen und prognostisch erfolgreiche Leistungen. Wie die 16 länderspezifischen Bedarfsermittlungsinstrumente ihren Gestaltungsspielraum bei den Komponenten in der Eingliederungshilfe genutzt haben, fasst Grampp in einer Tabelle zusammen, welche die erheblichen Unterschiede zwischen den Bundesländern offenlegt. Weil das „Bedarfsermittlungsinstrument Baden-Württemberg (BEI_BW)“ in der Umsetzung mit der höchsten Bepunktung aufwartet, ergänzt der Autor ein demonstratives Transferbeispiel. Die Analyse der ICF-Begleitdokumente der Bundesländer nivelliert die Unterschiede, welche den Autor zur Aussage motiviert, dass die ICF „15 Jahre nach ihrem Erscheinen in der Praxis von Rehabilitation und Eingliederungshilfe“ (S. 43) angekommen sei.
Kapitel 3 „Leistungen, Maßnahmen und die ICF in den Rahmenverträgen der Länder“ (S. 45–52) bezieht sich auf § 131 SGB IX, in dem der Abschluss sog. länderspezifischer Rahmenverträge geregelt ist. Nach § 125 SGB IX sind in der Folge zur Bedarfsdeckung zwischen Träger der Eingliederungshilfe und den Leistungserbringern schriftliche Vereinbarungen (Leistungsvereinbarungen) abzuschließen. Der Analyse der Beschreibung der Assistenzleistungen in den (vorhandenen) Rahmenverträgen zufolge, gibt es auch hier Unterschiede zwischen den Bundesländern. Als gravierend ist festzuhalten, dass sich die Bedarfsdeckung – mit Ausnahme von Baden-Württemberg, Hamburg und Hessen – kaum an der ICF orientiert. Am Beispiel der Anlage Leistungsbeschreibung Assistenz im Rahmenvertrag Baden-Württemberg demonstriert der Autor Art, Umfang und Inhalt der Leistung „persönliche Lebensplanung“ sowie einer nach Leistung und Maßnahmen unterscheidenden Beschreibung für therapeutisch betreutes Einzelwohnen für seelisch Behinderte des Berliner Rahmenvertrags inklusive des Leistungsumfangs.
In Kapitel 4 „Die ICF, die ICHI und die Assistenzleistungen im Leistungsbereich soziale Teilhabe“ (S. 53–79) präsentiert der Autor zuerst die gesetzlichen Vorgaben zu Formen, Zielen und Inhalten von Assistenzleistungen, wie sie in § 78 SGB IX i.V. mit § 113 SGB IX bestimmt sind. Nur in fünf Bundesländern (Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) sind Verbindungen von Assistenzleistungen und ICF erkennbar. Der Autor orientiert sich bei seiner Demonstration der Struktur der Assistenzleistungen auf Grundlage der ICF deshalb im Folgenden auf den Rahmenvertrag Baden-Württemberg, indem er dessen Anlagen zu § 3 Abs. 6 Begriffsglossar, zu § 4 Abs. 6 Leistungsbeschreibungen Assistenz und zu § 49 Abs. 1a) Leistungsbeschreibung Module Besondere Wohnformen akribisch analysiert. Am Beispiel des Projekts „selbst.bestimmt.leben mit Assistenz (selmA)“, in dem ein personenzentriertes Teilhabe-Management-System des Leistungserbringers Stiftung Haus Lindenhof Schwäbisch Gmünd und dem Ostalbkreis als örtlichem Träger der Eingliederungshilfe vereinbart wurde, veranschaulicht Grampp, wie ca. 80 % der Assistenzleistungen gemäß § 125 SGB IX an der ICHI ausgerichtet sind.
Kapitel 5 „Assistenz und die selbstbestimmte, eigenständige Bewältigung des Alltags“ (S. 71–87) rekurriert auf die drei Bedingungen der selbstständigen Ausführung von Handlungen: Handlungsfähigkeit und -bereitschaft als Aspekte der persönlichen Handlungskompetenz. Gelegenheiten für das Handeln zu schaffen, ist Bestandteil der Gestaltungskompetenz der Umwelt, die von den Assistenzkräften vertreten wird. Da sich Handlungs- und Gestaltungskompetenz am Ressourcen-Kompetenz-Performanz-Modell (RKP) orientieren und im K-hyb kombiniert werden, stellt der Autor zunächst das RKP-Modell (Ressourcen, Kompetenz, Performanz) vor und zeigt an einem Beispiel auf, wie die Kompetenzdimensionen und -bereiche von Handlungs- und Gestaltungskompetenz (Unterstützungs-, Struktur-, Prozess- und Materialkompetenz) im K-hyb verschmelzen. Mit der Verbindung der Leistungsart Befähigung mit der Leistungsform Bildung (als Maßnahme) verlässt nach Auffassung von Grampp der Ansatz das bisherige Referenzvokabular der Medizin und wechselt in das System Pädagogik. Der Autor beschreibt den Zusammenhang von Handlungs- (leistungsberechtigte Person) und Gestaltungskompetenz (Assistenzkraft) und die Maßnahme Bildung und exemplifiziert die Aktionen der ICHI-Interventionen Bildung, Training, emotionale Unterstützung, weitere Ergänzungs- und Erweiterungsmaßnahmen für das selbstständige Einkaufen. Im Anschluss daran werden die pädagogischen Systeme Arbeitspädagogisches BildungsSystem (ABS) und HELP als Instrumente zur Befähigung durch Bildung in ihrer Struktur (Didaktik-, Methodik-, Pragmatikmodule) erläutert. Ferner wird auf die „arbeitsgemeinschaft pädagogische systeme (agps)“ und deren Lerneinheiten verwiesen.
Mit Kapitel 6 „Handlungsgrundlagen für die Bedarfsdeckung durch Leistungen zur Assistenz“ (S. 89–100) wird der Bogen von der Bedarfsermittlung zur -deckung geschlagen, für die es im SGB IX keine spezifischen Regelungen gibt, denn sie sollen nach § 131 SGB IX zwischen Trägern und Erbringern der Leistung in den Rahmenverträgen verhandelt werden. In der Ausführung ergeben sich deshalb länderspezifische Unterschiede. Würde man die Bedarfsdeckung in Anlehnung an § 13 SGB IX (Instrumente) ausformulieren, so ließen sich Ziel, Aktionen und Mittel einer Assistenzleistung in Kombination mit der Struktur des K-hyb und des pädagogischen Systems HELP sehr detailliert und aufeinander abgestimmt beschreiben: Ziele von Assistenzleistungen und Befähigung als Assistenzart, die Assistenzleistung als Maßnahmepakete, die notwendigen Gestaltungskompetenzen (Unterstützung, Didaktik, Material und Pragmatik) inklusive der Aufbereitung der Lernsituationen. Abschließend widmet sich Grampp der Qualifikationsmöglichkeiten von in § 78 SGB IX erwähnten Fachkräften zur Erbringung der Assistenzleistungen, die in Fachschulen für Heilerziehungspflege oder als praxisbegleitende Qualifizierung erfolgen kann.
Diskussion
In diesem Buch legt ein Experte Analyseergebnisse zur ICF- und ICHI-Orientierung bei der Bedarfsermittlung und -deckung von Rahmenverträgen und Begleitdokumenten zu einem ausgewählten Bereich aus den Assistenzleistungen aus der Motivation heraus offen, wieviel Perspektivenwechsel nötig ist, um Inklusion, insbesondere Teilhabe zu realisieren. Ein großes Verdienst der Vorgehensweise des Autors liegt darin, dass er Intentionen, über die gelegentlich dann, wenn es um die Ressourcenfrage geht, nonchalant hinweggegangen wird, minutiös und konsequent mit den (von ihm entwickelten) Modellansätzen operationalisiert. Dieses kleinschrittige Zerlegen von dem, was unter Assistenz in den Lebensbereichen zu verstehen ist, hilft dem Verständnis des dahinterliegenden Geschehens, auch wenn es mühsam ist. Die zum Teil berechtigt vorgebrachten Einwände, dass im Alltag komplexer Assistenz Elemente von Lernsituationen und Tätigkeiten ineinander übergehen, entkräften nicht, dass zunächst zu definieren ist, was die Assistenzleistungspakete ausmacht. Wie sie für Leistungsberechtigte zur gleichberechtigten Teilhabe am Leben kokreativ und koproduktiv entstehen, markiert den Übergang zu den Lernsituationen, die maßgeblich von der Befähigung als Teil der Gestaltungskompetenz abhängen. An dieser Stelle sollte allen beteiligten Akteuren klar werden, wie viel es bei den Umweltfaktoren noch zu tun gibt. Der Autor verweist auf die im Rahmen von Projekten und Qualifikationsarbeiten entstandenen Materialien der 2G-Stiftung ebenso wie auf die arbeitsgemeinschaft pädagogische systeme (agps) und deren jeweiligen Download-Bereich. Die vorliegende Publikation gibt keine akademische Debatte um die Eingliederungshilfe wieder, sie hat das Ziel das, was in SGB IX an Leistungsansprüchen formuliert ist, adäquat in die Anwendung zu bringen und weiterzuentwickeln. In der Gliederung wirkt befremdlich, dass Kapitel 2 und 3 jeweils mit nur einem Unterpunkt 2.1 und 3.1 aufwarten, was mit Zwischenüberschriften zu vermeiden gewesen wäre.
Fazit
Das Buch richtet sich an ein Fachpublikum, wenn es die Bedarfsermittlung und -deckung von Assistenzleistungen adressiert. Ebenso hilfreich kann es für Menschen in Ausbildung sein, die sich mit der Vorgehensweise der Assistenzart Befähigung im Detail befassen.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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