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Alice Running: Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 04.09.2024

Cover Alice Running: Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA ISBN 978-3-9525484-2-4

Alice Running: Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA. Kirja Verlag (Gelterkinden) 2024. 180 Seiten. ISBN 978-3-9525484-2-4. D: 22,90 EUR, A: 22,90 EUR, CH: 24,90 sFr.

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Thema

Das Buch ist ein Leitfaden zum Thema PDA (Pathological Demand Avoidance übersetzt mit neurologisches (pathologisches) extremes Vermeidungsverhalten von alltäglichen Anforderungen). Vorgestellt werden aufschlussreiche und informative Strategien und Tipps für alle Aspekte des täglichen Lebens, einschließlich sensorischer Probleme, Erziehung und Verhandlung. Der Fokus liegt darauf, ein Umfeld zu schaffen, das Menschen, die unter den Bedingungen von PDA leben, ermöglicht, authentisch zu sein, sodass sie sich gut entfalten können.

AutorIn

Alice Running ist alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern im Spektrum, eines davon mit PDA-Autismus.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist im Hardcover Format erschienen und hat einen Umfang von 180 Seiten, die sich neben Einleitung und abschließenden Worten der Autorin in sieben Kapitel gliedern.

Die Einleitung mit dem Titel pathologische Anforderungsvermeidung im Kontext führt aus, was PDA ist. Die Abkürzung steht für Pathological Demand Avoidance, übersetzt mit neurologisch (pathologischen) extremen Vermeidungsverhalten von alltäglichen Anforderungen. Der erste Bericht erschien im englischsprachigen Raum schon 1980, verfasst von Prof. Elisabeth Newson, einer Entwicklungspsychologin an der Universität Nottingham. In Deutschland ist diese Art von Autismus weitestgehend unbekannt und auch wissenschaftlich noch nicht genug erforscht. Im Klassifikationssystem ICD-11 findet sich der Begriff PDA nicht, die Verhaltensweise der extremen Anforderungsverweigerung „demand avoidance“ wird im ICD-11 allerdings als Merkmal des Autismus-Spektrums beschrieben.

An die Einleitung schließen sich sieben Kapitel an, die verschiedene Aspekte beleuchten. Das erste Kapitel beginnt mit sensorischen Bedürfnissen. Hilfreich ist eine gute sensorische Balance hin zur Reduzierung des nicht Tolerierbaren und zur verstärkten Hinwendung zum Angenehmen. Die Autorin berichtet, wie sie bei ihrem Sohn sensorische Reize Stück für Stück aufgebaut hat, was seine Selbstregulation erhöht hat. Sie fand heraus, dass es ihm hilft, in Stresssituationen gezielt Reize wie z.B. Rasierschaum einzusetzen. Auf Seite 37 findet sich ein Hinweis auf Checklisten, mit denen die Sinneswahrnehmung bewertet werden kann. Auf den Seiten 40–47 findet sich eine dreispaltige Tabelle: Spalte 1: Sinneswahrnehmungen (sensorischer Bereich), Spalte 2: mögliche Hinweise im Verhalten sowie Spalte 3 Handlungsmöglichkeiten/​Hilfsangebote. Die Autorin weist explizit darauf hin, dass Hilfsmittel nicht kostspielig erworben werden müssen, wie Gewichte oder schwere Decken, sondern das sich im Haushalt Dinge finden, die die gleiche Funktion erfüllen können wie z.B. ein schwerer Rucksack, der mit Pullovern gefüllt ist. Alice Running gibt hier den wichtigen Hinweis, dass es in bestimmten Situationen z.B. bei meltowns sehr wichtig ist, bestimmte Utensilien immer griffbereit zu haben.

Kapitel zwei beschreibt den Alltag eines von PDA betroffenen Menschen. Dieser ist von Ängsten und Unsicherheiten geprägt. Grundsätzlich sollten Techniken wie das Grounding und geführte Meditationen bekannt sein, denn sie helfen, Stress zu reduzieren. In der Familie der Autorin hat es sich bewährt, den Kindern die Möglichkeit zu geben, Regulationszeiten z.B. für den PC selbstständig zu organisieren. Auch Routinen haben sich als hilfreich erwiesen. Zudem hat sie herausgefunden, dass Anforderungen, die sie ihren Kindern vorsingt erfolgreicher sind als gesprochene Sätze. Zu ihrem Notfallwerkzeugkasten gehört auch die Ablenkung. Die Bewältigung der Schwäche der exekutiven Funktionen (wie Selbstorganisation und gutes Zeitmanagement) begegnen manche Eltern mit einer Uhr, auf die bestimmte Aufgaben geklebt wurden, andere nutzen Alexa zur Unterstützung. Damit werden die Kinder von Personen unabhängiger. Hier findet sich auch folgender Tipp: Im Rahmen der Ergotherapie kann eine Funktionsanalyse gemacht werden, auf dieser Grundlage können dann nützliche Unterstützungsstrategien erarbeitet werden.

Von Übergängen und Veränderungen handelt das dritte Kapitel – vor allem die Angst vor dem Unbekannten wird benannt – und es bedarf der Vorbereitung auf Veränderungen, gefolgt von der Kunst des Verhandelns und der Kommunikation (Kap 4). Eine achtsame und inklusive Kommunikation ist Aufgabe aller Beteiligten, Trigger Wörter sind zu vermeiden und die Autorin hat auch die Erfahrung gemacht, in der Erziehung das Wort „Nein“ zu vermeiden, weil damit oft Macht und Kontrolle einhergeht. Ein Weg, der in ihrer Erziehung erfolgreich war, ist die Kommunikation über Dritte, also z.B. durch ein Spielzeug zu sprechen oder mit verstellter Stimme den Familienhund kommunizieren zu lassen.

Das fünfte Kapitel gibt Hinweise zur Bildung, beispielsweise in der Schule. Auf den Seiten 108 - 111 sind hilfreiche Strategien zusammengestellt wie z.B. die flexible Gestaltung von Start – und Endzeiten oder das Einbauen von Ruhezeiten. Wenn die Beschulung in der Regelschule nicht gelingt sollten alternative Schulformen in Betracht gezogen werden.

Das sechste Kapitel nimmt Dinge, die schief gehen können, unter dem Titel Krisen- und Stresssituationen in den Fokus. Meltown, shutdown und Stress sind Resultate eines neurologischen Überreizungszustandes aufgrund der Nichterfüllung von bestimmten Bedürfnissen. In diesen Zustand geht niemand freiwillig bzw. absichtlich. Autistische Kinder und Erwachsene haben keine Kontrolle über diese Stressreaktion. Manche ziehen sich zurück, andere können nicht mehr sprechen, wieder andere verletzen sich selbst oder zerstören etwas. Sollte es dann notwendig sein, Notfalldienste in Anspruch zu nehmen ist es hilfreich, fertig geschriebene Krisenpläne zu haben, in denen u.a. steht, wie mit der Person zu kommunizieren und zu interagieren ist.

Das letzte 7. Kapitel gibt Auskunft über die Zusammenarbeit mit Fachleuten. Hier findet sich eine Handreichung (S. 166–167), die Fachleuten hilft, so in Kontakt zu treten, dass der Kontakt als hilfreich erlebt wird.

Diskussion

Das Buch ist auf Grundlage der persönlichen Erfahrungen der Autorin mit der Erziehung eines ihrer Kinder mit PDA (Pathological Demand Avoidance) entstanden. Die Strategien und Tipps für verschiedene Aspekte stammen mitten aus dem Leben. Der Autorin geht es nicht darum, Betroffene zu verändern, der Fokus liegt darauf, ein Umfeld zu schaffen, welches es den eigenen Kindern ermöglicht, authentisch zu sein, sodass sie sich gut entfalten können.

Die Autorin berichtet auch davon, dass sie Entlastung in guten Selbsthilfegruppen und passenden Netzwerken erfahren hat. Sie weiß, wie wichtig es ist, regelmäßig Selbstfürsorge zu betreiben. Geholfen hat ihr selbst ein Dankbarkeitstagebuch, in das sie durch Fotos glückliche Momente ihrer Kinder gesammelt hat. Das Buch ist in den Zeiten, in denen es mal schwer ist, hilfreich, denn es zeigt, dass Dinge vorübergehen und auch wieder andere Zeiten kommen.

PDA ist als eine Form des Autismus-Spektrums bekannt, Fachleute bezeichnen PDA als Symptomkomplex im Autismus Spektrum bzw. im Neurodivergenzbereich. Kennzeichen ist ein hohes Autonomiebedürfnis und eine intensive Vermeidung von Anforderungen. Diese werden mithilfe sozialer Strategien umgangen, es kann auch vorkommen, dass Betroffene Panikreaktionen wie Flucht, Kampf oder Einfrieren zeigen.

Im Klassifikationssystem ICD-11 findet sich der Begriff PDA nicht, die Verhaltensweise der extremen Anforderungsverweigerung „demand avoidance“ wird dort aber als Merkmal des Autismus-Spektrums erwähnt.

Alice Running vertritt die Auffassung, dass PDA zu wenig Beachtung findet. Kinder mit PDA wirken im Vergleich oft nicht autistisch, was die Diagnosestellung erschwert. Viele berichten davon, dass sie erst spät oder gar nicht diagnostiziert wurden. Menschen, die unter den Bedingungen von PDA leben, wenden als Strategie das sog. Maskieren an, dadurch wirken sie sozial aufgeschlossen und vergleichsweise kompetent. Auf die Dauer ist das Maskieren aber kräftezerrend und kann deshalb nicht als nachhaltige Strategie empfohlen werden.

Im Buch wird darauf hingewiesen, dass allgemein gängige Methoden, die bei ADHS und Autismus (ASS) angewendet werden, nicht helfen oder sogar kontraproduktiv sind. So führen z.B. feste Strukturen und Routinen eher zu mehr Stress und Zusammenbrüchen.

Diese Aussage spiegelt die Erfahrung der Autorin wider, kann aber sicherlich nicht verallgemeinert werden, denn Strukturen und Routinen geben jedem Menschen Orientierung und Sicherheit.

Als Mutter berichtet sie davon, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu kennen und mit diesem Wissen den Alltag verstehbar und bewältigbar zu machen, das ist aus ihrer Sicht verständlich, dennoch ist auch daran zu denken, dass aus Kindern Erwachsene werden, die auch auf diesen Lebensabschnitt so gut wie möglich vorbereitet werden müssen. Es wird die Zeit kommen, in der sie ihre Kinder ins Leben entlassen muss, in der diese nicht mehr die ungeteilte Aufmerksamkeit einer Mutter haben werden.

Ich weiß nicht, welche gängigen Methoden bei ADHS und ASS gemeint sind, die nicht geeignet sind - sicher ist, dass das Arbeiten nach TEACCH, ein Ansatz, den es schon seit den 1970er Jahren gibt und der fortlaufend wissenschaftlich evaluiert wird,  erfolgreich in der Arbeit mit Menschen aus dem autistischen Spektrum Anwendung findet.

TEACCH bietet vielfältige Ansatzpunkte, Strategien nach der TEACCH Philosophie sind erlernbar. Es ist wichtig, dass neben engen Bezugspersonen auch das professionelle Umfeld Kenntnis haben, denn es braucht eine Umgebung/ein Umfeld, in der personenunabhängige Strategien gelernt werden können, das gelingt durch Strukturierung und Visualisierung.

TEACCH ist ein Zwei-Wege-Ansatz. Im ersten Schritt geht es immer um die Anpassung der Umwelt und im zweiten Schritt um die Erweiterung der individuellen Möglichkeiten, natürlich unter Einbeziehung der jeweiligen Person, deren Unterstützungsbedarfe, Möglichkeiten und Grenzen. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Autorin.

Fazit

Mit dem Buch wurde die erste Übersetzung ins Deutsche zum Thema PDA vorgelegt. Es ist ein Leitfaden mit aufschlussreichen und informativen Strategien und Tipps für alle Aspekte des täglichen Lebens zum Thema PDA. Das Buch ist ein Erfahrungsbericht einer alleinerziehenden Mutter. An vielerlei Stellen wird auf weiterführende Links hingewiesen.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Es gibt 311 Rezensionen von Petra Steinborn.

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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 04.09.2024 zu: Alice Running: Ein glücklicheres Leben für dein Kind mit PDA. Kirja Verlag (Gelterkinden) 2024. ISBN 978-3-9525484-2-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32207.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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