Michael Domes, Juliane Sagebiel et al. (Hrsg.): Die Bedeutung von Theorien Sozialer Arbeit für die Praxis
Rezensiert von Maria Wolf, 05.12.2024
Michael Domes, Juliane Sagebiel, Rudolf Bieker (Hrsg.): Die Bedeutung von Theorien Sozialer Arbeit für die Praxis. Exemplarische Fallanalysen.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024.
240 Seiten.
ISBN 978-3-17-041900-1.
32,00 EUR.
Reihe: Grundwissen Soziale Arbeit - 50.
Thema
Theorien sind die Basis der Handlungswissenschaft Sozialer Arbeit, stellen jedoch aufgrund ihrer Komplexität für viele Studierende und Fachkräfte eine Herausforderung hinsichtlich ihrer Anwendung in der Praxis dar. Die Herausgebenden verfolgen deshalb das Ziel, anhand eines durchgängigen Fallbeispiels den Nutzen von Theorien und Querschnittshemen der Sozialen Arbeit für die Praxis aufzuzeigen.
Herausgeber:innen
Michael Domes besetzt die Professur für Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit an der TH Nürnberg Georg Simon Ohm.
Juliane Sagebiel ist emeritierte Professorin für Sozialarbeitswissenschaft und Machttheorien an der Hochschule München.
Aufbau
Der Band ist ausgehend von einem konstruierten Fall, der diverse Bereiche Sozialer Arbeit berührt, in drei Abschnitte untergliedert. Teil 1 widmet sich theoretischen Zugängen, Teil 2 behandelt Querschnittsthemen. Im letzten Teil erfolgt eine zusammenführende Betrachtung.
Inhalt
Der 15-jährige Joel wird beim Stehlen einer Flasche Wodka erwischt und beginnt eine Schlägerei mit dem Angestellten des Ladens. Nun wird nicht nur die Polizei, sondern vor allem die Soziale Arbeit aktiv.
Die analytischen Zugänge werden über die folgenden Theorien Sozialer Arbeit geboten: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit (Cornelia Füssenhäuser), die systemisch-prozessuale Perspektive Staub-Bernasconis (Juliane Sagebiel, Michael Domes), Lebensbewältigung (Gerd Stecklina), eine adressat:innenbezogene Perspektive (Michael Winkler), die Ökosoziale Theorie nach Wendt (Ingo Stamm), Daseinsmächtige Lebensführung (Dieter Röh), Kritische Soziale Arbeit (Michael May), den systemisch-konstruktivistischen Fallzugang (Tilly Miller) und Relationale Soziale Arbeit (Stefanie Engler). Die Darstellungen des Theorie-Fall-Transfers folgt dabei auf ganz unterschiedlich Art. Teils werden aus den theoretischen Bezügen heraus Fragen an den Fall gestellt, teils eine Deutung vorgestellt. Einige Beiträge schreiben den Fall fort, andere, am radikalsten Michael Winkler, der die Falldarstellung gänzlich ablehnt und eine Subjektperspektive einfordert, weiten die Perspektive, um eine theoriegeleitete Analyse zu ermöglichen, die Handlungsfähigkeit eröffnet. Gemein ist allen Beiträgen, dass Überlegungen zu Handeln in der Sozialen Arbeit angeregt werden.
Teil 2 bringt die Querschnittsthemen Empowerment (Corinna Ehlers), Macht (Sabine Pankofer), geschlechterreflexive und intersektionale Perspektiven (Fabian Lamp), Sozialraumorientierung (Christian Spatcheck), postkoloniale Perspektiven (Nausikaa Schirilla) und digitale Transformation (Stefanie Neumaier, Juliane Sagebiel) in die Fallanalyse ein. Sie bilden vertiefende Analyseschwerpunkte zu einzelnen, für Fallverständnis und Fallbearbeitung relevanten Aspekten. Dabei bieten sie Handlungsmöglichkeiten, die unter einem weiterführenden Paradigma stehen (so z.B. Empowerment) oder bieten Anknüpfungspunkte für eine weitere Reflexionsschleife (z.B. geschlechtsreflexive Perspektive). Der dritte Teil besteht aus der von Ursula Unterkofler und Christian Ghanem verfassten Zusammenschau. Sie beleuchten das Verhältnis zwischen Theorien der Sozialen Arbeit und ihren Bezugswissenschaften, diskutieren die Rolle und das Potenzial von Theorien in der Praxis und werfen einen Blick auf Studium und Identitätsbildung von Sozialarbeiter:innen.
Wie gelingt nun der Theorie-Praxistransfer?
Hierzu zwei Beispiele: Stecklina erläutert die Lebensbewältigungstheorie ausgehend von den Begriffen „Lebensbewältigung“ und „Handlungsfähigkeit“. Er versteht unter Bewältigung eine Form der Sozialisation, die darauf abzielt, Handlungsfähigkeit herzustellen. Ist das Selbst des Individuums mit seinen Komponenten Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert im Gleichgewicht, so entsteht eine Handlungsfähigkeit, über die der Alltag subjektiv befriedigend gestaltet werden kann. Bewältigung und Handlungsfähigkeit ziehen sich nun durch drei miteinander verschränkte Zonen.
- Die personal-psychodynamische Zone fokussiert die Ausdrucksmittel des bzw. der Einzelnen. Im analytischen Fallbezug wird die fehlende Anerkennung Joels durch Schule, Familie, Freunde und Jugendzentrum sichtbar. Anerkennung, die er u.a. mittels Diebstahls erlangen will. Soziale Arbeit muss sich daher auf die Schaffung tragfähiger und anerkennungsfördernder Beziehungen konzentrieren, um Joel zu unterstützen.
- In der relational-intermediären Zone, die sich auf Interaktionen und soziale Milieus bezieht, richtet sich der Blick auf die biografisch erworbenen Bewältigungsstrategien, die besonders in kritischen Lebenssituationen, wie beispielsweise dem Jugendalter, besonders brüchig werden. Joel benötigt erwachsene und gleichaltrige Bezugspersonen, mit denen er über seine Probleme reden kann.
- Die sozialstrukturell-sozialpolitische Zone thematisiert Lebens- und Bewältigungslagen vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels. Beengte Wohnverhältnisse, ein segregiertes Wohngebiet und die sozioökonomische Situation von Joels Familie schaffen Druck und beeinflussen das Handlungsrepertoire.
Fabian Lamp nutzt das intersektionale Mehrebenenmodell von Winker und Degele (2010) für eine geschlechtersensible Betrachtung des Falls Joel. So werden einerseits gesellschaftstheoretische Ansätze als Strukturebene, lebensgeschichtliche Entwicklungsprozesse und alltägliche Ordnungs- und Orientierungsmuster als Ebene der Identität und diskurstheoretische Ansätze um Macht und Wissen als Repräsentationsebene zur Beschreibung von Geschlecht miteinander verknüpft. Zum anderen werden diese Ebenen auf weitere Differenzkategorien, nämlich race, class und body angewendet und in Wechselwirkung zueinander gestellt. Der Beitrag diskutiert daran die Situation der gesamten Familie. Hier soll nur exemplarisch auf die Ebene der Repräsentation eingegangen werden: Der benachteiligte Stadtteil mit einem hohen Migrationsanteil, in dem Joels Familie lebt, zeigt eine Verbindung der Differenzkategorien Herkunft und Klasse auf. Traditionelle Geschlechternormen prägen das Verhalten der Eltern und bilden den Übergang zu ihren Identitätskonstruktionen. Joels abweichendes Verhalten – Alkoholkonsum, Diebstahl und Gewalt – lässt sich aus der Perspektive gesellschaftlicher Männlichkeitsrepräsentationen interpretieren. Für die Soziale Arbeit ist daher eine geschlechtersensible Perspektive empfehlenswert, die zu unterschiedlichen Interventionsansätzen führt. Im Falle Joel wäre eine geschlechterreflexive Begleitung sinnvoll, die sein gewaltförmiges Verhalten als Bewältigungsversuch versteht.
Diskussion
Anfangs sei betont: Der Sammelband stellt keinen bloßen Zuwachs an „Theoriebüchern“ dar, sondern versucht, das Problem des Theorie-Praxis-Transfers mit einem Lehrbuchansatz zu mildern. Die Herausgebenden bezeichnen das Buchprojekt selbst als „work in process“. Letztgültige Antworten oder Lösungen werden damit nicht geboten. Das kann Theorie aber auch nicht leisten, und das wird bei allen hier versammelten Beiträgen klar: Es geht um eine theoretische Analyseebene, die zur Reflexion anregt. Dazu ist es in den meisten Fällen nötig, die Theorie zu kennen – wie gesagt, es handelt sich hier um kein Theorien-, sondern um ein Transfer-Lehrbuch. Dankenswerterweise schließen die einzelnen Kapitel mit weiterführender Literatur ab.
„Transfer Herstellen“ bedeutet auch, dass nicht nur der Fall im Buch, sondern die ganz unterschiedlichen Fälle in der Praxis Sozialer Arbeit für und durch Theorien geöffnet werden. Dies scheint mir durch die in vielen Beiträgen anklingende Warnung vor Rezeptanwendung und das Entstehen von „Lust auf mehr“, das sich beim Lesen der vielen unterschiedlichen Perspektiven einstellt, zu gelingen. Man liest über den Fall „Joel“, übernimmt theoretische Bausteine und kann nun den Blick auf die eigenen Fälle richten. Bleibt nur zu hoffen, dass der Elan bei der notwendigen theoretischen Vertiefung nicht verpufft.
Das schöne an Sammelbänden ist, dass nicht nur unterschiedliche Themen versammelt sind, sondern dass man von den Beiträger:innen auch ganz unterschiedlich angesprochen wird. Mein persönliches Highlight war der Beitrag von Tilly Miller, der das Kunststück gelingt, zur Reinkarnation ihrer eigenen Theorie zu werden, indem sie an den vorgegebenen Fall einen zweiten Fall konstruiert und die Lesenden zum dritten Fall werden lässt – zumindest für diejenigen, die das Buch in einem Zug durchlesen möchten. Nachdem ich durch die stetige Lektüre des immer selben Falles etwas müde wurde, beschreibt sie in ihrem zweiten Fall eine müde Seminargruppe, der durch die Beobachtung zweiter Ordnung mittels Metakommunikation zu Leibe gerückt wurde. Der Theorie-Praxis-Transfer setzte hier ganz automatisch durch die Beobachtung zweiter Ordnung von mir selbst als drittem Fall ein: Transfer geglückt!
Zurück zum Sammelband: Hilfreich ist die Trennung zwischen Theorien und Querschnittsthemen, denn das verdeutlicht viel eindrücklicher als durch eine rein abstrakte Argumentation, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen: Ohne die Theorie fehlt die Zielperspektive. Hier zeigt sich der besondere Wert der Sozialarbeitswissenschaft als Handlungswissenschaft.
Fazit
Ein unverzichtbares Werk für alle, die sich schon immer gefragt haben, welche Verbindung zwischen Theorien und Praxis Sozialer Arbeit wirklich bestehen. Besonders empfehlenswert für Praktiker:innen, die sich in ihren Routinen erschüttern lassen wollen.
Vermittelt über einen Beispielfall bietet der Sammelband einen Zugang zu zeitgenössischen klassischen und neueren Theorien sowie Querschnittsthemen Sozialer Arbeit. Es wird jedoch empfohlen, sich weiterführend mit den Theorien auseinanderzusetzen, die beim Lesen besonders ansprechen.
Rezension von
Maria Wolf
MA Soziale Arbeit
Lehrkraft für besondere Aufgaben, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
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Es gibt 19 Rezensionen von Maria Wolf.
Zitiervorschlag
Maria Wolf. Rezension vom 05.12.2024 zu:
Michael Domes, Juliane Sagebiel, Rudolf Bieker (Hrsg.): Die Bedeutung von Theorien Sozialer Arbeit für die Praxis. Exemplarische Fallanalysen. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-17-041900-1.
Reihe: Grundwissen Soziale Arbeit - 50.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32234.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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