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Martin Lüdemann, Markus G. Feil et al. (Hrsg.): Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung

Rezensiert von Uwe Kowalzik, 25.09.2024

Cover Martin Lüdemann, Markus G. Feil et al. (Hrsg.): Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung ISBN 978-3-8379-3281-2

Martin Lüdemann, Markus G. Feil, Celina Rodriguez Drescher (Hrsg.): Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung – Konzepte und Anwendungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 290 Seiten. ISBN 978-3-8379-3281-2. D: 32,90 EUR, A: 33,90 EUR.
Reihe: Therapie & Beratung.

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Herausgeber:innen

Martin Lüdemann, Dr., ist Organisationspsychologe und seit 30 Jahren als Psychologe und Supervisor tätig. Er arbeitet mit Gruppen, Einzelpersonen, hauptsächlich in Organisationen der Wirtschaft, aber auch im Non-Profit-Bereich. Er absolvierte u.a. Weiterbildungen in Supervision, Coaching, Gruppenanalyse, systemischer Beratung u.a.

Markus G. Feil, Dr., ist Psychologe, Sexualwissenschaftler, Psychoanalytiker. Er absolvierte Ausbildungen zum systemisch-psychodynamischen Business-Coach und psychodynamischen Organisationsberater. Arbeitsschwerpunkte sind Forensik und der Aufbau einer psychotherapeutischen Fachambulanz für Gewalt- und Sexualstraftäter.

Celina Rodriguez Drescher, Dr., ist Diplompsychologin und Romanistin M.A., hat einen Master in Organisationsberatung (Univ. East London und Tavistock Institute), ist Business Coach und systemisch-psychodynamische Beraterin. Sie berät, supervidiert und coacht im Profit wie im Non-Profit-Bereich.

Zu den Herausgeber:innen und den weiteren Autor:innen finden sich im Buch ausführliche biografische Notizen.

Entstehungshintergrund

Verglichen mit dem Kreis der sich auf die angewandte Psychoanalyse berufenden Berater nehmen systemische und kognitionspsychologische Methoden und Konzepte auf dem Beratungsmarkt quantitativ eine Vorrangstellung ein. Psychodynamische Beratungsmethoden finden sich in Vielfalt und Komplexität als Gruppensupervision, Team- und Organisationsentwicklung, Führungskräftecoaching oder Großgruppensupervision.

Die elf Autor:innen verbinden unterschiedliche Bezüge zur systemisch-psychodynamischen Tradition des Tavistock-Modells, dessen Geburtswehen, wie -stunde in die 1920er Jahre datieren. Als Wurzel aller dem systemisch-psychodynamischen Konzept sich verpflichtenden Autor:innen wird die Arbeit mit Gruppen und das Group-Relations-Konzept genannt. Dies geschieht insbesondere unter Bezug auf W. Bion und zusätzlich S.H. Foulkes und K. Lewin. Alle drei haben den Menschen immer als in vernetzte Bezüge eingebunden gesehen und beschrieben. Die Autor:innen stellen nun mit dem vorliegenden Werk die Aktualität und Nützlichkeit des Konzeptes für verschiedene Bereiche der Wirtschaft, des Bildungssektors und der psychosozialen Arbeit heraus.

Das Buch liefert zentrale Konzeptelemente des psychodynamischen Ansatzes, wozu die Idee des assoziativen Unbewussten, der psychosozialen Angstabwehr, der projektiven Identifikation, des Containments oder der „Organisation-in-the-mind“ gehören. Erstmals in Deutschland werden hier die zugrunde liegenden Theorien und Konzepte systematisch und zusammenhängend dargestellt. Dazu der Umschlagtext: „Die systemisch-psychodynamische Organisationsberatung bietet hochrelevante Konzepte und Anwendungen für die heutige Arbeitswelt. Der hier vorgestellte Ansatz integriert systemische, psychodynamische und gruppenanalytische Perspektiven und fokussiert auf unbewusstes Gruppengeschehen.“

Aufbau und Inhalt

Nach Geleitworten namhafter Vertreter:innen psychoanalytisch begründeter Beratung und einer Einführung der drei Herausgeber:innen folgen zehn Kapitel, die übersichtlich strukturiert und fast durchweg mit ausführlich beschriebenen Fallbespielen aus der Beratungspraxis des jeweiligen Autors, der jeweiligen Autorin angereichert sind.

Da ich den ersten Beitrag als grundlegend für die Entstehungshistorie und der Annäherung an eine Definition der systemisch-psychodynamischen Beratung erachte, ist er ausführlicher:

Martin Lüdemann entfaltet in seinem Startkapitel „Die Wurzeln und die Entwicklung des systemisch-psychodynamischen Ansatzes“ auf der Grundlage seiner subjektiven Erfahrungen und Learning Experiences, ohne einen historischen Forschungsanspruch zu erheben. Von der anfänglich starken Betonung der Interdisziplinarität schlägt sich ein Bogen zu einer „Vielfalt“ von Tavistock-Ansätzen im Heute. Lüdemann konzentriert sich dann auf die Anwendung auf Coaching, Supervision und Organisationsberatung. Sowohl Lewins Feldtheorie als auch Foulkes Konzept der Gruppenmatrix werden ausführlicher erläutert. Zum Prozess einer „permanenten“ Übertragung in menschlichen Beziehungen im Hier und Jetzt werden innere Objektbeziehungen (M. Klein) sozusagen nach außen gebracht, was zu verstehen ist aus „der inneren Attribuierung eigener innerer Objekte“, was wiederum zu „Attribuierung und Verzerrung“ im aktuellen führt (H. Lohmer, 2015). Zu diesem Prozess gesellen sich u.a. Abwehrmechanismen wie Spaltung und Projektive Identifikation.

Lüdemann beschreibt das Systemdenken des Tavistock-Ansatzes, wie es sich auf Austauschprozesse in der Organisation bezieht. Der Tavistock-Ansatz wird im Vergleich zu neueren Systemtheorien als „einfaches Prozessmodell“ ausformuliert, das den Blick des Beraters über die Gruppe hinaus auf das System lenkt. Systemisch bezieht sich demgemäß nicht nur auf das Denken nach den neueren Systemtheorien, sondern auf den gesamten Organismus, also auf das System als Ganzes. Der Autor: „Es ist die Verbindung der Gefühle der beteiligten Personen mit der Organisation und den Aufgaben und die Wirkung der unbewussten Kräfte, die den systemisch-psychodynamischen Ansatz ausmachen.“

Celina Rodriguez-Drescher beschreibt Beratung aus systemisch-psychodynamischer Perspektive“. Vorgestellt werden deren charakteristischen Schlüsselkonzepte. Die erforderlichen spezifischen Kompetenzen der Beratungsperson und die Phasen des Beratungsprozesses werden vorgestellt. Es folgen Ausführungen zu psychoanalytischen Termini, die im Unbewussten wirksam werden, wie Übertragung, Gegenübertragung, Projektive Identifikation. Eine Fallvignette enthält die Beschreibung von Übertragungen, die entsprechende Gegenübertragungsanalyse und die Beschreibung von projektiver Identifikation sowie ihrer Wirkphänomene. Eingegangen wird auf Konzepte wie Containment und Abwehrmechanismen.

Ullrich Beumer leitet sein Thema „Organisations-Rollenanalyse“ von deren Entstehungs-Historie und den Theoriebildungen der Tavistock-Tradition seit den 50er Jahren, verweist dann auf das „Managing-oneself-in-role“ von Gordon Lawrence 1998. Der Begriff der Rolle wird als Ort oder Schnittstelle von Person und Organisation und als Teil psychosozialer Dynamik in Organisationen beschrieben. Ausführlich geht Beumer auf die praktische Anwendung und damit auch den Nutzen der Rollenanalyse für Person und Organisation ein: Rollogramm, Anlässe, Anwendungsformen werden vorgestellt.

Zu „Führung aus systemisch-psychodynamischer Perspektive“ führt Markus G. Feil deren Grundzüge, die auf das Thema Führung entsprechend bezogene Haltung, das Konzept und Aspekte zum praktischen Handeln aus. Er liefert hierzu in einem „theoretisierten Erfahrungsbericht“ Einblicke zur Bedeutung von Emotionen, den Stellenwert psychischer Konflikte, Abwehrmechanismen und Führungshandeln als Containment, was als Container-Contained ausführlicher beschrieben wird. Die Aufgabe von Führung ist dabei, die Voraussetzung für Containing in der Organisation bereitzustellen.

„Neulich in einer Organisation“, so startet in Martin Ringers Beitrag „Die Gruppe als Ganzes“ eine Anekdote aus seiner Beratungspraxis, die veranschaulicht, dass in Gruppen und Teams Situationen aufkommen, in denen deutlich wird, dass es so etwas wie über „mich“ als Einzelperson hinausgehend gibt. Ausgeführt werden die Aspekte des zum Begriff Gruppe als Ganzes dazugehörigen Blickwinkel oder: Was eine Gruppe ausmacht. Dass Gruppen in ihrer eigenen Realität und positive Elemente der Gruppe leben, wird durch empirische Belege für das Phänomen Gruppe als Ganzes gestützt. Auch hier wirken unbewusste Prozesse, die typischen Verhaltensmustern in Gruppen zugrunde liegen.

Dem „Sozialen Unbewussten“ als Thema sich annehmend, erläutert Susan Long grundlegendes und verweist auf zwei Denkströmungen zum Sozialen im Unbewussten: die des Vorhandenseins und die Zwänge sozialer, kultureller und kommunikativer Arrangements gegenüber der traditionellen psychoanalytischen Vorstellung des Unbewussten auf rein individueller Ebene, also im Subjekt. Ferner geht es im Beitrag um das assoziative Unbewusste sowie die Bedeutung des Sozialen Unbewussten für das menschliche Handeln.

Für Rudolf Heltzel ist es der Leitungsstil, der für den Charakter und den Verlauf der Grußgruppe entscheidend ist. Er bezieht dies auf die „Praxeologie gruppenanalytischer Großgruppen in Organisationen“ in Unterscheidung zur analytischen Großgruppe Foulkes'cher Prägung und auch zu Großgruppen, wie es sie als Bestandteil von Group-Relation-Konferenzen nach Tavistock gibt. Gemeint sind eher Großgruppensupervisionen in Organisationen, bei der es interessant ist, auf welche Art und Weise die Leitung zur freien Gruppenkommunikation beitragen kann. Den Ausführungen dazu, dass begrenztes Chaos durchaus von Nutzen sein kann, schließt sich eine entsprechende Fallvignette aus einer Großgruppensupervision an. In Bezug darauf und weiterer konzeptionelle Ausführungen beispielsweise zu W. Bion beantwortet Heltzel die Frage, ob Gruppenanalyse Organisationsberatung kann, mit seinen klaren „Ja“.

Für Christopher Scanlon ist in der Organisationsberatung eine Unterscheidung zwischen systemisch-psychodynamischer und gruppenanalytischer Tradition nicht sinnvoll möglich. Ausgehend von der gruppenanalytischen Grundannahme, dass „alle sozialen Konfigurationen -einschließlich der Organisation der Arbeitswelt- von soziopolitischen Systemen durchdrungen sind, schreibt er von „traumatisierten Organisationen“: Die „traumatised-organisation-in-the-mind“ bietet und erfordert „Räume für schwierige Dialoge“. Das Kapitel beschreibt die Art und Weise reflektierender Praxis, wie Sicherheit, die Fähigkeit zur Reflexion und kollektive Widerstandsfähigkeiten vor allem in forensischen Organisationen errungen werden kann.

Vega Zagler Roberts geht den emotionalen Auswirkungen organisatorischen Wandels unter der Überschrift „Geburt und Trauer, Blut und Tränen“ nach. In einer Fallbeschreibung wirft sie einen Blick darauf, wie Veränderungen als Bedrohung der Identität einer Organisation Trauer, Verachtung und Widerstand gegen diese hervorrufen. Tiefgreifende Veränderungen können starke Verlustgefühle hervorrufen, die sich auf Aspekte wie Sicherheit und Kontrolle beziehen. Aus der Ambivalenz gegenüber dem verlorenen Objekt entstehen psychische Wunden, die wiederum über die Re-Aktivierung depressiver Position (M. Klein) innere Konflikte evozieren können. Schließlich wird das (neue) Objekte, also das, was durch Veränderung entstanden ist, (libidinös) angenommen.

Moritz Senarclens de Grancy und Nicola Wreford-Howard stellen das psychodynamische Konzept des Social Dreaming in der Organisationsentwicklung“ vor. In einem sozialen Raum mit Träumen zu arbeiten zielt darauf ab, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen, Einfallsreichtum zu fördern und ansonsten schwer zugängliche Informationen zu befördern. Der Fokus liegt auf den Träumen selbst, dies dient der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten. Zurückgehend auf G. Lawrence Begriff der „Sozialen Traummatrix“ geht es darum, dass sich eine Form des kollegialen systemischen Denkens entwickelt, die ohne Vorannahmen, Interpretationen und Ziele auskommt.

Diskussion

Nicht nur für den psychoanalytisch orientierten Berater liefern die Texte hochinteressante Einblicke, vor allem, was die Entstehungsgeschichte, aber auch die Aktualität des systemisch-psychodynamischen Ansatzes anbelangt. Erhellende Einsichten liefern neben den sehr gut ausgearbeiteten Themen die vielen Praxisbeispiele. Ein roter Faden stellt das Übertragungs- und Gegenübertragungskonzept z.B. in Bezug auf kollektive Abwehrmechanismen, Aufnehmen und Erkennen von Widerstandsphänomenen oder Projektiver Identifikation dar. In der „Natur der Sache“ liegt es, dass der Mammutanteil der Literaturangaben aus dem englischen Raum stammt.

Beraten heißt, als Beratungsperson zu korrespondieren mit und zum Teil „in“ den Phänomenen von Verhalten, Erleben, Agieren, Interaktion, Gruppendynamiken, Geschichten, kollektiven Gefühlslagen usw. Es lädt fordernd dazu ein, sich verstricken zu lassen und introspektiv-gegenübertragungs-verbunden seinen eigenen Eindrücken, Emotionen und Ängsten zu folgen, um nah bei sich als Beratungsperson zu bleiben und zugleich nah (hart) am Phänomen des Gruppen- oder Organisationsgeschehens. Und damit auch die Freiheit zu haben, Standpunkt zu beziehen.

Zur grundsätzlichen Diskussion, „ob Gruppenanalyse Organisationsberatung kann“ hat bereits Wolfgang Dinger 2012 wertvolle Diskussionsbeiträge geliefert, in dem er die Auseinandersetzung darüber führt, dass sich Gruppenanalyse als Verfahren „lernfähig“ zeigt und „in der Lage ist, sich zu institutionellen Realitäten zu verhalten.“

Im Feld von Beratung und Berater:innenqualifikationen erfreut sich das Konzept der systemisch-psychodynamischen Beratung offensichtlich wachsender Beliebtheit.

Fazit

Qualifizierte Beratung jenseits von Tools und schnellen Lösungsversprechen ruft nach Theorie. Für den Rezensenten, selbst psychoanalytisch-gruppendynamisch-institutionsanalytisch geschult und identifiziert, sind Konzept- und Theoriebezüge unabdingbar und wertvoll für beraterisches Tun. Aus der distanzierten Perspektive des „Nicht-Tavistockers“, der eine objektive Betrachtung dieses Buches subjektiv versucht hat, gebe ich angesichts der Lesefreundlichkeit, des inhaltlichen Gehalts und der „Mitnehmbarkeit“ in die eigene Beratungs- und Supervisionspraxis eine unbedingte Kaufempfehlung.

Rezension von
Uwe Kowalzik
Altenpfleger, Organisationsberater, Sozialmanager, Executive Coach und Supervisor (DGSv), Moderator, Gruppendynamischer Trainer und Fortbildner, Balintgruppenleiter, Autor.
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Es gibt 3 Rezensionen von Uwe Kowalzik.

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Zitiervorschlag
Uwe Kowalzik. Rezension vom 25.09.2024 zu: Martin Lüdemann, Markus G. Feil, Celina Rodriguez Drescher (Hrsg.): Systemisch-psychodynamische Organisationsberatung – Konzepte und Anwendungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. ISBN 978-3-8379-3281-2. Reihe: Therapie & Beratung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32241.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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