Jörg Gertel, David Kreuer et al.: Die enteignete Generation
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.02.2025

Jörg Gertel, David Kreuer, Friederike Stolleis: Die enteignete Generation. Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2024. 468 Seiten. ISBN 978-3-8012-0653-6. 36,00 EUR.
Jugendstudie
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat 2021 / 2022 im Nahen Osten und Nordafrika, im Rahmen des BMZ-Projektes „Politische Teilhabe“, die Jugendstudie „Die enteignete Generation“ durchgeführt. Es ist die zweite MENA-Jugendstudie (2016), bei der rund 12.000 Jugendliche im Alter von 16 bis 30 Jahren aus Ägypten, Algerien, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Palästina, Sudan und Tunesien zu ihren konkreten Lebenssituationen, gesellschaftlichen, politischen Werte- und Erwartungshaltungen, Hoffnungen und Wünschen befragt wurden. Es sind die globalen Diskurse um Demokratie und Freiheit, die sich gegen ego-, ethnozentristische, rassistische, faschistische und populistische Entwicklungen wenden und ein Bewusstsein von der EINEN WELT propagieren.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Die „globale Ethik“, wie sie sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) artikuliert, bringt zum Ausdruck, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“. Als Herausgeber der Studie zeichnen der Geograf Jörg Gertel, der Sozialwissenschaftler David Kreuer, beide von der Universität Leipzig, und die Leiterin des Büros der FES in Algerien, Friederike Stolleis.
Aufbau und Inhalt
Die Forschungsstudie wird in vier Bereiche gegliedert: Einleitung, Multiple Krisen, Persönliche Orientierungen, Gesellschaftliches Handeln. Im fünften Teil (Anhang) wird die Methodik der Studie ausgewiesen, der Fragebogen abgedruckt, der Interview-Leitfaden genannt und Literatur- und Autorenverzeichnis aufgeführt. Einleitend skizziert das Herausgeberteam mit dem Beitrag „Jugend im Nahen Osten und in Nordafrika“ deren individuelle und gesellschaftspolitische Situation mit Fallbeispielen und Erfahrungen. Es sind historische, kulturelle und weltanschauliche Entwicklungen, die bei den MENA-(Middle East and North Africa-)Staaten Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufweisen. Jörg Gertel und die Postdoktorandin Katharina Grüneisl zeigen mit dem Beitrag „Die Enteignung von Lebenschancen“ die marginalisierten und prekarisierten Lebensbedingungen mit einer umfassenden Ressourcen-Analyse und einer Sichtung der konkreten Chancen und Verlusten.
Im zweiten Bereich „Multipe Krisen“ thematisiert das Herausgeberteam die Folgen der „Covid-19-Pandemie“: Sie verschärften die Entwicklungen der gesellschaftlichen Polarisierungen und be- und verhinderten selbstbestimmte Initiativen. Jörg Gertel setzt sich auseinander mit „Wirtschaft und Beschäftigung“. Jugendarbeits- und Perspektivlosigkeit führen zu Abhängigkeiten und Flucht. Der Autor schlüsselt auch mit dem Beitrag „Hunger und Gewalt“ die direkten und strukturellen, gesellschaftlichen Bedingungen auf und stellt Macht und Ohnmacht, Armut und Reichtum, Markt und Prekarität als Ursachen heraus. Die Sozialwissenschaftlerin Ann-Christin Zuntz setzt sich mit „Migration und Vertreibung“ auseinander. Es sind die globalen Veränderungsprozesse von einem „Zeitalter der Mobilitäten“ hin zum „Zeitalter der Grenzschließungen“. Migration als Ausweg aus politischer Verfolgung oder Prekarität wird zum Vabanque-Spiel von Lebenschancen. David Kreuer schaut auf „Umweltbewusstsein und Aktivismus“ bei den Jugendlichen in den MENA-Ländern. Es zeigen sich unterschiedliche, aktive und passive Auseinandersetzungen mit den Folgen der Klimakrise. Gemeinsam ist ihnen die Sorge um Wasserknappheit und Lebensraumzerstörung durch Überflutungen und Brände.
Der dritte Bereich „Persönliche Orientierungen“ wird mit Gertels Beitrag „Lebensstile“ eingeführt. Es sind Auseinandersetzungen mit ökonomischen und politischen Entwicklungen, mit ethischen und pekuniären Entwicklungen, persönlichen und gesellschaftlichen Strukturen, die unterschiedliche Lebensstil-Erwartungen und –Hoffnungen ausweisen: Zum einen die „bürgerliche Mitte (als) Heim(at)zentrierte, Bodenständige und Liberale“, zum anderen diejenigen mit „biographischer Offenheit“. Der Marburger Soziologe Christoph H. Schwarz zeigt mit dem Beitrag „Familie, Bildung und Gender“ auf, welche tatsächlichen oder zugeschriebenen Verhaltensweisen junge Männer und Frauen in den MENA-Ländern aufweisen: Aggressiv, dominant oder unterwürfig. Es sind kulturell und gesellschaftlich definierte und bestimmte Rollenzuweisungen. Emanzipationsbewegungen lockern diese Stereotypen auf. David Kreuer und Jörg Gertel weisen mit dem Beitrag „Werte und Gruppenbildung“ nach, dass sich ein Wertewandel vollzieht; und zwar sowohl bei der Bedeutung der Familienabhängigkeit, als auch der kapitalistischen, egoistischen und machtpolitischen Entwicklung. Die Professorin für Arabistik und Wirtschaftsgeographie von der belgischen Universität Gent, Lisa Maria Franke, weist mit dem Beitrag „Religion“ die Bedeutung des Islam für die Identitätsbildung der Jugendlichen aus. Religiosität als privat gelebte und/oder ideologisch bestimmte Haltung unterscheidet sich bei den männlichen und weiblichen Jugendlichen, was zur Folge hat, „dass religiöse Identitäten, Glaubensvorstellungen und religiöse Praktiken nicht fixiert, sondern … veränderlich sind“.
Den vierten Teil „Gesellschaftliches Handeln“ beginnt die Berliner Kommunikationswissenschaftlerin Carola Richter mit „Kommunikation“. Der intensive Gebrauch des Internet und der digitalen Medien ist, wie auch in den anderen globalen Regionen, Standard; jedoch kaum für politische Bildung, sondern weitgehend zur Unterhaltung. Der Bielefelder Politikwissenschaftler Mathias Albert zeigt mit dem Beitrag „Politik und Mobilisierung“ auf, ob und ggf. wie sich die Einflüsse von liberalen, demokratischen Entwicklungen, wie z. B. der „Arabische Frühling“, auf die heutigen, gesellschaftspolitischen Einstellungen der Jugendlichen auswirken. „Desillusionierung und Politikverdrossenheit sind weit verbreitet“. Fragen nach Sicherheit werden eher marginal gestellt: „Das Militär als Institution genießt in der jungen Generation… nach wie vor das größte Vertrauen in Ländern, in denen das Stammeswesen eine wichtige Rolle spielt“. Friederike Stolleis informiert mit dem Beitrag „Soziales Engagement“ über ehrenamtliche Aktivitäten. Auch hier zeigt sich: „Je politisch aktiver ein junger Mensch ist, desto eher engagiert er sich für die Belange anderer“. David Kreuer zeigt auf, welche „Hoffnungen und Erwartungen“ die jungen Menschen haben. Es sind Ansprüche an die Politik und an die Gesellschaft. Die Bereitschaft zur Veränderung ist vorhanden.
Im Anhang (V.) wird vom Herausgeberteam die „Methodik der Studie“ erläutert. Der nach der ersten Studie (1916) verbesserte, ergänzte Fragebogen (rund 200 Fragen) wurde von jeweils einheimischen, geschulten Mitarbeiter*innen in qualitativen Interviews gehandhabt. Im umfangreichen Literaturverzeichnis wird die Validität der Untersuchung nachgewiesen.
Diskussion
Wie kann es gelingen, die Menschheit davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt sein wollen? Nur dann, wenn ein menschenrechtliches, friedlich- und freiheitlich-demokratisches Bewusstsein vorherrscht. Die empirische Studie über Denk- und Verhaltensweisen, Einstellungen und Wertvorstellungen von rund 12.000 jungen Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren in den MENA-Ländern soll dazu beitragen, das Wissen über die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der Region zu stärken und das „Bewusstsein für die Bedürfnisse junger Menschen schärfen und Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern … anregen, politische Maßnahmen zu ergreifen, die diese Bedürfnisse berücksichtigen“. Es sind die internationalen Bemühungen zur Beratung und Kooperation, zu denen (auch) die FES beiträgt. Es sind wertvolle und aussagekräftige Meinungen, die von den Jugendlichen geäußert werden – und auch Anlass bieten, sie in anderen Zusammenhängen und Situationen anzuwenden und zu vergleichen.
Fazit
Mit der Markierung „Die enteignete Generation“ wird verdeutlicht, dass - auch in den MENA-Ländern – „das, ‚was ist‘, und das, ‚was möglich wäre‘, immer weiter auseinander klafft“. Globale Solidarität ist gefordert!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.