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Matthew Desmond: Armut

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 21.05.2024

Cover Matthew Desmond: Armut ISBN 978-3-499-01439-0

Matthew Desmond: Armut. Eine amerikanische Katastrophe. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2024. 304 Seiten. ISBN 978-3-499-01439-0. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema

Die USA sind das reichste Land der Welt – und doch gibt es hier mehr Armut als in jeder anderen fortgeschrittenen Demokratie: Würden die Betroffenen einen eigenen Staat gründen, hätte dieser eine größere Bevölkerung als Australien oder Venezuela. Warum klaffen gerade hier, wo doch alle Mittel vorhanden sein sollten, Reich und Arm, Anspruch und Realität so drastisch auseinander?

Autor

Matthew Desmond, geboren 1979, ist Professor für Soziologie an der Universität Princeton. Selbst in prekären Verhältnissen aufgewachsen, hat Desmond später zu Forschungszwecken über Jahre hinweg von Armut betroffene Familien begleitet. Ihre Geschichten gingen ein in das Buch «Evicted», für das er 2017 den Pulitzer-Preis erhielt.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist der lange erwartete Nachfolger «Armut», der ein noch größeres Bild zeichnet, stand auf Platz 1 der «New York Times»-Bestsellerliste

Aufbau und Inhalt

Die Einleitung ist persönlich, nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise in die Vergangenheit des Autors, in sein Aufwachsen in einem Holzhaus am Rande der so berühmten Route 66 und den Weg aus der Armut heraus. Daraus entwickelt Matthew Desmond seinen Blick auf – ja, so kann man es sagen – das Geschäft mit der Armut. Im Kapitel „Wie Armut aussieht“ erzählt er von Menschen wie Crystal, die schon als Kind das Glück nicht gepachtet hatte und als Erwachsene nicht viel besser dasteht. An ihrem wird deutlich, was Armut ist: „Armut ist Schmerz, körperlicher Schmerz. Sie steckt in den Rücken der Pflegekräfte, die sich bücken, um die Alten und Kranken aus dem Bett und von der Toilette zu holen. Sie steckt in den Füßen und Knien der Verkäuferinnen und Kassierer, die stehend unsere Bestellungen entgegennehmen oder kassieren. Sie steckt in den Ausschlägen und Migränen der Haushaltshilfen und Reinigungskräfte, die unsere Büros, Wohnungen und Hotelzimmer mit aggressiven Reinigungsmitteln putzen müssen“ (S. 22). Dazu kommen harte Fakten: So stieg die Zahl der obdachlosen Kinder in den USA von rund 795.000 im Jahr 2007 bis 2018 auf 1,3 Millionen. Im Kapitel „Warum wir nicht vorankommen“ untersucht der Autor dann, was Gründe dafür sind, dass die Armut immer mehr steigt, obwohl doch die Sozialausgaben immer mehr steigen. Er zeigt, dass im amerikanischen Sozialsystem viele Dollar gar nicht unbedingt dort ankommen, wo sie benötigt werden.

Im Kapitel „Wie wir die Arbeitnehmer sabotieren“ zeigt sich, dass es trotz eines regelmäßigen Einkommens für manche Menschen einfach nicht reicht, oberhalb der Armutsgrenze zu leben, dass sie trotzdem auf irgendeine Form der staatlichen Unterstützung angewiesen sind. Weil – was zugegeben ein bisschen wie marxistische Grundprinzipien klingen mag – Firmen einfach alles tun, um ihre Mitarbeiter:innen auszubeuten. Das führt dann dazu, dass es zum Beispiel Supermarktketten geht bei denen rund zehn Prozent der Beschäftigten eines Bundesstaates staatliche Leistungen wie Lebensmittelmarken oder Medicaid als staatliche Gesundheitsunterstützung. „Wie wir die Armen schröpfen“ heißt das nächste Kapitel, in dem Matthew Desmond untersucht, wie es sein kann, dass Vermieter:innen in armen Vierteln zum Beispiel mehr verdienen als in reicheren Vierteln. Das liegt nämlich daran, dass die Fixkosten wie Hypotheken oder auch die Grundsteuern in diesen Stadtteilen wesentlich geringer sind als in wohlhabenden Vierteln, obwohl die Mieten kaum günstiger sind. Dass das absurde Züge annimmt, wird an der Geschichte von Lakia deutlich, die in Cleveland 950 Dollar Miete plus 500 Dollar Heizkosten bezahlt. Hätte sie die Möglichkeit, einen Kredit für ein Eigenheim aufzunehmen – wozu sie zu wenig verdient –, müsste sie Hypothek, Grundsteuer und Versicherung unter 600 Dollar zahlen. Im Kapitel „Wie wir von Sozialhilfe abhängig wurden“ geht der Autor dann der Hypothese nach, ob der amerikanische Sozialstaat „denen am meisten [gibt], die am wenigsten benötigen“ (S. 108). Er stellt die Frage, wie es sein könne, dass Gutverdienende die staatliche Unterstützung, die sie bekommen, scheinbar gar nicht bemerken und stattdessen argwöhnisch auf arme Menschen schauen, die staatliche Unterstützung bekommen. „Wie wir uns Möglichkeiten kaufen“ ist das nächste Kapitel überschrieben. Es beschreibt, dass sich die Reichen durch ihre finanziellen Möglichkeiten segregieren und letztlich Grenzen immer undurchlässiger machen.

Es kommen die Kapitel, die Hoffnung machen. In „Wie wir die Armut abschaffen können“ stellt Matthew Desmond drei Hypothesen auf, die zu einem Ende der Armut in den USA führen könnten. Was müsste also geschehen? Die Ausbeutung von Menschen auf dem Arbeitsmarkt müsste aufhören, statt der Subventionierung von Reichtum müssen die Finanzämter dafür sorgen, dass Steuern auch wirklich von allen gezahlt werden und die Schaffung exklusiver Stadtviertel für Wohlhabende muss aufhören. Den nächsten Schritt diskutiert der Autor dann im Kapitel „Wie wir die Armen stärken:“ Ideen gibt es dazu viele, so zum Beispiel den Ausbau des Sozialwohnungsbaus oder aber auch die schon genutzte und an Beispielen beschriebene Möglichkeit der Vergenossenschaftlichung von Wohnraum. Aber auch die Unterstützung bei der Familienplanung könnte helfen. Denn, das ist statistisch erwiesen, Frauen, die wirkungsvolle Verhütungsmittel nutzen, gehen länger zur Schule, sind häufiger erwerbstätig. Bleibt nur noch der Blick auf das letzte Kapitel mit dem Titel „Wie wir die Mauern einreißen“. Und das meint der Autor wörtlich. Er plädiert für eine Durchmischung der Gesellschaft, denn wenn sich „Armut über Schulen und Gemeinden verteilt[t], verliert sie ihren Stachel“ (S. 174).

Diskussion

Soziologen neigen – so ein Vorurteil – bisweilen dazu, verquaste und kaum nachvollziehbare Texte zu schreiben. Das ist in diesem Fall definitiv nicht so. Denn Matthew Desmond zeigt in einer mitreißenden Spracheeine bittere Wahrheit, die weit über die USA hinausweist und ins Innerste der kapitalistischen Gesellschaften zielt: Dass Millionen von Menschen in Armut leben, ist nicht etwa eine strukturelle Zwangsläufigkeit oder das Ergebnis je individuellen Fehlverhaltens – Armut existiert und besteht fort, weil es Menschen gibt, die davon profitieren. Doch nicht nur Konzerne und Kapitalgesellschaften, sämtliche Wohlhabenden tragen, wissend oder unwissend, zur Aufrechterhaltung der Missstände bei. Was politische Mythen, Profitinteressen, aber auch tägliche Konsumentscheidungen damit zu tun haben – das wurde selten so schonungslos aufgezeigt. Eine wütende Anklage und ein entschiedenes Plädoyer: Die Armut, dieses himmelschreiende Unrecht, muss nichts weniger als endlich abgeschafft werden. Und so sind es nicht bloß die im negativen Sinne faszinierenden Zahlen und harten Fakten, die dieses Buch liefert, sondern auch die Geschichten und Gesichter der Menschen, die hinter diesen Zahlen und Fakten stecken. Ihnen gibt Matthew Desmond eine Stimme, ohne auf große Effekthascherei aus zu sein. An manchen Stellen reichen nur wenige Worte, um zu begreifen, was Menschen in diesem Land der unbegrenzten Möglichkeiten erleiden, wie sie leben und manchmal auch sterben. Natürlich lassen sich diese Fakten nicht auf Deutschland übertragen. Aber das Buch vermittelt eine Idee davon, dass Armut auch hierzulande eben weit mehr ist als die Diskussion über Arbeitsverweiger:innen, Sanktionen und Kindergrundsicherung. Armut kann Leben zerstören.

Fazit

Ein Buch, das es schafft, Fakten zu vermitteln und trotzdem zu emotionalisieren. Wer einen Blick hinter die Kulissen der USA wagen möchte, ist hier genau richtig.

Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Es gibt 131 Rezensionen von Wolfgang Schneider.

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ISSN 2190-9245