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Christina Lienhart: Vom Heim nach Hause

Rezensiert von Prof. Dr. Alexander Parchow, 19.06.2025

Cover Christina Lienhart: Vom Heim nach Hause ISBN 978-3-8474-3051-3

Christina Lienhart: Vom Heim nach Hause. Herstellungsleistungen von Familie bei Rückkehrprozessen aus stationären Erziehungshilfen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2024. 394 Seiten. ISBN 978-3-8474-3051-3. D: 84,90 EUR, A: 87,30 EUR.
Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik - Band 16.

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Thema

Die Heimerziehungsforschung ist ein breites und etabliertes Feld, das sich mit vielfältigen Fragestellungen u.a. zu Lebensverläufen, Übergängen und institutionellen Rahmenbedingungen in der stationären Erziehungshilfe befasst. In den letzten Jahren hat sich ein deutlicher Forschungsschwerpunkt auf das sogenannte Leaving Care herausgebildet – die Übergänge junger Menschen aus der stationären Jugendhilfe in ein eigenständiges Leben. Demgegenüber steht eine erstaunlich geringe Auseinandersetzung mit Rückkehrprozessen in die eigene Familie, obwohl diese in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe keineswegs selten sind. Gerade die mit einer Rückkehr verbundenen innerfamiliären Dynamiken, Aushandlungsprozesse und die Frage nach dem (Wieder-)Herstellen von Familie stellen eine komplexe Herausforderung dar, die bislang weder theoretisch ausreichend fundiert noch empirisch systematisch aufgearbeitet wurde. Genau an dieser Forschungslücke setzt Christina Lienhart mit ihrem Werk an.

Autorin und Entstehungshintergrund

Die Autorin des hier rezensierten Buchs, Christina Lienhart,ist gegenwärtig als Senior Lecturer an der MCI Innsbruck in Österreich tätig. Es handelt sich bei dem Buch um die Veröffentlichung ihrer Dissertationsschrift, die sie im Februar 2023 am Department Erziehungswissenschaft und Psychologie der Universität Siegen eingereicht hat und mit der sie bei Prof. Dr. Klaus Wolf und Prof. Dr. Albrecht Rohrmann promoviert worden ist. Die Dissertation von Christina Lienhart ist im Frühjahr 2024 in der Schriftenreihe der ÖFEB-Sektion Sozialpädagogik beim Verlag Barbara Budrich erschienen. Auf der Verlagsseite kann das Buch als gedruckte Ausgabe kostenpflichtig bestellt werden und im Open Access als PDF-Datei kostenfrei heruntergeladen werden.

Aufbau und Inhalt

Das Buch von Christina Lienhart umfasst insgesamt 394 Seiten inklusive aller Verzeichnisse, Danksagung und Vorwort von Klaus Wolf. Es handelt sich hier um ein durchaus umfangreiches Werk, das aufgrund dessen, dass es sich bei der Dissertation um eine qualitative Studie handelt, jedoch nicht ungewöhnlich ist.

Das erste Kapitel ist die Einleitung des vorliegenden Buches. Die Autorin führt hier in das Thema ein, indem sie darauf hinweist, dass die Rückkehr junger Menschen in ihre eigene Familie, die eine gewisse Zeit ihres Lebens in stationärer Erziehungshilfe verbracht bzw. gelebt haben, bislang nur unzureichend als besondere Transition betrachtet wurde. Gleichzeitig verweist sie darauf, dass dieser Rückkehrprozess für die einzelnen Familienmitglieder eine bedeutende Bewältigungsanforderung darstellt, die im Rahmen einer Herstellungsleistung von Familie in den Blick genommen werden muss. Genau dieser Forschungslücke bzw. diesem Aspekt widmet sich Christina Lienhart in ihrer Studie, indem sie das Erleben junger Menschen und ihrer Eltern in den Blick nimmt, welche diese Rückkehrerfahrung gemacht haben. Zum Abschluss der Einleitung gibt die Autorin zudem einen Überblick über die folgenden Kapitel und erläutert kurz deren Inhalte.

Im zweiten Kapitel entwickelt die Autorin ihre theoretische Perspektive auf das Konstrukt Familie. Ausgangspunkt ist der von ihr skizzierte Wandel von der traditionellen Kleinfamilie hin zu einer Pluralisierung von Familienformen im Zuge tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen wie Individualisierung, Emanzipation und dem Wandel der Erwerbs- und Geschlechterrollen. Vor dem Hintergrund der Verwobenheit von Gesellschaft, Familie und Individuum greift Christina Lienhart den für ihre Arbeit zentralenFigurationsansatz von Norbert Elias auf und erläutert dessen Kernannahmen. Schließlich setzt sich die Autorin eingehender mit der Definition von Familie auseinander und macht das Konzept des Doing Family in Verbindung mit einem care-orientierten Familienbegriff für ihre Analyse fruchtbar. Dabei arbeitet sie auch die konzeptionellen Erweiterungen Undoing sowie Not Doing Family heraus.

Im dritten Kapitel widmet sich Christina Lienhart einer vertieften Auseinandersetzung mit (Für-)Sorge, Care und Verantwortung, die sie als relationale, in sozialen Gefügen dynamisch ausgehandelte Phänomene entfaltet. Dabei geht sie auf die jeweiligen Begrifflichkeiten ein und zeichnet zentrale Linien des aktuellen fachlichen Diskurses nach.

Im vierten Kapitel rückt die Autorin das Verhältnis zwischen Familie und Jugendhilfe in den Mittelpunkt. So werden im ersten Teil De-Familialisierung als Folge der Pluralisierung und Individualisierung erläutert, Re-Familialisierung als Resultat eines sozialstaatlichen Rückbaus vor dem Hintergrund neoliberaler Tendenzen näher in den Blick genommen und damit verknüpfte Diskurslinien vor allem auch mit Bezug zur Kinder- und Jugendhilfe sowie zu sozial- und kinderschutzpolitischen Kontexten skizziert. Weiter blickt Christina Lienhart im zweiten Kapitelteil näher auf die stationäre Erziehungshilfe in Relation zu den ambulanten Hilfen und problematisiert deren Positionierung als Ultima Ratio innerhalb der Hilfelandschaft. Dabei thematisiert sie zudem, dass Elternarbeit häufig diffus bleibt und konzeptionell nur schwach in der Praxis verankert ist.

Das fünfte Kapitel fokussiert kurz und knapp auf die Transition von jungen Menschen aus dem stationären Setting zurück in ihre eigene Familie. Es werden die mit dem Übergang von der Jugendhilfe in ein Leben ohne Hilfe grundsätzlich zusammenhängenden Begriffe Leaving Care und Careleaver definiert und darauf hingewiesen, den Rückkehrprozess in die Familie in den Diskurs stärker einzubeziehen.

Kapitel sechs geht auf die rechtlichen Rahmenbedingungen in Österreich im Hinblick auf Rückkehrprozesse in die eigene Familie aus der stationären Erziehungshilfe ein. Im Zentrum stehen dabei relevante Paragrafen zentraler österreichischer Gesetze.

Nachdem Christina Lienhart in den vorangegangenen Kapiteln gewissermaßen den Rahmen der Arbeit entwickelt hat, indem zentrale Begrifflichkeiten geklärt, relevante Diskurse dargestellt und die leitenden theoretischen Perspektiven herausgearbeitet wurden, widmet sie sich in Kapitel sieben dem bisherigen Forschungsstand zu Rückkehrprozessen aus der stationären Erziehungshilfe sowie zur Herstellung von Familie im Rahmen dieser Hilfeform. Nach einem kurzen Überblick über die quantitative Datenlage zur Rückkehr in die eigene Familie aus der stationären Erziehungshilfe legt die Autorin den Fokus erstens auf Studien, die Rückkehr als Teil von Übergangsprozessen thematisieren, und arbeitet zentrale Aspekte für die eigene Untersuchung heraus. Zweitens bezieht sie Studien ein, die sich mit Herstellungsleistungen von Familie im Kontext stationärer Erziehungshilfe befassen. Über diesen Abriss des Forschungsstandes begründet Christina Lienhart am Ende des Kapitels die bestehende Forschungslücke, die sie mit ihrer Untersuchung schließen möchte: die Rückkehr in die eigene Familie als spezifische Form des Leaving Care sowie die damit verbundenen Perspektiven von jungen Menschen und Eltern.

Im achten Kapitel geht die Autorin auf das methodische Vorgehen ihrer Untersuchung ein. Ausgehend vom Erkenntnisinteresse und den leitenden Forschungsfragen stellt sie das qualitative Forschungsdesign vor, das sich an der Grounded Theory Methodologie orientiert. Christina Lienhart beschreibt dabei auch ihr konkretes Vorgehen, indem sie die Datengrundlage (leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews aus einem früheren Forschungsprojekt, die sie im Rahmen einer Sekundäranalyse nutzt) sowie die einzelnen Auswertungsschritte detailliert darstellt.

Das neunte Kapitel stellt mit insgesamt 144 Seiten das umfangreichste Kapitel und zugleich das empirische Herzstück der vorliegenden Arbeit dar. Gegenstand sind vier umfangreiche Fallanalysen, die auf unterschiedlichen Interviews bzw. Perspektiven (von jungen Menschen und/oder Elternteilen) basieren. Die Darstellung der Fälle folgt dem Aufbau einer vorangestellten Kurzskizze des jeweiligen Falls sowie der Analyse zentraler Schlüsselpassagen, in denen Herstellungsprozesse von Familie im Kontext von Fremdunterbringung und Rückkehr sichtbar werden.

Das zehnte Kapitel bündelt die zentralen Ergebnisse der vorangegangenen Fallanalysen in einer fallübergreifenden und verdichteten Zusammenschau, um die leitenden Forschungsfragen der Arbeit zu beantworten, bevor das Buch mit einem Ausblick für Forschung und Praxis in Kapitel elf schließt.

Diskussion

Christina Lienhart legt mit ihrem Werk eine theoretisch fundierte und empirisch dichte Untersuchung zu Rückkehrprozessen in die Herkunftsfamilie nach stationärer Erziehungshilfe vor. Besonders hervorzuheben ist, dass sie einen bislang kaum beforschten Gegenstand systematisch erschließt und damit eine relevante Forschungslücke bearbeitet. Der theoretische Rahmen der Studie ist mit dem Figurationsansatz, relationalen Sorge- und Verantwortungskonzepten sowie dem Doing Family-Ansatz im hier rezensierten Buch differenziert ausgearbeitet. Dem steht die Darstellung der Ergebnisse in nichts nach, wenngleich der Umfang des empirischen Hauptteils den Lesenden stellenweise eine hohe Konzentration abverlangt. Dies ist jedoch keineswegs negativ aufzufassen, denn gerade die Tiefe der Fallanalysen und die Verdichtung zentraler Aspekte ermöglichen eine differenzierte Annäherung an komplexe familiäre Herstellungsprozesse.

Alles in allem liegt hier ein komplexes Werk vor, das wichtige Impulse sowohl für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Rückkehrprozessen als auch für die fachliche Reflexion in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe liefert.

Fazit

Christina Lienhart legt mit ihrer Arbeit eine theoretisch wie empirisch anspruchsvolle Studie vor, die Rückkehrprozesse aus stationären Erziehungshilfen in den Fokus rückt. Sie beschäftigt sich dabei insbesondere mit der Frage, wie Familie unter den Bedingungen solcher Übergänge von ihren Mitgliedern (wieder) hergestellt wird.

Rezension von
Prof. Dr. Alexander Parchow
Jade Hochschule Wilhelmshaven
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Es gibt 7 Rezensionen von Alexander Parchow.

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ISSN 2190-9245