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Ulrich Eisenberg, Ralf Kölbel: Kriminologie

Rezensiert von Dr. Karsten Lauber, 23.09.2024

Cover Ulrich Eisenberg, Ralf Kölbel: Kriminologie ISBN 978-3-16-156009-5

Ulrich Eisenberg, Ralf Kölbel: Kriminologie. Mohr Siebeck (Tübingen) 2024. 8., völlig neu bearbeitete Auflage. 1500 Seiten. ISBN 978-3-16-156009-5. D: 180,00 EUR, A: 185,10 EUR.

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Thema

Zwar gibt es etliche Kriminologie-Lehrbücher auf dem Markt, doch konnten bzw. können nur wenige den Status eines Grundlagenwerkes erreichen. Aus dem überschaubaren Kreis der renommierten Werke finden die Lehrbücher von Göppinger (6. Auflage) oder Bock (5. Auflage) leider keine Fortsetzung mehr. Demgegenüber steht das Lehrbuch von Schwind/​Schwind, das mittlerweile in der 24. Auflage vorliegt, und wegen seiner inhaltlichen Mängel und zu starken kriminalpolitischen Ausrichtung kaum mehr für den Hochschulbetrieb empfohlen werden kann. Insofern zählt das Lehrbuch von Eisenberg/Kölbel zu den Letzten seiner Art.

Autor:in oder Herausgeber:in

Ulrich Eisenberg wurde 1976 zum ordentlichen Professor für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Freien Universität Berlin berufen und 2007 emeritiert. Ralf Kölbel ist seit 2013 Universitätsprofessor auf dem Lehrstuhl für Strafrecht und Kriminologie der Ludwigs-Maximilians-Universität München.

Entstehungshintergrund

Das 1979 unter der Autorenschaft von Ulrich Eisenberg erstmals erschiene Lehrbuch liegt nun in der 8. Auflage vor. Seit der 2017 erschienenen 7. Auflage liegt die Alleinverantwortung bei Ralf Kölbel.

Aufbau

Das Lehrbuch ist in drei Teile gegliedert.

  1. Wege kriminologischer Forschung
  2. Zusammenhänge strafrechtlicher Kontrolle, Bewertung und Sanktionierung von Geschehensabläufen
  3. Zusammenhänge als strafbar bewerteten und bewertbaren Geschehens

Untergliedert sind die drei Kapitel jeweils in Titel, Kapitel und Paragrafen. Gerahmt ist der Inhalt mit einer Einleitung (Kriminologie als Wissenschaft), einem mehr als 200-seitigem Literaturverzeichnis und einem Stichwortverzeichnis.

Auffällig ist der Rückgang der Seitenzahl gegenüber der Vorauflage. Waren es in der 7. Auflage (2017) noch 1.528 Seiten, so umfasst die Neuauflage nun 1.437 Seiten. Zum Vergleich dazu hatte die letzte Ausgabe unter der Alleinverantwortung von Ulrich Eisenberg (6. Auflage, 2005) „nur“ 1.185 Seiten. Allerdings erscheint die 8. Auflage in einem größeren Format, sodass sich die Änderung der Gesamtseitenzahl damit begründen lässt.

Inhalt

Nachdem bereits die 7. Auflage einer umfassenden Neubearbeitung unterlag, liegt auch mit der 8. Auflage eine völlig neu bearbeitete Ausgabe vor. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis verdeutlicht bereits, dass die zurückliegenden sieben Jahre ihre inhaltlichen Spuren hinterlassen haben. Die Titel etlicher Kapitel und Paragrafen sind neu formuliert; die inhaltliche Struktur ist insgesamt ausdifferenzierter. Mitunter wurden vorhandene Texte neu zugeordnet.

Ebenso ist das Stichwortverzeichnis aktualisiert, sodass unter anderem neuere Themen wie die Clankriminalität Aufnahme fanden. Erfreulicherweise ist das Stichwortverzeichnis nicht zu kleinteilig aufgebaut: Wer etwas zur Kriminalitätsfurcht sucht, wird dort fündig – alternative Begriffe wie das Sicherheitsempfinden oder das Sicherheitsgefühl werden nicht angeboten.

Die 8. Auflage bildet inhaltlich den Stand bis Spätsommer 2023 ab.

Angesichts des Umfangs des Lehrbuchs und seines Renommees können sich die Inhaltsbeschreibung sowie die Diskussion auf ausgewählte Inhalte beschränken.

Der Blick auf die verwendeten Quellen verdeutlicht im Allgemeinen das hohe Maß, in dem die seit der letzten Auflage neu erschienene nationale und internationale Literatur Eingang in das Lehrbuch fand.

§ 16 im ersten Teil, 2. Titel (Methoden), beschreibt das „Dunkelfeld“ und kriminologische Begleitforschung (S. 163 ff.) und rekurriert in einer ansprechenden Detailtiefe über Möglichkeiten und Grenzen der Dunkelfeldforschung.

Der anschließende § 17 ist mit „Praxisbegleitende Wirkungsforschung“ betitelt (S. 174 ff.). Die Autoren nehmen an dieser Stelle Bezug auf die Evaluationsforschung, die in den letzten Jahren in Deutschland unter dem Schlagwort „Evidenzorientierte Kriminalprävention“ nochmals an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Walsh et al. 2018). Der Schwerpunkt liegt in der Wirkungsforschung, um die Notwendigkeit zu verdeutlichen, Zusammenhänge zwischen dem bisherigen Zustand, den avisierten Ziel und der eingesetzten Variable zu analysieren. Berücksichtigung findet daneben auch die Prozessevaluation.

Innerhalb des 2. Titels (Strafverfolgung und Verurteilung) des zweiten Teils (Zusammenhänge strafrechtlicher Kontrolle, Bewertung und Sanktionierung von Geschehensabläufen) beinhaltet § 25 (Polizei, Verdacht und Ermittlungsverfahren) stark polizeiwissenschaftlich ausgerichtete Inhalte. Die dortige Ziffer II (Ermittlungsherrschaft und interinstitutionelle Beziehungen) glänzt mit gelungenen Ausführungen zum Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft. Ziffer III (Bedingungen in der Polizeiorganisation) beschreibt die polizeiliche Praxis auf individueller und auf Gruppenebene (Cop Culture), berücksichtigt aber auch institutionelle Aspekte wie die Einstellung von Personen mit Migrationshintergrund in den Polizeidienst und die Berufsöffnung für Frauen. Ziffer IV (Die Initiierung polizeilicher Ermittlungen) befasst sich mit der Aufnahme oder Nichtaufnahme von Anzeigen und der Selektionspraxis – einschl. Social/​Racial Profiling. Ziffer V (Polizeilicher Ermittlungsabschluss) widmet sich im Schwerpunkt der Aufklärungsquote und weist auch an dieser Stelle recht umfangreich auf vorliegende Fachliteratur hin.

§ 30 (Tätigkeit des Gerichts) widmet sich unter der Ziff. VII den Fehlurteilen und anderen richterlichen Fehlern und berücksichtigt dabei auch methodische Aspekte. Eisenberg/Kölbel greifen an dieser Stelle ein unterrepräsentiertes Thema der Kriminologie auf.

Der dritte Teil (Zusammenhänge als strafbar bewerteten und bewertbaren Geschehens) eröffnet im ersten Titel mit der Kriminalität als gesellschaftlichem Phänomen bzw. im 1. Kapitel mit Umfang, Struktur und Entwicklung von Delinquenz (S. 747 ff.). Die hier anzutreffende Beschreibung von Hell- und Dunkelfeld beschränkt sich nicht auf das übliche Grundinventar, sondern berücksichtigt auch das (problematische) methodische Nebeneinander von Hellfeld- und Dunkelfelddaten – wie bereits im o.a. § 16. Die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik im Längsschnitt unterliegen einer präzisen und fundierten Kritik durch die Autoren. Der Exkurs zur „Entwicklung der gesellschaftlichen Kriminalitätskosten“ (S. 762 ff.) zählt zu den vielen Fundstellen des Werks, die sich weniger prominent vertretenen Themen in der Kriminologie widmen. Abermals nehmen die Autoren an dieser Stelle die Methodenprobleme in den Blick.

Die „Befunde zur Verbreitung deliktsnaher Devianz“ (§ 43 Nr. IV, S. 765 ff.) beinhalten datenreiche Ausführungen zum Suizid, der Prostitution, dem Suchtmittelmissbrauch sowie dem Bullying. In Bezug auf die Suizidraten beziehen die Autoren das Problem mangelhafter Obduktionen mit ein. In seiner Aussagekraft und Umfänglichkeit fällt die Kategorie der „asozialen“ Personen dagegen ab.

Das 2. Kapitel (Bevölkerungsgruppen und Kriminalität) greift in § 48 Nr. V das Thema Nationalität und Zuwanderungshintergrund (S. 932 ff) auf, polizeilicherseits i.d.R. als „Ausländerkriminalität“ bezeichnet und bietet eine solide Zusammenstellung.

Die Ausführungen in § 53 (Kriminalitätsbelastung und Umgebungsbedingungen) rekurrieren auf die Kriminalgeografie (S. 1006 ff.), zu deren Literatur- bzw. Forschungsstand umfangreich ausgeführt wird.

Die hinreichend in der Literatur berücksichtigte kommunale Kriminalprävention ist Teil der „Auswirkungen der gesellschaftlichen Vorbeugepraxis“ (S. 995 ff.) und zählt (richtigerweise) zur sozialen Kontrolle (S. 987 ff.).

Die neu aufgenommene Clankriminalität (S. 1154) stützt sich im Wesentlichen auf die Quellen von Lampe und die aktuell als Pflichtlektüre zu nennende Literatursynthese von Goergen et al.

Diskussion

Am o.a. dargestellten § 16 (Methoden der Dunkelfeldforschung) lässt sich gut die Qualität des Lehrbuchs veranschaulichen; es eignet sich zum jederzeitigen Nachschlagen und neu entdecken – sowohl für die Forschung als auch für die Lehre.

Des Weiteren nehmen die Autoren durchgehend sozialwissenschaftliche Methodenprobleme in den Blick, was positiv hervorzuheben ist. Damit greift die häufig anzutreffende Globalaussage, bei Eisenberg/Kölbel würde es sich um ein vornehmlich rechtswissenschaftliches Lehrbuch handeln, deutlich zu kurz.

Im § 25 (Polizei, Verdacht und Ermittlungsverfahren) überzeugen Eisenberg/Kölbel mit einer bemerkenswerten Quellenauswahl, die auch weniger prominente Literatur berücksichtigt. In der dortigen Ziffer IV (Die Initiierung polizeilicher Ermittlungen) hätte sich die Aufnahme des von Feltes eingeführten Begriffs des „faktischen Opportunitätsprinzips“ angeboten. Dafür ist treffend der Aufsatz von Antholz zum Dämmerfeld genannt, wenn es darum geht, dass der Polizei bekanntgewordene Straftaten nicht der Staatsanwaltschaft gemeldet werden und konsequenterweise auch nicht in der Polizeilichen Kriminalstatistik erscheinen. Erfreulicherweise erscheint das Dämmerfeld auch im Stichwortverzeichnis und verweist auf zwei Fundstellen im Lehrbuch, allerdings nicht auf den hier beschriebenen § 25, Rd.-Nr. 43. Die Ausführungen in der Ziffer V (Polizeilicher Ermittlungsabschluss) könnten ergänzt werden um die wenigen deutschen Quellen zum geschätzten Verhältnis zwischen bürgerveranlassten Anzeigen und Eigenwahrnehmungen der Polizei. Auch die Definition des Begriffs der Aufklärungsquote gem. der „Richtlinien für die Führung der Polizeilichen Kriminalstatistik“ wäre eine mögliche Erweiterung.

Innerhalb der Ausführungen zur „Ausländerkriminalität“ (§ 48) wäre ein expliziterer Hinweis auf Männlichkeitsnormen wünschenswert, die allerdings später bei „Lebensweltrelevante Raumstrukturen“ (§ 53 Nr. II, S. 1009 ff.) erscheinen.

Bei der umfangreich dargestellten Kriminalgeografie (§ 53) ist aufgrund des gewählten inhaltlichen (durchaus logischen) Aufbaus kaum die Genese der deutschen Kriminalgeografie nachzuvollziehen. Inhaltlich verdeutlicht die Kriminalgeografie im Kleinen die Schwäche der Kriminologie im Großen: der Erklärungsgehalt ist oftmals gering und die Schwächen werden umso deutlicher, je mehr erklärt werden will. Gerade in der kriminologischen Lehre wäre eine stärkere Orientierung an den Popperschen Überlegungen zur Kritik und Rationalität wünschenswert: „Je mehr eine Theorie verbietet, desto mehr sagt sie aus“ (Kiesewetter 2001: 38). In der Gesamtbetrachtung lässt sich im Bereich der Kriminalgeografie seit der letzten Auflage nur wenig neue Literatur finden. Etwas ausführlicher hätten Forschungsergebnisse zur kollektiven Wirksamkeit (S. 1014 f.) ausfallen können, gerade in Bezug auf Forschung aus/in Deutschland. Weniger überzeugend ist der Rekurs auf die Broken-Windows-Theorie (S. 1016) – immerhin einer der bedeutungsvollsten kriminologischen Forschungsfelder seit den 1990er Jahren. Wünschenswert wäre die begriffliche Zuordnung der Broken-Windows-Theorie zur Gruppe der Theorien sozialer Desorganisation und die stärkere Verdeutlichung der zwei Hypothesen, die es auseinanderzuhalten gilt: die erste bezüglich des Einflusses von Incivilities auf die Kriminalitätsfurcht und die zweite, der zufolge aus den Incivilities eine Kriminalitätsspirale entsteht (Lauber/Mühler 2024: 4).

In den zwei kurz gefassten Absätzen zur Kriminalprävention (§ 52) gelingt es nicht im erforderlichen Umfang, die Idee der kommunalen Kriminalprävention, die breit angelegte Kritik sowie den starken Rückgang der kriminalpräventiven Räte zu skizzieren. Mit der mehrmaligen Nennung der Monografie von Wachter enttäuschen die Autoren bei ihrer Quellenauswahl, denn an Referenzquellen mangelt es bei diesem Thema sicherlich nicht.

Zutreffend konstatieren Eisenberg/Kölbel, dass die zur Clankriminalität „vorliegenden Arbeiten […] vorwiegend Meinungs- und Einschätzungscharakter“ (S. 1154) aufweisen. Zu kritisieren an diesem stark verdichteten Beitrag ist höchstens, dass in Bezug auf die genannten Desintegrationserfahrungen keine weitergehenden Quellen genannt werden und die Unentschlossenheit der Autoren, wie mit dem Begriff Clankriminalität umzugehen ist: Obwohl der Clankriminalität ein konstruktivistisch gedachtes „sog.“ vorangestellt wird, erscheint der Begriff selbst in Anführungszeichen (sog. „Clankriminalität“).

Fazit

Sicherlich ist das Lehrbuch – wie im Vorwort zur 8. Auflage genannt – für Praktiker/​-innen, Forschende und Studierende aus verschiedenen Fachrichtungen geeignet, zumal es mit einer überzeugenden inhaltlichen Bandbreite und fachlichen Tiefe überzeugt. Der Preis von 189 Euro wird – abseits der Verfügbarkeit in Bibliotheken – für die eine oder andere Zielgruppe eine Hürde darstellen, zumal beispielsweise mit dem Lehrbuch von Neubacher mit 26,90 EUR eine günstige – und für viele Studierende ausreichende – Alternative vorliegt. Gleichwohl: Eisenberg/Kölbel legen mit ihrem hervorragenden Lehrbuch ein komplexes Werk für Expertinnen und Experten vor, das sich sowohl für die Forschung als auch für die Lehre bestens eignet, sodass zu hoffen bleibt, dass das 1.437 Seiten starke Werk eine rege Verbreitung und weiterhin wohlwollende Rezeption erfährt.

Literatur

Kiesewetter, H. (2001). Karl Popper – ein Jünger von Sokrates, in H. Kiesewetter (Hrsg.), Karl Popper – Leben und Werk. Eigenverlag, S. 35–49.

Lauber, K., Mühler, K. (2024). Zum Einfluss einer Präferenz für Ordnung auf die Wahrnehmung von Incivilities als gefährlich, in Arbeitsbericht des Instituts für Soziologie der Universität Leipzig Nr. 83. Verfügbar unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:15-qucosa2-911207.

Walsh, M.; Pniewski, B.; Kober, M.; Armborst, A. (Hrsg.) (2018): Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland. Ein Leitfaden für Politik und Praxis. Springer VS.

Rezension von
Dr. Karsten Lauber
M.A. (Kriminologie, Kriminalistik, Polizeiwissenschaft), M.A. (Public Administration)
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Es gibt 24 Rezensionen von Karsten Lauber.

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Zitiervorschlag
Karsten Lauber. Rezension vom 23.09.2024 zu: Ulrich Eisenberg, Ralf Kölbel: Kriminologie. Mohr Siebeck (Tübingen) 2024. 8., völlig neu bearbeitete Auflage. ISBN 978-3-16-156009-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32205.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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