Nicole Strüber: Unser soziales Gehirn
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 30.10.2024

Nicole Strüber: Unser soziales Gehirn. Warum wir mehr Miteinander brauchen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 352 Seiten. ISBN 978-3-608-96621-3. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Die Neurobiologin Nicole Strüber erklärt die erstaunlichen Prozesse unseres Gehirns und verdeutlicht, warum Nähe zu anderen Menschen so wichtig ist. Denn ein geregeltes und erfülltes Miteinander nimmt immer weniger Raum in unserem Alltag ein – dies wiederum gefährdet unsere körperliche und psychische Gesundheit.
Herausgeber:in
Dr. Nicole Strüber ist Neurobiologin. Sie ist als Wissenschaftsautorin und Referentin im Rahmen von Vorträgen und Seminaren tätig. Zusammen mit Gerhard Roth veröffentlichte sie das erfolgreiche Sachbuch »Wie das Gehirn die Seele macht«. 2016 erschien ihr Buch »Die erste Bindung«, 2019 ihr Buch »Risiko Kindheit«.
Inhalt
Wir erleben es überall: Kinder in unzureichend betreuten Kitagruppen, auf Effizienz getrimmtes Familienleben,WhatsApp-Nachrichten statt spontanem Besuch, Videokonferenz statt persönlicher Besprechung, mit Stoppuhr ablaufende Arzttermine und Pflegebehandlungen – wir verbringen immer weniger Zeit in einem wirklichen Miteinander. Unser Gehirn benötigt diesen Austausch jedoch. Wir synchronisieren uns, und es werden Botenstoffe wie Oxytocin ausgeschüttet. All dies fördert unsere Entspannung, unsere Gesundheit, unsere Bereitschaft zu Veränderung, unsere Empathie und unser Vertrauen in andere. Und es lässt uns im Miteinander andere verstehen und mit ihnen kooperieren. „Miteinander fördert Miteinander: Let's snyc!“ ist das Motto dieses Buches.
Im ersten Teil steht die Suche nach Antworten auf die Frage „Warum das Gehirn Miteinander braucht“, im Fokus. Dafür geht es zunächst um die Biochemie des Miteinanders, bevor die Autorin erklärt, wie es Menschen gelingt, sich zu synchronisieren und wozu das wichtig ist. Im weiteren Verlauf setzt sich Nicole Strüber dann damit auseinander, welche Bedeutung die unterschiedlichen Persönlichkeiten von Menschen beim gemeinsamen Miteinander haben. Eine Ursache dafür liegt zum Beispiel in unterschiedlich ausgeprägten Oxytocinfreisetzungen oder unterschiedlichen Bindungsmodellen, die wir im Rahmen unserer Entwicklung von frühester Kindheit an entwickeln. Es folgen Kapitel, in denen es um Empathie, Regulation und Berührungen und deren Bedeutungen in der sozialen Interaktion geht. So erfahren die Leser:innen auch, dass Oxytocin sogar Einfluss auf die Gesundheit haben kann.
Wo das Gehirn das Miteinander braucht, ist das Thema des zweiten Teils. Dabei untersucht Nicole Strüber verschiedene Lebensphasen und deren Bedeutung in diesem Zusammenhang. Von der Geburt über das Miteinander in der Familie sowie der Bedeutung von Krippe, Kita, Schule und Jugendhilfe für das Miteinander bis hin zum Miteinander in Partnerschaften, Freundschaften und unter Kolleg:innen beschreibt die Autorin die Ist-Situation und entwickelt daraus Antworten auf die Frage, was im jeweiligen Zusammenhang zu tun ist, damit für das soziale Gehirn das Optimale herausgeholt werden kann. Das wird auch für das Miteinander der Kulturen, medizinische und therapeutische sowie pflegerische Beziehungen beleuchtet. Den Abschluss bildet eine Bestandsaufnahme, warum wir mehr Miteinander und weniger Nebeneinander brauchen.
Diskussion
Wer bereits Bücher von Nicole Strüber gelesen hat, der wird auch in ihrem neuen Buch eine gut lesbare, wissenschaftlich fundierte und für den Alltag aufbereitete Lektüre finden. Es ist genau diese Mischung, die ihre Titel so erfolgreich macht. Denn es gelingt der absoluten Fachfrau exzellent, die Leser:innen mitzunehmen auf eine faszinierende Reise durch die menschliche Psyche und ihre Funktionsweisen. Das ist auch hier nicht anders. Wer mit dem Lesen startet, wird sich schnell fragen, warum es nicht auch früher in der Schule gelingen konnte, komplexe Vorgänge im menschlichen Körper so praxisnah und anschaulich darzustellen, wie es Nicole Strüber gelingt. Da langweilt selbst die Einführung in die Biochemie der menschlichen Interaktion keine Minute und macht Lust auf mehr. Woran das liegt? Nicole Strüber erliegt an keiner Stelle der Versuchung, ins Dozieren zu geraten, um die Leser:innen an ihrem Wissen teilhaben zu lassen. Stattdessen gelingt es ihr, ihre Faszination für die Thematik mit dem Wunsch, diese mit anderen Menschen zu teilen, in gut lesbare Worte zu fassen. So werden Wissenschaft und Forschung nahbar. Und so ist dieses ein wichtiger Baustein, um zu verstehen, warum der Mensch letztlich vor allem ein Herdentier ist.
Fazit
Nicole Strüber vereint neuestes Forschungswissen mit der aktuellen Situation – und fordert ein politisches und gesellschaftliches Umdenken.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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