Antonio Scurati: Faschismus und Populismus
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 05.11.2024
Antonio Scurati: Faschismus und Populismus. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 112 Seiten. ISBN 978-3-7681-9861-5. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR.
Thema
Faschistische Aufmärsche, Rassismus und Gewalt gegen Geflüchtete sind immer mehr an der Tagesordnung. So sehr diese Phänomene erschrecken, seien sie aber weniger gefährlich als die weniger offensichtlichen, so Antonio Scurati. Vielmehr schaden die Akteure den Demokratien, die populistisch auftreten. Sie reduzieren das politische Leben auf Gefühle, vor allem Angst und Groll, und vereinfachen die komplexe Realität demokratischer Gesellschaften. Dabei folgen sie bewusst oder unbewusst dem Führungsstil Benito Mussolinis. Warum und wie dieser Stil extremen Kräften den Weg bereitet, erläutert Scurati in seinem Essay.
Autor
Antonio Scurati, 1969 in Neapel geboren, ist Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Mailand und schreibt für die Zeitungen Corriere della Sera und El País. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt und wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Premio Mondello und dem Premio Campiello. Sein großes Romanprojekt zum Aufstieg des Faschismus in Europa machte ihn international berühmt. Alle drei erschienenen Bücher standen auf Platz eins der italienischen Bestsellerliste. Für „M. Der Sohn des Jahrhunderts“ erhielt den wichtigsten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega; „M. Der Mann der Vorsehung“ wurde mit dem Prix du Livre Européen ausgezeichnet. Der Text geht auf einen Vortrag zurück, den er im September 2022 in der Schweiz gehalten hat.
Aufbau und Inhalt
In drei Teilen nimmt Antonio Scurati seine Leser:innen auf eine Reise durch die Geschichte des italienischen Faschismus, des Populismus und der Demokratie, um so einen Bogen zu spannen, dass heutige populistische Parteien ein Erbe des ‚Duce‘ Benito Mussolini angetreten haben, aber auf eine ganz andere Zeit als jener vor rund 100 Jahren treffen. Die Frage, wieso das so ist, beantwortet der Autor deutlich: Weil die Italiener:innen den Faschismus, der in Italien sozusagen erfunden wurde, immer nur aus der Opferrolle betrachten, sich aber nie als Teil dieser Geschichte sehen: Ein Begriff für Vergangenheitsbewältigung gibt es im Italienischen nicht einmal. Scurati beschreibt auch die außerordentliche Anpassungsfähigkeit des italienischen Faschismus, unter anderem geht es um Mussolinis Talent, Sprache zu Slogans zu verkürzen, stets passende Sündenböcke ausfindig zu machen und die Gesellschaft auf unauffällige Art zu lenken und schlägt so die Brücke zum Populismus des 21. Jahrhunderts. Dass der es ist, der es nötig macht, dass die Menschen, die im Schatten des Antifaschismus aufgewachsen sind, nun anfangen müssen, das Erbe ihrer Eltern und Großeltern zu hegen und zu pflegen, um deren antifaschistischen Bemühungen auf die Dauer nicht zu untergraben. „Wir müssen den Kampf wieder aufnehmen“ (S. 86) ruft er den Leser:innen zu, man müsse ein aktiver Teil der Geschichte, der Demokratie werden. Es gehe nicht mehr um Ideologien, sondern um das große Ganze. Und dafür bemüht er einen Vergleich, der so einprägsam, so schön und so wahr ist, dass er an dieser Stelle in fast kompletter Gänze zitiert werden soll (S. 87 f.): „Als einen Baum mit hohem Stamm, so stellen wir uns gewöhnlich die Demokratie vor. Wir stellen sie uns als eine Eiche, eine Pinie oder eine Pappel vor. Deswegen lassen wir uns auch zu dem Gedanken verleiten, dass nur die Axt oder der Blitz sie fällen kann. Aber die Demokratie ähnelt mehr dem Rebstock, der ständig kundige Pflege, Liebe und Hingabe (…) Dies erfordert tägliche Arbeit: Die Arbeit eines Lebens. Erst durch sie wird die empfindliche und wunderbare Pflanze der Demokratie ihren süßen, berauschenden Wein spenden“.
Diskussion
Auch wenn der Fokus auf dem italienischen Rechtspopulismus liegt, ist doch auch vieles in diesem fesselnden Essay übertragbar auf andere Länder der Welt wie die USA, Frankreich oder auch Deutschland, in denen Populisten schier unglaublich einfache Lösungen für jedes noch so komplexe Problem liefern – und dabei ist es völlig egal, an welchem Rand des politischen Spektrums diese Kräfte zu verorten sind. Wo deren Gefährlichkeit liegt und wo aber auch nicht, das vermittelt Scurati mit einem feinen Sinn für Sprache. Einer Sprache, die niemals grob ist, die sich aber wie eine innere Stimme im Gedächtnis der Leser:innen festsetzt. Da redet kein:e Politiker:in, da redet jemand, dessen Beruf es ist, mit Worten Bildern in den Köpfen der Menschen zu schaffen; dessen Beruf es ist, zum Nachdenken anzuregen. Und das ist auch die große Stärke dieses Essays – den Finger in die Wunde legen, klare Kanten beziehen, aber trotzdem nicht das Ende der Demokratie beschwören. Demokratie ist, das wird nach dieser Lektüre klar und deutlich kein Wellnesstempel, sondern harte Arbeit. Aber die lohnt sich! Wie dieses Büchlein!
Fazit
Es besteht Hoffnung, das ist am Ende von Antonio Scuratis Essay klar: Die Demokratie ist kein innen hohler Baum, den ein Blitz mal so einfach umwerfen kann. Vielmehr ist sie ein Rebstock, den man hegen und pflegen muss – und das erfordert tägliche Arbeit.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 05.11.2024 zu:
Antonio Scurati: Faschismus und Populismus. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-7681-9861-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32238.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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