Alois Halbmayr, Josef Mautner (Hrsg.): Friedensethik der Zukunft
Rezensiert von Dr. Hermann Müller, 22.10.2024

Alois Halbmayr, Josef Mautner (Hrsg.): Friedensethik der Zukunft. Zugänge, Perspektiven und aktuelle Herausforderungen.
transcript
(Bielefeld) 2024.
239 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6846-9.
D: 35,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Reihe: Edition Politik - Band 159.
Thema
Seit 1945 gab es zahlreiche Kriege, militärische Putsche, andere militärische Auseinandersetzungen und auch Kriegsverbrechen. Nach 1990 hat sich diese Entwicklung noch verstärkt. Der Zerfall der Sowjetunion führte nicht zu mehr, sondern zu weniger Frieden in der Welt. Daher ist Friedensethik als Moralphilosophie von großer Bedeutung. Diese Diskussion kann Völkerrecht und internationales Strafrecht kritisch begleiten und beeinflussen. Es kann zum Beispiel um die Frage gehen, ob man viele zivile Opfer in Kauf nehmen darf, um militärische Ziele zu erreichen.
Herausgeber
Alois Halbmayr ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Paris Lodron Universität in Salzburg
Josef P. Mautner ist Literaturwissenschaftler und Theologe. Er ist Mitglied der Plattform Menschenrechte Salzburg und Menschenrechtsbeauftragter der Katholischen Aktion Salzburg
Aufbau und Inhalt
Nach dem Vorwort der Herausgeber folgen die Abschnitte Zugänge, Perspektiven und aktuelle Herausforderungen mit jeweils mehreren Beiträgen.
Vorwort
Im Vorwort gehen die Herausgeber auf den völkerrrechtswidrigen Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine ein. Sie weisen aber daraufhin, dass es bereits vorher zahlreiche Kriege und kriegerische Auseinandersetzungen gegeben habe. Der Rezensent möchte hier anmerken, dass einige dieser Kriege, nicht nur der in der Ukraine, völkerrechtswidrig, waren [1].
Zugänge
Der theoretische Abschnitt zu den Zugängen beginnt mit einem Beitrag von Josef P. Mautner zu einer Ästhetik von Krieg und Frieden. Er meint nicht die traditionelle Ästhetik mit der Fokussierung auf das „Schöne“. Es geht um Möglichkeiten und Grenzen des Wahrnehmens zu Krieg und Frieden. Wirklichkeit, so der Autor sei nicht unmittelbar zugänglich, sondern bedürfe der fortlaufenden Reflexion. Grenzen ergäben sich aus dem individuellen Standort und des Eingebunden-seins in soziale und gesellschaftliche Netzwerke. Eingegangen wird kurz auf den Aphorismus „Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer“ Was Wahrheit ist, so der Autor, „für die nicht direkt Beteiligten schwer zu unterscheiden“ (S. 22) Nach Ansicht des Rezensenten könnte man zwischen verschiedenen Wahrheitsbegriffen unterscheiden [2]. Eingegangen wird auf die Frage, in welcher Weise die individuelle und kollektive Wahrnehmung von Kriegssituationen verzerrt und begrenzt sein kann. Es folgen Überlegungen zur Friedenswahrnehmung.
In dem Beitrag von Alois Halbmayr wird das Thema Frieden aus ideengeschichtlicher und historischer Perspektive behandelt. Begonnen wird mit einer Schrift von Immanuel Kant von 1795. Positionen zum Frieden in der Antike und in den Weltreligionen, u.a. im Alten Testament, werden behandelt. Eingegangen wird auf einen weiten Friedensbegriff, u.a. nach Galtung, der auch innerstaatliche Verhältnisse einbezieht. „Frieden ist die ‚Abwesenheit von personaler Gewalt und Abwesenheit von struktureller Gewalt‘“( S. 41) Hier ergibt sich für der Rezensenten die Frage, was alles unter struktureller Gewalt subsumiert wird und ob und wann man überhaupt von gewaltfreien Gesellschaften sprechen kann. Ungleichbehandlung und Benachteiligung wären in diesem Sinne auch strukturelle Gewalt. Andere Stimmen plädieren dagegen für einen engeren Friedensbegriff. Zwischen beiden Begriffen sieht Alois Halbmayer einen Zusammenhang: „Ein Frieden zwischen den Nationen hat den inneren Frieden zur Voraussetzung. Der innere Friede wiederum ist ohne Gerechtigkeit, ohne Freiheit, ohne ein Mindestmaß an Demokratie und ohne Partizipation nicht möglich“ (S. 45) Der Rezensent hat Zweifel, ob ein solcher Zusammenhang generell besteht. Ein Gegenbeispiel sind die USA [3]. Ein Abschnitt handelt von der Theorie des gerechten Krieges. Der Autor sieht die Gefahr einer Instrumentalisierung dieser Theorie für andere Zwecke „oft standen schlicht Rechtfertigungsgründe für Eroberungs- und Kolonialisierungsbestrebungen im Vordergrund“ (S. 45/46)[4]. Begonnen wird mit Theorien zum gerechten Krieg aus der Antike, u.a. von Aristoteles, Platon und Cicero. Eingegangen wird auf die christliche Lehre und pazifistische Positionen im frühen Christentum. Zitiert wird Schockenhoff, der von einem „Zusammenbruch der Lehre vom gerechten Krieg im 20. Jahrhundert“ (S. 50) spricht. Es folgt ein Unterkapitel zum Konzept des gerechten Friedens. Eingegangen wird auf Hirtenworte der deutschen katholischen Bischöfe und auf Denkschriften der Evangelischen Kirche Deutschlands. Zur Gerechtigkeit gehören unter anderem faire Handelsbeziehungen zwischen den Ländern (s. S. 53) und eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse des globalen Südens (s. S. 51) Gewaltfreiheit und gewaltfreier Widerstand werden bevorzugt, militärischen Handeln wird aber nicht völlig ausgeschlossen. Der Rezensent sieht hier 2 Probleme. 1. Je nach Kultur gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit die sich auch in den letzten Jahrzehnten verändert haben. 2. Wer ist berechtigt, in welchem Land seine Vorstellung von Gerechtigkeit militärisch durchzusetzen? Darf zum Beispiel ein Land militärisch eingreifen, wenn in einem anderen Land die Verhältnisse als ungerecht empfunden werden. Eingegangen wird dann auf die Kritik an der christlichen Friedensethik (u.a. von Deckers in der FAZ) vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges. Der Autor diskutiert dies unter anderem vor dem Hintergrund moralischer Dilemmata. Ein Problem der Kritik von Deckers ist nach Ansicht des Rezenten ist, dass sie die Vorgeschichte fast völlig ausblendet [5]. In dem Narrativ der „Zeitenwende“ entstehe der Eindruck, „dass die in den letzten Jahrzehnten entwickelten Prinzipien obsolet geworden seien.“ (S. 56) Das sei, wie der Autor darlegt, aber keineswegs so.
Perspektiven
Der Abschnitt Perspektiven beginnt mit einem moraltheologischen Beitrag von Werner Wolbert zu Menschenrechten, Theologie und Kirchen. Begonnen wird mit einem Zitat von Papst Johannes Paul II, der die Idee von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als „im Grunde christliche Gedanken“ bezeichnet [6]. Wolbert geht dann auf eine Arbeit von Immanuel Kant ein. Behandelt wird u.a. seine Unterscheidung von Preis und Würde und das Verhältnis von Würde und gelebter Moralität. Eingegangen wird dann auf die Entwicklung im Christentum und in der Gesellschaft zu Freiheit und Gleichheit. Er zitiert Messmer, der von einer „Langsamkeit der Entwicklung des menschlichen Rechtsbewusstseins und des wissenschaftlichen Verständnisses der Menschenrechte“ (S. 70) spricht. In der Ständegesellschaft gab es noch keine Freiheitsrechte für alle. Sehr spät wurde die Erklärung der Menschenrechte auf importierte Sklaven ausgedehnt (s. S 71) Es folgt ein längerer Abschnitt zu Problemen mit der Gleichheit. Dabei geht es unter anderem um den religiösen Diskurs zwischen Religionen und zwischen Konfessionen, um die mögliche Verknüpfung von Rechten und Pflichten und das Verhältnis von göttlichen Geboten und Menschenrechten. Es folgt ein Abschnitt über Berechtigte und Verpflichtete. Verpflichtet sei in erster Linie der Staat, der die Menschenrechte schützen müsse. Es gehe aber auch um das Bewusstsein der Menschen zu gleiche Freiheit und zum Beispiel gegen Ausländerfeindlichkeit. Das könne Zivilcourage erfordern. In dem kurzen Abschnitt zum Recht auf Frieden geht es vor allem um Rechte von Staaten auf Entwicklung, auf intakter Umwelt und Frieden. Verpflichtet sei hier eine internationale Organisation. Nach Ansicht des Rezensenten sollte es hier auch um einen Verzicht auf neo-koloniale Politik gehen, die einzelne Völker ausbeutet und deren Entwicklung verhindert.
Der Beitrag von Heiner Bielefeldt basiert auf einem Gespräch das der Herausgeber Josef Mautner mit Bielefeldt. Er hat auch die Form einer Befragung und Diskussion, die verschriftlicht wurde. Frieden sei, so Bielefeldt, mehr als die Abwesenheit von Gewalt und verweist auf das Begriffspaar „Frieden und Gerechtigkeit“. Dies bedeute auch „in einer pluralistischen Medienlandschaft echte Kontroversen durchzuführen, an denen alle teilnehmen können“ (S. 90) Über gerechte Lösungen kann gestritten werden. „Ohne eine lebendige, pluralistischen und auch streitbare Zivilgesellschaft kann man von Friedenskultur nicht sprechen“ (S. 91). Für den Rezensenten stellt sich hier die Frage, inwieweit dann Deutschland eine Friedenskultur in diesem Sinne hat [7]. Gerechtigkeit wird als Aufgabe, um die gerungen werde, weniger als Vorgabe verstanden. Eingegangen wird auf die Menschenrechte, die teilweise „veränderungsoffen“, im Kern aber nicht verhandelbar seien. Das humanitäre Völkerrecht wird kritisiert, weil sie einige Konzessionen gegenüber der Logik des Krieges machen. „Man denke etwa an den zynischen Begriff des ggf. hinnehmbaren ‚Kollateralschaden‘, zu dem auch Menschenleben zählen können.“ (S. 94) Krieg bedeute eine massive Verletzung von Menschenrechten. Es geht ferner um Rechtlichkeit, was im weitesten Sinne mit Friedensaufbau zu tun habe. Rechtsstaatlichkeit bringt Bielefeldt auf die Formel. „Durchsetzung des Rechts bei gleichzeitiger kontrollierter Bindung an das Recht“ (S. 99) Die Kontrolle erfolge über eine unabhängige Gerichtsbarkeit und unabhängige Medien. Eingegangen wird auf internationale Beziehung. Bielefeldt meint, dass Staaten, die im Inneren Rechtsstaatlichkeit haben, dies eher auch auf internationaler Ebene praktizieren als autoritärer Staaten. Der Rezensent hat hier Zweifel [8].
Der Beitrag von Regina Elsner zur Orthodoxie und Friedensethik beginnt mit einer religionsgeschichtlichen Darstellung zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Orthodoxie von der byzantinischen Theologie der frühen Jahrhunderte bis in die Gegenwart. Vertreten wurde ein komplementäres Verhältnis von Kirche und Staat („Symphonie von Staat und Kirche“), was eine herrschaftskritische Haltung der Kirche ausschloss. Ein Vergleich mit West- und Mitteleuropa bis zur Zeit der Aufklärung wäre hier interessant [9]. Es folgt ein Abschnitt zur Politisierung der Kirchenfrage in der Ukraine und zur Spaltung der Kirche in „Kyjiwer Patriarchat“ und Ukrainischer Orthodoxer Kirche, die weiter zum Moskauer Patriarchat gehört. Es gab den Vorwurf der Verfolgung der Ukrainisch-orthodoxen Kirche. Inzwischen wurde diese Kirche vom ukrainischen Parlament verboten. Es folgt ein Abschnitt zur Kriegstheologie. Diese Theologie beinhaltet eine Theorie des „gerechten Krieges“, zum Beispiel wenn es um den Schutz eines Volkes gehe. In jedem einzelnen Fall müsse entschieden werden, wenn es um die Unterstützung militärischer Interventionen gehe. Der Krieg in der Ukraine werde damit legitimiert. Es folgen drei Zitate vom Patriarch Kiril, die kommentiert werden. Deutlich wird ein traditionelles Bild von Ehe, Familie und religiösen Leben, die Kirill durch Säkularisierung und liberale Werte bedroht sieht. Der Rezensent sieht hier einige Parallelen zur katholischen Tradition in Deutschland noch bis in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts.
Es folgt ein Beitrag von Annemarie Sancar über feministische Politik mit friedenspolitischer Bedeutung. Begonnen wird mit einer Darstellung zur Arbeit einer Frauenorganisation in der Ostukraine. Frauen leben dort seit 2014 unter schwierigen Bedingungen. Die Autorin zitiert den oft gehörten Satz „Wir leben seit 2014 im Kriegszustand“ (S. 132) [10]. Das Projekt zu den Lebensbedingungen und Alltagserfahrungen von Frauen aus der Ostukraine wurde 2021, also vor der russischen Invasion, mit Unterstützung der Organisation „FriedensFrauen Weltweit“ lanciert und danach fortgesetzt. Die Frauen kommen aus russisch besetzten Gebieten und ukrainischen Städten. Eingegangen wird auf einen Workshop zum Thema „Storytelling“. Es folgt ein Abschnitt zur polarisierenden Diskussion bei den „Linken“. Die Schilderungen der ukrainischen Frauen hätten, so die Autorin, in der Debatte wenig Platz. Sie sieht eine Spaltung der Linken. „Wer gegen die Lockerung des Waffenausfuhrgesetzes ist, ist gleich Freund:in Putins, der der Ukraine ihre Souveränität abspricht. Und wer sich dafür ausspricht, wird als Verteidiger:in der fortschrittlichen Werte des Westens inszeniert“ (S. 136). Sie plädiert dagegen für einen offenen demokratischen Umgang. Der folgende Abschnitt zu konservativ-konservativen Kräften bezieht sich auf die Schweizer Verhältnisse. Eingegangen wird auf die „polarisierende Unterscheidung zwischen westlichen Demokratien und autoritären, diktatorisch gelengten Regimes“ (S. 142). Dem Westen werden in dieser Unterscheidung Werte zugeschrieben, die die autoritären Staaten nicht hätten [11]. Eingegangen wird auf Konsequenzen für den Wiederaufbau. Es geht u.a. darum, auch Bereiche wie Gesundheitswesen, Renten, soziale Sicherheit angemessen zu berücksichtigen, die wirtschaftlich weniger interessant sind. Ausgegangen wird von einem weiten Friedensbegriff, der auch den Abbau struktureller Gewalt umfasst [12].
Aktuelle Herausforderungen
Der Abschnitt beginnt mit einem Beitrag von Martina Fischer über friedensethische Orientierung und Dilemmata mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Schwerpunkt ist die Diskussion in der evangelischen Kirche, aber auch katholische Geistliche werden öfters zitiert. Ausgegangen wird von der Position einer Denkschrift der EKD aus dem Jahre 2007. Darin wird der Einsatz militärische Gewalt in einem „gerechten Krieg“ an strenge Kriterien geknüpft. Beschrieben werden dann zwei Dilemmata. Wer sich für Sanktionen und Waffenlieferungen einsetze, müsse mit den Folgen der eskalierenden Gewalt und vielen Toten umgehen. Die andere Position müsse damit umgehen, dass die Ukraine unter dem Diktat Russlands leben müsse. Beide Wege könnten scheitern, was man nicht vorhersehen könne. Es sei daher die Pflicht immer „den Status quo und das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen“ (S. 155). Eingegangen wird dann auf die Frage der Deeskalation und der Beendigung des Krieges. Die Ukraine habe im März 2022 den verhandlungsbereiten Kurs aufgegeben und wolle bis zum Sieg weiterkämpfen [13] In Berlin schwanke die Ansage zwischen die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren und sie müsse ihn gewinnen. Militärexperten und Sanktionsexperten gingen inzwischen von einem langjährigen Krieg aus. Eingegangen werden auf Appelle zu Verhandlungen, die zu dem Vorwurf führten, die Interessen der Ukraine zu verraten und auf Bestrebungen, den Frieden durch Verhandlungen vorzubereiten. Es geht auch um die Einbeziehung des Globalen Südens. Für den Rezensenten stellt sich hier die Frage, inwieweit dies gelingen kann [14]. Die Position von Heinrich Bedford-Strohm gegen eine Rüstungsspirale wird dargestellt. Es folgen drei Thesen zur menschlichen Entwicklung und menschlichen Sicherheit. In der ersten These geht es unter anderem um die Ziele gesunde Ernährung und Gesundheit für Alle. Die Autorin stellt die Position von Klaus Seitz dar. Die globale Ernährungskrise habe „systemische Ursachen“ Seitz plädiert für „‘ein weltgesellschaftliches Solidarsystem‘ das auch sozialen Ausgleich und Umverteilung umfasst“ (S. 165) In der zweiten These geht es um das Verhältnis des Westens zum Globalen Süden, das neu entwickelt werden müsse. „Zudem ist eine Reform das internationalen Handels- und Finanzsystems erforderlich“ (S. 186) Der Rezensent fragt sich, wie das zu schaffen ist [15]. In der dritten These geht es um zivile Verfahren der Bearbeitung von Konflikten. Es folgt ein Abschnitt zu Perspektiven für Sicherheit und Frieden in Europa mit zwei Thesen. In der ersten These geht es um einen neuen Dialog über europäische Sicherheit und eine neue Friedensordnung, in der zweiten um Perspektiven für Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Der Beitrag von Dorthe Sigmund zum Israel-Palästina-Konflikt basiert auf einem schriftlichen Interview, das der Herausgeber Josef Mautner im Sommer 2023, also vor dem Überfall der Hamas auf israelische Zivilisten am 7. Oktober 2023, geführt hat. Deutlich wird u.a. die Notsituation der Palästinenser im Westjordanland unter der rechtsextremistischen Regierung von Benjamin Netanjahu. Die Zwei-Staaten-Lösung wurde von der Regierung abgelehnt. Durch diese Politik wurden die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung massiv verletzt. Auch die Situation im Gazastreifen war für die 2,1 Millionen Einwohner prekär. 80 % waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Gegen diese Politik gab es auch innerhalb der israelischen Bevölkerung Proteste. Der Rezensent meint, dass man damit den Angriff der Hamas keineswegs rechtfertigen kann. Er war aber durch die Politik unter der Regierung Netanjahu provoziert.
Es folgt ein Beitrag von Ursula Liebing zu Flüchtlingsaufnahme und Asylgewährung. Auf unterschiedliche Fluchtursachen und Fluchtverläufe wird eingegangen. Zu den Fluchtursachen gehören zum Beispiel auch Zwangsrekrutierungen und Kriegsdienstverweigerer. Ursula Liebig kritisiert die Regelung zu den „sicheren Drittstaaten“. Diese gehe von einem reduzierten Sicherheitsbegriff wonach sichere Drittstaaten schon Staaten seien, in denen Leib und Leben der Flüchtlinge nicht unmittelbar bedroht seien. Sie meint dass „Sicherheit im menschenrechtlichen Sinn nicht nur die Freiheit von unmittelbarer Gefahr, sondern auch die Freiheit von Not und Verelendung und menschenrechtliche Mindeststandards umfassen müsse“(S. 198). Der Rezensent fragt sich, wie viele Millionen Flüchtlinge zum Beispiel Österreich dann aufnehmen müßte. Eingegangen wird u.a. auf langen Wartezeiten bis eventuell Aufenthaltssicherheit gegeben ist und auf Rückkehrperspektiven. In einem abschließenden Kapitel diskutiert die Autorin die Frage, wie Flüchtlinge am Friedensaufbau mitwirken können. Dazu gehören die Einbeziehung der Flüchtlinge in Friedens- und Aufbauprojekte und Austausch- und Versöhnungsprozesse. Das ist sicherlich wichtig. Aber der Rezensent möchte darauf hinweisen, dass für die meisten militärischen Konflikte nicht die einfachen Leute, sondern die Machtinteressen von Staaten und Interessengruppen verantwortlich sind [16].
Abgeschlossen werden der Abschnitt und der Band mit einem Beitrag von Ute Finckh-Krämer zu Friedensaufbau und Konfliktbearbeitung. Eingegangen wird auf unterschiedliche Bedeutungen von Frieden und ganz unterschiedliche Konfliktarten wie zum Beispiel Tarifkonflikte, Familienkonflikte, Nachbarschaftskonflikte, militärische Auseinandersetzungen, Kriegsdienstverweigerung, Konflikte in Schulen. Einige dieser Konflikte sind nicht dauerhaft lösbar (zum Beispiel Tarifkonflikte). Auch Verfahren zum Friedensaufbau und der Konfliktbearbeitung werden behandelt.
Diskussion
Der Band liefert zahlreiche Anregungen für die weitere friedensethische Diskussion. Zum einen geht es dabei um die Beziehungen zwischen Staaten, zum anderen um innerstaatlich Frieden und Gerechtigkeit. Zu letzterem gehören auch eine streitbare Zivilgesellschaft und eine pluralistische Medienkultur (vgl. Bielefeldt in diesem Band)
Das Völkerrecht und das internationale Strafrecht sollte auf alle Länder und auf Bürgerinnen und Bürger aller Länder angewendet werden. Ansonsten kann man von „Doppelmoral“ (Ambos 2022) des Westens sprechen.
Das Thema Sanktionen sollte kritisch diskutiert werden. Sie richten sich, wenn sie erfolgreich sind, vor allem gegen die Bevölkerung des sanktionierten Landes. Sie können sogar Menschenleben kosten, indem sie zum Beispiel das Gesundheitssystem des Landes zerstören. Geschehen ist dies durch Sanktionen gegen den Irak (vgl. Todenhöfer 2020, S. 19, Lüders 2018 27 S. 46). Saddam Hussein wurde so nicht gestürzt, aber die Bevölkerung war betroffen.
Die Unterscheidung zwischen einen engeren und einem erweiterten Friedensbegriff, der auch Frieden und Gerechtigkeit umfasst, ist sicherlich wichtig. Aber die Frage ist, Staaten, die als Demokratien gelten, in den Außenbeziehungen tatsächlich friedvoller sind. Es stellt sich auch die Frage, ob die Dichotomie zwischen den demokratischen Staaten des Westens und den autoritären Regime so stimmt. Demokratien können im Inneren durchaus autoritär und ungerecht sein. Vorstellungen von Gerechtigkeit verändern sich auch. Zum Beispiel würde man Praktiken die vor 50 Jahren in Deutschland üblich waren heute als Diskriminierung empfinden Ein Beispiel ist die Geschichte des § 175 StGB. Einem anderen Staat die eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit aufzuzwingen, kann problematisch sein und viele Menschenleben kosten.
Fazit
Der Band enthält viele Anregungen und Hinweise für die friedensethische Diskussion. Die Diskussion ist auch wichtig für eine Weiterentwicklung des Völkerrecht und des internationalen Strafrechts.
Literatur
Ambos, Kai (2022) Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine, Frankfurt am Main: Westend Verlag
Lüders, Michael (2017) Die den Sturm ernten, München: C H Beck
Lüders, Michael (2018 27) Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München, C. H. Beck
Todenhöfer, Jürgen (2020) Die große Heuchelei. Wie Politik und Medien unsere Werte verraten, Berlin
Verheugen, Günter/Erler, Petra (2024), Der lange Weg zum Krieg – Russland, die Ukraine und der Westen, München: Wilhelm Heyne Verlag,
[1] Vgl. Ambos 2022
[2] Im Strafprozess fordert der Richter die Zeugen auf, die ganze Wahrheit zu sagen und nichts zu verschweigen. Damit wird nicht unterstellt, dass der Zeuge die absolute Wahrheit kennt. Der Zeuge wird so ermahnt, nicht bewusst oder fahrlässig Informationen zu verschweigen, die für die Ermittlung wichtig sein könnten. Das könnte auch in dem Satz. „Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer“ gemeint sein.
[3] Wenn man davon ausgeht, dass die USA diese Kriterien halbwegs erfüllen. In der Zeit nach 1945 haben die USA mehr Kriege geführt als die anderen Staaten. Dazu gehörten auch völkerrrechtswidrige Angriffskriege. Sie haben auch Putsche gegen demokratisch gewählte Regierungen (z.B. Chile 1973, im Iran gegen Mossadegh 1953) und andere Regierungen initiiert.
[4] Vgl. auch Lüders (2018 27. Auflage S. 48) zu des Kriegen den Westens nach 1990 in arabischen Staaten
[5] Vgl. zur Vorgeschichte Günter Verheugen und Petra Erler 2024 Ein Problem ist, dass das westliche „Narrativ“ bewusst Informationen und Zusammenhänge ausblendet, die das eigene Bild infrage stellen oder relativieren könnten. Die russische Propaganda macht das allerdings auch.
[6] Andererseits waren die Kirchen sehr lange konsequente Gegner dieser Ideale der französischen Religion.
[7] Dazu würde auch gehören, dass man nachbestimmten Äußerungen keine Diffamierungen (z.B. „Russlandversteher“ oder „Covidioten“) und keine beruflicher Nachteile befürchten muss. Man spricht auch von „cancel culture“. Es stellt sich auch die Frage, ob unsere Medienlandschaft noch pluralistisch ist.
[8] Auf das Gegenbeispiel USA wurde bereits hingewiesen.
[9] Es gab auch hier eine enge Verflechtung von Staat und Kirche, mit einer Verfolgung, manchmal auch Tötung, Andersgläubiger
[10] Das damals militärische Aggressionen nicht nur aber auch von der ukrainischen Armee, u.a. vom Asow-Regiment, ausgingen, wird in westlichen Narrativen häufig ausgeblendet.
[11] Solche Werte können auch für die Durchsetzung machtpolitischer Interessen instrumentalisiert werden (vgl. Lüders 201827, S. 48)
[12] Vgl. auch den Beitrag von Halbmayr in diesem Band.
[13] Dies könnte auch auf Druck des Westens und durch die Intervention von Boris Johnson geschehen sein
[14] Aufgrund seiner Wirtschaftspolitik und von militärischen Interventionen haben die USA und andere westlicher Staaten an Glaubwürdigkeit verloren (vgl. auch Ambos 2022. Lüders. 2018 27, S. 10). Der Zusammenschluss der BRICS-Staaten ist eine Reaktion auf diese westliche Politik.
[15] Das gegenwärtige System entspricht den wirtschaftlichen Interessen internationaler westlicher Konzerne. Die würden nicht kampflos auf ihre Vorteile verzichten.
[16] Westliche Staaten wie USA und Großbritannien sind daran häufig beteiligt. (vgl. Lüders 2017, S. 12)
Rezension von
Dr. Hermann Müller
Universität Hildesheim, Institut für Sozial- und Organisationspädagogik
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