Claudia Rahnfeld, Niklaas Seehase: Führungskultur in der Sozialwirtschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Cornelia Enger, 04.06.2024
Claudia Rahnfeld, Niklaas Seehase: Führungskultur in der Sozialwirtschaft. Grundlegende Überlegungen und empirische Ergebnisse zum Selbstverständnis von Führungskräften. Springer VS (Wiesbaden) 2022. 120 Seiten. ISBN 978-3-658-38450-0. D: 51,39 EUR, A: 56,53 EUR, CH: 61,00 sFr.
Autor
Prof. Dr. Claudia Rahnfeld vertritt an der Dualen Hochschule Gera-Eisenach die Professur für Professionstheorie und Disziplinäres Wissen in der Sozialen Arbeit. Ihre Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen Sozialmanagement, Lernen in Organisationen/​Organisationsentwicklung, Sozialarbeitswissenschaft, Diversität und Soziale Ungleichheit sowie Inklusion und Exklusion.
Niklaas Seehase arbeitet als Sozialarbeiter im Begleitenden Dienst der Stormarner Werkstätten in Bad Oldesloe.
Entstehungshintergrund
Im Fachdiskurs der Sozialwirtschaft/des Sozialmanagements liegen nur rudimentär empirische Einblicke zum Selbstverständnis von Führungskräften und zur Führungskultur vor. Die Autor:innen analysierten im Rahmen ihrer theoriebasierten Überlegungen den aktuellen Forschungsstand, der erkennen ließ, dass es kaum Erkenntnisse gibt, die sich auf der Basis quantitativer Befragungen erschlossen. Dieser Forschungslücke nahmen sie sich an und befragten im Jahr 2021 deutschlandweit Führungskräfte der Sozialwirtschaft.
Aufbau
Die Monographie umfasst nach einer Einleitung acht Hauptkapitel und schließt mit einem zusammenfassenden Fazit und einem Literaturverzeichnis.
Die Einleitung (Kapitel 1) widmet sich der Verortung der Person als Führungskraft, der Komplexität von Führung, ihrer Bedeutung in der Sozialwirtschaft und den zentralen Forschungsfragen. Kapitel 2 beleuchtet die spezifischen Rahmenbedingungen für sozialwirtschaftliche Organisationen und ihre sozialen Dienstleistungen, ihre Steuerungslogik und die damit verbundenen Ansprüche von Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb. Kapitel 3 befasst sich mit den theoriebasierten Überlegungen, die der Befragung zugrunde liegen. Menschenbilder prägen das Verhalten und damit wesentlich die Gestaltung von Organisationen. Grundlage menschlichen Verhaltens sind die Bedürfnisse. Die Autor:innen greifen eingangs das bedürfnisorientierte Modell nach Maslow (Bedürfnispyramide) auf, verdeutlichen die Bedeutung und Wirkung einer erfolgreichen und einer nicht erfolgreichen (beruflichen) Aufgabenbewältigung und führen in das Modell der Lebensbewältigung nach Böhnisch ein.
Die historische Entwicklung der Führungsforschung ab 1900 bis in die Gegenwart ist Inhalt des 4. Kapitels. Es werden ausgewählte interaktionsorientierte Ansätze vorgestellt, welche aufzeigen wie Rollenaushandlung und Identitätsbildung von Führungskräften und Geführten verstanden werden kann. In Kapitel 5 werden nochmals gebündelt Methoden und Techniken, aber auch Herausforderungen von Selbst- und Fremdführung klassifiziert.
Das 6. Kapitel widmet sich dem Forschungstand zum Thema Führung und Selbstverständnis von Führungskräften. Im Ergebnis wird, verweisend auf Meyer & Maier (2018, zit. in Rahnfeld & Seehase 2022, S. 74), konstatiert, dass viele Forschungsfragen zur Führung(skultur) unbeantwortet sind und ein Defizit an quantitativen Untersuchungen besteht.
Dieser Forschungslücke wird ab Kapitel 7 mit der Erläuterung des Forschungsdesigns der quantitativen Befragung, dem Kapitel 8 mit der Ergebnisdarstellung und Kapitel 9 mit der Ergebnisdiskussion sowie einer abschließenden Zusammenfassung mit Fazit in Kapitel 9 begegnet.
Inhalt
Die Monographie bietet auf der Grundlage der Befragung von Führungskräften einen Einblick in das Selbstkonzept, die Entscheidungsfindung, die Reflexionen, den Umgang mit Konflikten und die gelebte Fehlerkultur von Führungskräften. Von zentralem Interesse ist, wie Führungskräfte ihr Aufgabenfeld und ihr Handeln einschätzen. Wie sie ihre Rolle in der Organisation sehen, sich ihre Entscheidungsfindung gestaltet und sie mit Konflikten und Fehlern (Fehlerkultur) umgehen. Ziel der Studie ist es, Rückschlüsse auf die Führungskultur in sozialwirtschaftlichen Organisationen zu ziehen. Dementsprechend werden in der Betrachtung Rahmenbedingungen reflektiert, die sich in der Sozialwirtschaft für ein Management und eine Führungskraft wiederfinden, aber ebenso historische Wandlungsprozesse und Steuerungslogiken nachvollziehen lassen. Basierend auf den Befragungsergebnissen wird analysiert, inwieweit sich geschlechts-, alters- und erfahrungsspezifische Unterschiede zeigen und welchen Einfluss Führungsverantwortung und Qualifikation auf Führung hat, um abschließend Thesen zur Diskussion zu stellen – u.a. zur Bedeutsamkeit einer vertrauensvollen Zusammenarbeit, einer angestrebten teamorientieren Entscheidungsfindung, einer fachbezogenen (Grund-)Qualifikation und einer eingeschätzten wirtschaftlichen Stabilität der eigenen Organisation, aber auch der Bedeutungszumessung von Konflikten und Fehlerkultur, um schlussfolgernd ein Selbstkonzept für Führungskräfte in der Sozialwirtschaft herauszuarbeiten.
Diskussion
Forschungstheorie – Eine erste theoriebasierte Grundlage bietet das Bedürfniskonzept nach Maslow (Kap. 3). Ein Modell, welches in seiner recht vereinfachten Darstellung vielfältige Erklärungsansätze bietet, jedoch ebenso in Frage gestellt werden kann. Die Autor:innen greifen diese Bedenken (wie bspw. die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung von natürlichen Trieben und kulturell-gesellschaftlich bedingten Bedürfnisse) auf und beziehen sich bei der Frage, ob sich Kategorien menschlicher Bedürfnisse auf einen gesellschaftlichen Kulturkreis begrenzen oder pauschaliert und kulturkreisübergreifend gelten, maßgebend auf Schreyögg & Geiger (2016). Diskutiert wird, dass nicht jedes Bedürfnis direkt geäußert wird und jedes Bedürfnis sehr individuell sein kann. Die geführte Diskussion der Autor:innen mag ergänzt werden, denn gleichfalls kann die hierarchisch-/​pyramidenartige Darstellung in Frage gestellt werden, insofern die Anwendbarkeit der Ebenen stark von individuell gegebenen Möglichkeiten abhängt und Bedürfnisprämissen sich abhängig von den Lebensphasen gestalten – sie können sich ändern, sind veränderlich.
Die Autor:innen beziehen sich weiterführend auf die von McGregor (1960) entwickelten X-/Y-Theorien, die aufzeigen wie organisationstypisch Abläufe und Prozesse gestaltet werden können. Grundlegend ist der Gedanke, dass Führungskräfte mit einem bestimmten Menschenbild organisationsgestaltend agieren. Dieses Abhängigkeitsverhältnis wird mittels des Modells zur Lebensbewältigung nach Böhnisch weitergedacht. Böhnisch betrachtet im Ursprung deviantes Verhalten, ausgehend von den Vorstellungen zu eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Selbstwirksamkeitserwartung sowie der tatsächlichen Selbstwirksamkeit, d.h. der umgesetzten Wirksamkeit, die sich im positiven Fall motivierend oder bei Misserfolg demotivierend auswirken kann. Optimalerweise kann bei der Aufgabenbewältigung auf das Verhalten von Mitarbeitenden Einfluss genommen werden – konkret auf Faktoren wie Selbstwirksamkeit, soziale Anerkennung und Selbstwert. In diesem Prozess kommt der Führungskraft die Bedeutung zu, durch entgegengebrachte soziale Anerkennung den Selbstwert, die Selbstwirksamkeitserwartung und letztlich die Selbstwirksamkeit von Mitarbeitenden entscheidend zu prägen.
Mit der Theorie der Lebensbewältigung nach Böhnisch, einem ursprünglich interdisziplinären Ansatz zur Erklärung sozialer Problemlagen, wird den Klassikern wie dem Bedürfniskonzept nach Maslow und den X-/Y-Theorien nach McGregor ein Modell zur Seite gestellt, welches einen Bezug zwischen Managementlehre und Unterstützungsmöglichkeiten Sozialer Arbeit herstellt. Genutzt wird ein Ansatz aus der Sozialen Arbeit, individuelle, umfeldbezogene und gesellschaftliche Einflüsse zu berücksichtigen, die für Menschen krisenhafte Lebensphasen begründen und beschreiben. Bezogen auf die Soziale Arbeit sind Sozialarbeitende Ansprechpersonen für Menschen in kritischen Lebenssituationen. Es gilt zuzuhören, Zugangsmöglichkeiten zu individuellen Erlebniswelten zu eröffnen und zu intervenieren. Obgleich der Ansatz von Böhnisch (ergänzt werden zum rezensierten Werk die Quellen: Böhnisch 2012; Böhnisch 2016; Böhnisch & Schröer 2018) als eine Theorie der Sozialen Arbeit zu sehen ist und speziell für Sozialarbeitende professionelle Handlungsmöglichkeiten eröffnen will, finden sich dennoch führungsbezogene Verknüpfungen, wenngleich auch nicht als „Bezugsdisziplin“ (im Sinne von Wendt 2006), sondern vielmehr verstanden als eine Adaption auf den anforderungs-, handlungs- und entscheidungsspezifischen Bezugsrahmen von Führungskräften. Insofern mag diesem gedanklichen Weg eine interdisziplinäre Komponente zugeschrieben werden.
Forschungsergebnisse und ihr spezifischer (Ein-)Blick in/auf die Sozialwirtschaft – Die Befragung basierte auf einer persönlichen Einschätzung, an der sich 542 Führungskräfte beteiligten. Sie gibt bereits bezogen auf Geschlecht, Alter, Jahre an Führungserfahrung und Qualifikation einen charakteristischen Einblick in die gegenwärtigen soziodemographischen Führungsstrukturen in der Sozialwirtschaft. Die fünf Fragekategorien widmeten sich explizit dem Selbstkonzept bzw. dem Führungsverständnis, dem Erleben von Entscheidungssituationen als komplexe Handlungsmomente, den praktizierten Methoden der (Selbst-)Reflexion, dem Umgang mit Konflikten und Fehlern bzw. mit Verbesserungsmöglichkeiten (Fehlerkultur) in der Organisation. Im Ergebnis fiel auf, dass es keine signifikanten Abweichungen in den Kategorien zwischen den Geschlechtern gibt. Jedoch zeigen sich strukturelle Unterschiede, wie bspw., dass je höher die Anzahl der zu führenden Mitarbeitenden war, desto eher führte eine männliche Führungskraft.
Ausgehend von den verschiedenen Auffälligkeiten werden weiterführend mögliche Ursachen diskutiert, die anteilig auch spezifisch für die Sozialwirtschaft sind. Wie zum Beispiel Auffälligkeiten, die sich auf die Qualifikation zurückzuführen ließen – konkret bezogen auf den höheren Anteil an Führungskräften mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Abschluss im Vergleich zu einem Abschluss in einem sozialen Fachbereich. Den Auswirkungen der Grundqualifikation auf Führung wird dementsprechend auch ein gesondertes, auswertendes Kapitel gewidmet, welches unterschieden in drei Gruppen (Führungskräfte mit Abschluss in einem sozialen Fachbereich, mit Abschluss in einem wirtschaftlichen Fachbereich sowie mit gemischter Grundqualifikation) ausgewählte Fragekategorien analysiert und Unterscheidungen in einer Sozialwirtschaft herausarbeitet, die desgleichen als branchenspeziell zu werten sind. Dementsprechend reizvoll ist an den gewonnenen Befragungsergebnissen (Kap. 8) sowie den im Weiteren vorgenommenen Einordnungen (Kap. 9), dass sie eine empirisch belegte Basis für einen weiterführenden Diskurs zur branchenspezifischen Personal- und Organisationsentwicklung bzw. vielfältig Ansatzpunkte für eine Überprüfung von bisherigen Annahmen und Entwicklungsprozessen in der Sozialwirtschaft bieten.
Fazit
An der Online-Befragung nahmen 542 Führungskräfte aus der Sozialwirtschaft teil. Die Studie lässt branchenspezifische Aspekte zu einem Selbstverständnis und einer Führungskultur erkennen und bietet vielfach Ansätze für weiterführende brancheneigene Ansätze in Personal- und Organisationsentwicklung, aber auch zur Überprüfung der im Ergebnis der Studie aufgestellten Thesen.
Literatur
Böhnisch, Lothar (2012). Lebensbewältigung: Ein sozialpolitisch inspiriertes Paradigma für die Soziale Arbeit. In: Werner Thole (Hrsg.), Grundriss Soziale Arbeit: Ein einführendes Handbuch. 4. Aufl., Wiesbaden: VS. S. 219 – 233.
Böhnisch, Lothar (2016). Lebensbewältigung: Ein Konzept für die Soziale Arbeit. Weinheim: Beltz Juventa.
Böhnisch, Lothar; Wolfgang Schröer (2018). Lebensbewältigung. In: Gunther Grasshoff, Anna Renker, Wolfgang Schröer (Hrsg.), Soziale Arbeit: Eine elementare Einführung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. S. 317 – 326.
McGregor, Douglas (1960). The human side of enterprise. New York: McGraw-Hill Book.
Schreyögg, Georg; Geiger, Daniel (2016). Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung. Mit Fallstudien. Wiesbaden: Springer Gabler.
Wendt, Wolf Rainer (2006). Die Disziplin der Sozialen Arbeit und ihre Bezugsdisziplinen. Erweiterter Text eines Vortrages an der Hochschule Potsdam am 04.12.2006. URL: http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/​Wendt_Sozialarbeitswissenschaft.pdf [29.05.2024].
Rezension von
Prof. Dr. Cornelia Enger
Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Sozialmanagement.
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Es gibt 3 Rezensionen von Cornelia Enger.
Zitiervorschlag
Cornelia Enger. Rezension vom 04.06.2024 zu:
Claudia Rahnfeld, Niklaas Seehase: Führungskultur in der Sozialwirtschaft. Grundlegende Überlegungen und empirische Ergebnisse zum Selbstverständnis von Führungskräften. Springer VS
(Wiesbaden) 2022.
ISBN 978-3-658-38450-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32211.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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