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Karin J. Lebersorger: Menschen mit Down-Syndrom verstehen

Rezensiert von Dr. Philipp Thaler, 18.02.2025

Cover Karin J. Lebersorger: Menschen mit Down-Syndrom verstehen ISBN 978-3-95558-387-3

Karin J. Lebersorger: Menschen mit Down-Syndrom verstehen. Psychodynamisch orientierte Prävention, Beratung und Behandlung. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 168 Seiten. ISBN 978-3-95558-387-3.

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Thema

Die Themen weisen über das Down-Syndrom hinaus auf Behinderungen und chronische Erkrankungen (11). Es geht um einen verstehenden Umgang mit Entwicklungskrisen sowie Verhaltensweisen und Symptomen, welche die Entwicklung beeinträchtigen, unter Berücksichtigung der zugrunde liegenden bewussten und unbewussten psychischen Dynamik (11, 12). Menschen mit Down-Syndrom verfügten ‚meist nicht über die gleichen Bewältigungsstrategien und benötigen Bezugspersonen, die sie sprachlich und emotional unterstützen‘ (13). Es werden keine Rezepte geliefert, sondern zu einem verstehenden Umgang angeregt (13).

Autorin

Dr. phil. Karin Lebersorger ist Psychologin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und Supervisorin. Im selben Verlag sind von der Autorin bereits Werke zu den Themen Down-Syndrom (2023) und Kinderwunschbehandlung (2022) erschienen.

Entstehungshintergrund

Lebersorger möchte dazu beitragen, dass Menschen mit Down-Syndrom sowie ihre Familien ‚in seelischen Nöten verstanden werden‘ (11). Das Buch habe sich aus der Praxis für die Praxis entwickelt und richte sich ‚an alle, die professionell in unterschiedlichen Kontexten mit Menschen mit Down-Syndrom befasst sind, aber auch an interessierte Eltern und Bezugspersonen‘. Ihr Buch richte sich vor allem an Professionelle aus den Bereichen Psychologie und Psychotherapie, ‚verbunden mit der Ermutigung, Menschen mit Down-Syndrom bei psychischen Problemen Behandlung zukommen zu lassen‘ (149). Lebersorger stellt hier ihre Erkenntnisse aus jahrzehntelanger Berufserfahrung in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung sowie mit Menschen mit Down-Syndrom dar.

Aufbau und Inhalt

Nach Lebesorger hätten Menschen mit Down-Syndrom ‚die gleichen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen […] wie ihre Altersgenossinnen und Altersgenossen‘ (13) und der Aufbau des Buches orientiere sich ‚an phasenspezifischen Entwicklungszielen und den Schwierigkeiten, sie zu erreichen‘ (13, mit Verweis auf Erikson). Nach einer Einführung folgen sieben Kapitel jeweils zum verstehenden Umgang mit dem potenziell krisenhaften Beginn (Kapitel 1), mit den Folgen medizinischer Traumatisierung (Kapitel 2), mit dem Autonomiekonflikt (Kapitel 3), mit Essstörungen (Kapitel 4), mit Phantasiegestalten und magischem Denken (Kapitel 5), mit Identitätsdiffusion (Kapitel 6) sowie mit Isolierung und Stagnation (Kapitel 7). Abgeschlossen wird das Werk mit einem Ausblick, Literatur- sowie Stichwortverzeichnis und schließlich einer Danksagung.

In ihrer Einführung geht Lebersorger auf den Entstehungshintergrund, die behandelte Thematik sowie auf den Aufbau ihres zweiten Buches für Menschen mit Down-Syndrom ein (11). Es geht um Erschütterungen zu Beginn des Lebens und in der Säuglingszeit, mit Auswirkungen ins Erwachsenenalter, Entwicklungsverzögerungen und einer erschwerten Autonomieentwicklung (13). Eine fehlende Auseinandersetzung und eine Vermeidung von altersgemäßer Sexualaufklärung erschwerten die Identitätsfindung und Teilhabe (13, 14). Viele Probleme in der Pubertät und Adoleszenz entstünden durch eine Regression auf infantile Entwicklungsstufen oder durch unverarbeitete Erlebnisse wie Traumatisierungen oder Trennungserfahrungen (14). Unerwünschte Verhaltensweisen und spezifische Symptome wie Trotz, Verweigerung, Zwanghaftigkeit, Selbstgespräche und Adipositas würden als kreative Leistungen der Psyche aufgefasst, die es zu verstehen gelte (14, mit Verweis auf Klitzing). Lebersorger beschreibt ihre klinischen Erfahrungen mit Menschen mit Down-Syndrom und geht auf eine Spezialambulanz für Menschen mit Down-Syndrom ein, die 2006 in Österreich eröffnet wurde (14).

Anfangs wird auf den verstehenden Umgang mit dem potenziell krisenhaftem Beginn eingegangen (Kapitel 1). Die Geburt eines Kindes mit Behinderung stelle für viele Eltern eine tiefe narzisstische Kränkung dar, mit Phantasien über den Grund der Behinderung (19). Prä- und postnatale interdisziplinäre Beratung ermöglichen eine rationale und emotionale Auseinandersetzung (20). Beratung entlaste durch die Funktion des Haltens und des Aufnehmens und Verarbeitens (21, mit Verweis auf Winnicott sowie auf Bion). Eine unbeschwerte emotionale Entwicklung sei möglich, wenn es gelänge, ‚die Bedeutung früher Belastungen anzuerkennen, zu verstehen und sie in die Lebensgeschichte des Kindes und die Familiengeschichte zu integrieren‘ (22). Die Diagnosestellung bzw. die Diskrepanz zwischen dem realen und dem imaginären Kind sei eine Extremerfahrung für die Eltern (22). Eltern werden in der (nicht-invasiven) Pränataldiagnostik vor existenzielle Entscheidungen gestellt, etwa bezüglich der Fortsetzung der Schwangerschaft (23). Sie würden die Down-Syndrom Ambulanz unter großem innerem Druck kontaktieren, weshalb zeitnahe Termine essenziell seien (24). Eltern könnten ihr Kind leichter annehmen, wenn bereits Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gemacht wurden, weshalb Lebesorger für eine qualitativ hochwertige Inklusion gemäß UN-Behindertenrechtskonvention plädiert (24). Die psychologisch-psychotherapeutische Begleitung während der Schwangerschaft ermögliche, gemeinsam auch scham- und schuldbesetzte Gedanken auszusprechen und auszuhalten (25). Anschließend liefert Lebersorger ein Fallbeispiel zur Pränatalberatung (25). Auch eine postnatale Diagnosestellung würde Eltern in Gefühlsabgründe stürzen, insbesondere bei vorangegangener Kinderwunschbehandlung (26). Ihnen werde ermöglicht, dass ‚sie ihr Kind innig lieben und gleichzeitig den Verlust ihres imaginären Kindes betrauern können‘ (26). Es folgt wiederum ein Fallbeispiel zur postnatalen Beratung (27). Die Erstberatung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter behandelt verschiedene Anliegen von medizinischen Fragen bis zu schweren psychischen Symptomen (29). Den Rahmen der Ambulanzarbeit bilden nach Lebersorger Begrüßen, Vorstellen und Vermitteln, was die Ambulanz tut und warum die Familie die Ambulanz aufsucht (31). Gelänge es nicht, die Betroffenen aktiv in die Gespräche mit einzubeziehen, würde im Verlauf der Inhalt in einfachen Worten zusammengefasst (31).

Im nächsten Kapitel wird der verstehende Umgang mit den Folgen medizinischer Traumatisierung behandelt (Kapitel 2). Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen stellten für Menschen mit Down-Syndrom eine lebenslange Herausforderung dar (33). Im Säuglings- und Kleinkindalter benötigten einige neonatologische oder onkologische Behandlungen und operative Korrekturen von Fehlbildungen des Herzens oder des Gastrointestinaltrakts (mit Verweis auf Bull, auf Hammersen und auf Hickey und Kollegen). Medizinische Behandlungen könnten traumatisch wirken und Menschen mit Down-Syndrom seien häufiger betroffen als die Allgemeinbevölkerung. Die meist invasiven Maßnahmen hätten traumatisches Potenzial und könnten unverarbeitet das Erleben und Verhalten bis ins Erwachsenenalter beeinflussen (34, mit Verweis auf Besser). Zur medizinischen Traumatisierung von Babys mit Down-Syndrom weist Lebersorger darauf hin, dass zwar keine bewussten Erinnerungen an die früheste Lebenszeit bestehe, jedoch alle Erfahrungen im vorsprachlichen Alter im prozeduralen Gedächtnis gespeichert würden (35, mit Verweis auf Burchartz). Es sei wichtig, Babys von Anfang an auf Untersuchungen, Impfungen oder Operationen vorzubereiten, ‚die schmerzhaften Erlebnisse schon im Vorfeld anzukündigen, sie dadurch zu markieren, und im Nachhinein darüber zu sprechen, dass sie kurz schmerzten, aber jetzt vorbei seien‘ (36). Gelänge es nicht, sie später in die persönliche Lebensgeschichte einzubauen, wirkten sie traumatisierend. Traumatisierende Erlebnisse in der oralen Phase könnten in Fütterungsstörungen, Nahrungsverweigerung oder auch Essstörungen münden (36, 37). Auch für Eltern seien verschiedene medizinische Maßnahmen potenziell traumatisch (37, mit Verweis u.a. auf Ahlheim & Israel), etwa die Operation am offenen Herzen des Kindes. Den Eltern stünden kognitive Verarbeitungsmechanismen zur Verfügung und in der Beratung würde die Haltefunktion für psychisch Unerträgliches geleistet (38). Im Folgenden wird ein prägnantes Fallbeispiel zur Operation am offenen Herzen geliefert. Die verinnerlichten traumatischen Erfahrungen würden sich zeigen, ‚wenn sich Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene heftig gegen die regelmäßig indizierten Vorsorgeuntersuchungen, vor allem gegen Blutabnahmen, wehren‘ (40). Manche Kinder würden sich sogar gegen das Schneiden der Harre oder der Nägel, oder auch gegen das Haare waschen wehren. Auch u.a. bei der Weigerung, Jacken auszuziehen, sieht Lebersorger eine Verbindung zu frühester medizinischer Traumatisierung und keine für das Down-Syndrom spezifische Persönlichkeitsmerkmale (41). Psychodynamisch gehe es bei diesem Verhalten um den Schutz vor weiteren Verletzungen (mit Verweis auf Gaensbauer). Ein konträres Verhalten, um medizinische Traumatisierung zu verarbeiten, bestehe darin, z.B. die Behandlung aktiv einzufordern oder Narben vorzuzeigen, was ein wichtiger Abwehrmechanismus ist, der nach traumatischen Erfahrungen anzutreffen sei (42). Dazu folgt ein Fallbeispiel und Lebersorger führt anschließend aus, wie Eltern über überwältigende medizinische Maßnahmen zu einem Zeitpunkt sprechen, ‚an dem sich eine Verbindung zu diesen psychisch unrepräsentierten Zuständen herstellen lässt‘ (44). Die Autorin liefert ein Fallbeispiel zu Reizen, die Eltern triggern (46) und sie geht auf die spielerische Verarbeitung mit einem Doktorkoffer ein (47). Lebersorger geht auf die präventive Beratung ein (47, 48) und schließt das Kapitel mit Fallbeispielen zur Wirkung altersgemäßer Vorbereitung (49, 50), zur Umkehr von passiv Erlebtem in aktives Re-Inszenieren (51-54) sowie zur Wirkung später Verbindungen (55-58).

Anschließend wird auf den verstehenden Umgang mit dem Autonomiekonflikt eingegangen (Kapitel 3). Für Menschen mit Down-Syndrom sei es schwieriger, ‚ein Grundgefühl von Autonomie zu verinnerlichen, das Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit umfasst‘ (59). Um Kleinkindern mit Down-Syndrom Erfahrungen der Selbstbestimmtheit zu ermöglichen, eigneten sich ‚Essens- und Spielsituationen, in denen das Kind ermutigt wird, Entscheidungen zu treffen‘ (61). So würden die Eltern ihre Kinder auf eine ‚assistierte Autonomie‘ (62, mit Verweis auf Graumann) vorbereiten. Die häufig gezeigte Verweigerungshaltung von Menschen mit Down-Syndrom sei ‚Ausdruck eines Ringens um Autonomie und kein syndromspezifischer Charakterzug‘ (62). Aber auch ein penibles Kontrollverhalten würde auf einen Autonomiekonflikt und auf unbewusste Ängste hinweisen (63). Menschen mit Down-Syndrom benötigten ‚gezielte und wiederholte Vorbereitung auf Veränderungen‘ (63), da sie meist nicht mitentscheiden und mitgestalten könnten. Lebersorger liefert Fallbeispiele zum Autonomiekonflikt und Spannungsabfuhr (64-66), zu fehlender Triangulierung (66-68), zum Weglaufen und zum Rückzug (68, 69) sowie zum Weglaufen nach dem Wegfall außerhäuserlicher Kontakte (69-71). Abschließend geht Lebersorger auf die Verbindung von Autonomie und Ausscheidung ein und liefert Fallbeispiele zur anal-urethralen Aggression (72-74) und zum Stuhlverhalten (75, 76).

Daraufhin wird der verstehende Umgang mit Essstörungen behandelt (Kapitel 4). 50 Prozent aller Erwachsenen mit Down-Syndrom seien adipös und 25 Prozent bereits in der Kindheit (77, mit Verweis auf u.a. Bull). Sondenernährung und Intubationen in den ersten Lebenswochen und -monaten führten bei manchen Babys zu Essproblemen (79). Aber auch im späteren Leben erforderten die syndromspezifischen körperlichen Besonderheiten einen bewussten Umgang mit Ernährung, aufgrund eines verringerten Ruheenergieumsatzes (81). Häufig würde während pubertärer und adoleszenter Veränderungen eine ‚Regression auf den oralen Modus der Selbstregulation und des Lustgewinns‘ (81) beobachtet, aufgrund einer defizitären kognitiv-emotionalen Verarbeitung. Es folgt ein Fallbeispiel zu Lust und Spannungsabfuhr durch orale Genüsse (84-87). Daraufhin führt Lebersorger aus, dass es darum gehe, ‚das Essen durch andere lustvolle Betätigungen und Erlebnisse zu ersetzen‘ (87). Abgeschlossen wird das Kapitel mit Fallbeispielen zur Trauer durch Verweigerung und Regression (88-91) und zu oraler Aggression (92, 93).

Es folgt ein Kapitel zum verstehenden Umgang mit Phantasiegestalten und magischem Denken (Kapitel 5). Manche Menschen mit Down-Syndrom führten ab dem Schulalter laute Gespräche mit Puppen, Stofftieren oder Phantasiegestalten oder sie berichteten imaginierte Erlebnisse (95). Phantasiegestalten dienten der Stärkung von Kindern und der Identitätsfindung bei Jugendlichen, alle Kinder befänden sich bis zum 6ten oder 7ten Lebensjahr in der Phase des magischen Denkens (95, mit Verweis auf Fraiberg). Mit der Fähigkeit zu konkreten Denkoperationen trete die magische Welterfassung in den Hintergrund (97, mit Verweis auf u.a. Diem-Wille), Reste blieben jedoch zeitlebens bestehen. Eine Externalisierung von unerwünschten Inhalten anhand von Phantasiegestalten finde sich bei Kindern mit Down-Syndrom ‚noch bis ins Erwachsenenalter, wenn die adoleszente Fähigkeit, logisch-abstrakt zu denken, nicht verspätet oder nur punktuell erreicht wird‘ (97). Die Autorin liefert auch hier interessante Fallbeispiele zur Externalisierung von Unangenehmem in eine Phantasiefreundin (100) und zur Flucht in Phantasiewelten (101, 102).

Im Anschluss wird der verstehende Umgang mit Identitätsdiffusion behandelt (Kapitel 6). Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der Herkunftsfamilie sei für die Entwicklung der eigenen Identität unerlässlich (104, mit Verweis auf Erikson). Kinder mit Down-Syndrom pubertierten im selben Alter wie Gleichaltrige, doch die Kluft zur geistig-emotionalen Reife sei so groß, dass der Prozess der Identitätsfindung später beginne. Bei Jugendlichen mit Down-Syndrom seien Regression und Verweigerung häufig besonders ausgeprägt (104). Die inneren Monologe würden von Adoleszenten mit Down-Syndrom oft in Form lauter Selbstgespräche geführt, was wiederum ein dem Entwicklungsstand entsprechendes, sinnvolles Verhalten darstelle (105). Lebersorger erachtet in keiner anderen Entwicklungsphase ‚den Kontakt mit anderen Jugendlichen mit Down-Syndrom so essenziell wie in der Adoleszenz‘ (105). Idealerweise würde jedem Kind eine positive Beziehung zum Körper und ein altersgemäßes Verständnis von Sexualität vermittelt (107). Erfolgte keine Aufklärung, würden diesbezügliche Fragen ‚oft in Form von Handlungssprache durch sexualisiertes Verhalten gestellt‘ (108), auch grenzverletzendes Verhalten trete auf (109). Für die meisten Jugendlichen mit Down-Syndrom bestünden viel zu wenige Möglichkeiten zum Ausprobieren und Sammeln von Erfahrungen. Für die Eltern sei der Bereich Sexualität und Fortpflanzung emotional besonders herausfordernd (110). Neben der sexuellen Aufklärung erachtet Lebersorger die Auseinandersetzung mit dem Verliebt-Sein als wichtig, viele Jugendliche und Erwachsene mit Down-Syndrom würden Zurückweisungen oft damit in Verbindung bringen, ‚mit Down-Syndrom nicht liebenswert zu sein‘ (110). Es folgt ein Fallbeispiel zu sexualisiertem Verhalten (111). Viele Menschen mit Down-Syndrom würden tagträumen und mitunter jegliche Realitätsprüfung von sich weisen, sich zurückziehen, Selbstgespräche führen (112,113). Vor der Vorstellung in der Down-Syndrom Ambulanz würden vielfach Professionelle der Allgemeinmedizin oder der Psychiatrie aufgesucht, wo eine Psychose diagnostiziert und medikamentös behandelt wird, somit ‚wird das veränderte Verhalten als psychiatrische Erkrankung und nicht als reparativer Versuch der Psyche im Zustand adoleszenter Verwirrung verstanden‘ (113, mit Verweis auf Heinemann). Im Weiteren geht die Autorin auf die Auseinandersetzung mit dem Down-Syndrom innerhalb der Familie ein (114,115) und liefert Fallbeispiele zur Identitätssuche (116-119), zur Selbstverwerfung (120-122), zum Streben nach Perfektion (123), zur Abfuhr von Anspannung und Erregung (124, 125), und schließlich zu adoleszenter Selbst- und Fremdaggression (126, 127).

Im letzten Kapitel wird der verstehende Umgang mit Isolierung und Stagnation besprochen (Kapitel 7). Für viele Menschen mit Down-Syndrom stellt das Erwachsenenleben bzw. die Ablösung vom Elternhaus, Partnerschaft, Verantwortung und Unabhängigkeit eine besondere Herausforderung dar (129). Lebersorger stellt fest: ‚Trotz ihrer in der UN-Behindertenrechtskonvention verbürgten Rechte finden ihre diesbezüglichen Bedürfnisse in den Familien sowie gesundheits-, sozial-, sowie gesellschaftspolitisch zu wenig Anerkennung und Unterstützung‘ (129). Die eigene Identität und ein Grundgefühl von Autonomie befähigten ‚zu Intimität und Generativität, den Entwicklungszielen erwachsener Menschen‘ (129, mit Verweis auf Erikson). Bei Erwachsenen mit Down-Syndrom, die in der Down-Syndrom Ambulanz vorstellig werden, ‚sind zumeist bereits die Entwicklungsziele vor dem Übergang ins Erwachsenenalter nicht oder nicht ausreichend erreicht worden, sodass die Psyche nicht darauf aufbauen kann‘ (130). Es zeige sich teils internalisierendes, teils externalisierendes Verhalten. Eine Stagnation würde durch eine Kumulation unbewältigter Lebensereignisse ausgelöst, weshalb eine ausführliche Anamnese notwendig sei, was sich als schwierig erweise (130). Ein weiterer Vorstellungsgrund beziehe sich auf die Bereiche Beziehung und Arbeit (131). Für die meisten Eltern sei es schwierig, ihr Kind als sexuelles Wesen mit sexuellen Bedürfnissen zu sehen, und die Vorstellung von Behinderung und Sexualität sei immer noch viel zu wenig akzeptiert. Dazu gehöre auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Fruchtbarkeit und dem Kinderwunsch, wobei Frauen mit Down-Syndrom fortpflanzungsfähig seien, viele Männer mit Down-Syndrom müssten sich mit ihrer Infertilität auseinandersetzen (132, mit Verweis auf Levin und Kollegen sowie auf Parizot und Kollegen). Die meisten jungen Erwachsenen mit Down-Syndrom verfügten aufgrund ihres kognitiven Entwicklungsniveaus nicht über genügend Elternschaftskompetenz (133) und es gebe diesbezüglich kaum institutionelle Unterstützung (134). Lebersorger liefert Fallbeispiele zum Kinderwunsch (135-137), zu nicht erwiderter Verliebtheit (137-139), zur Dynamik aggressiven Verhaltens (139-141), zur misslungenen Ablösung (141, 142), und zur Externalisierung von Ängsten und Schuld (142, 143).

In einem abschließenden Ausblick weist Lebersorger darauf hin, dass sich seit den mörderischen Zeiten des Nationalsozialismus vieles zum Positiven verändert habe (145, mit Verweis auf Körner, auf Niedecken und auf Weindling) und Menschen mit Down-Syndrom gesund und unversehrt aufwachsen könnten. Allerdings seien die Rechte von Menschen mit Down-Syndrom in vielen Bereichen noch nicht vollumfänglich umgesetzt (146). In den zahlreichen frühen Abbrüchen sowie in den Spätabbrüchen zeige sich eine ‚moderne Form der Eugenik‘ (146). Lebersorger benennt einige notwendige Veränderungen (147, 148) und bemerkt seit der Jahrtausendwende ‚in den letzten Jahren einen Rückschritt, verbunden mit Verknappung der Ressourcen in allen Bereichen‘ (148).

Diskussion

Lebersorger liefert ein sehr gelungenes Praxisbuch über die möglichen Entwicklungskrisen, die in der gesamten Lebensspanne bei Menschen mit Down-Syndrom auftreten können. Entsprechend überzeugend ist der Aufbau des Buches, bei dem jedes Kapitel bestimmten Entwicklungszielen einer jeden Lebensphase gewidmet ist. Die einzelnen Kapitel werden jeweils mit einem eindrucksvollen Zitat oder Gedicht eingeleitet, gefolgt von der Darstellung bestimmter Entwicklungsziele, die immer auch Bezug zu normgerechten Entwicklungsverläufen herstellen lassen. Lebersorger zeigt hier eine besondere Feinfühligkeit in den Falldarstellungen und u.a. im Umgang mit Bezugspersonen, aber auch eine angemessene Klarheit, was die politischen und gesellschaftlichen Bedingungen für Menschen mit Behinderung betrifft.

Fazit

Ein sehr empfehlenswertes Praxisbuch zu einem verstehenden Umgang mit Entwicklungskrisen in jeder Lebensphase von Menschen mit Down-Syndrom, geeignet für Bezugspersonen sowie Angehörige verschiedenster betroffener Professionen, insbesondere der Psychologie und Psychotherapie.

Rezension von
Dr. Philipp Thaler
Pädagoge an der Frühförderung Kinderhilfe Treuchtlingen / Verein für Menschen mit Körperbehinderung Nürnberg e.V., in Ausbildung zum psychologischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten am IVS in Fürth.
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Es gibt 14 Rezensionen von Philipp Thaler.

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ISSN 2190-9245