Mimi E. Kim, Durell M. Washington et al. (Hrsg.): Abolition and Social Work
Rezensiert von Deike Janssen, 27.06.2024

Mimi E. Kim, Durell M. Washington, Cameron Rasmussen (Hrsg.): Abolition and Social Work. Possibilities, Paradoxes, and the Practice of Community Care. Haymarket Books (Chicago, IL 60618) 2024. 304 Seiten. ISBN 979-8-88890-091-8. 24,90 EUR.
Thema und Hintergrund
Die Herausgeber*innen des Buches „Abolition and Social Work“ beschreiben, wie Soziale Arbeit mit strafenden staatlichen Institutionen verstrickt ist, aber auch selbst eine eigene Logik und Funktion von Strafe und Kontrolle in sich trägt („carceral social work“; „soft policing“). Abolitionismus steht für eine Philosophie, Theorie, soziale Bewegung und Praxis, die nicht nur Kritik an strafenden Institutionen und Methoden übt, wie z.B. an Gefängnissen, Maßregelvollzug, Abschiebezentren und Polizei, sondern sich auf lange Sicht für ihre Abschaffung einsetzt. Abolitionismus weist darauf hin, dass diese Institutionen, insbesondere für arme, Obdachlose, psychisch kranke und von Rassismus betroffene Menschen, keine schützende Funktion haben, sondern Strafe, Kontrolle oder Gewalt bedeuten. Deshalb sollen sie langfristig durch alternative Fürsorge- und Unterstützungssysteme ersetzt werden. Es geht also nicht nur um die „Abschaffung“ des strafenden Staates, sondern um die Vision einer fürsorglichen Gesellschaft sowie um die Abschaffung der Ursachen sozialer Probleme, die nicht im Einzelnen, sondern in Armut, Ungleichheit, Unterdrückung usw. gesehen werden. Die Herausgeber*innen erkunden in ihrem Sammelband die Möglichkeiten, Paradoxe und Praktiken, die sich dabei für die Soziale Arbeit und Sozialarbeiter*innen ergeben.
Herausgeber*innen
Mimi E. Kim ist Assistenz-Professorin der Sozialen Arbeit an der California State University, Gründerin des Projekts „Creative Interventions“ und beschäftigt sich mit Transformativer Gerechtigkeit und Praktiken von gemeinschaftlicher Fürsorge und Sicherheit. Cameron Rasmussen ist PhD Student und Dozent an der Columbia University, Sozialarbeiter und Mitbegründer des „Network to Advance Abolitionist Social Work“ (NAASW). Durrell M. Washington Sr. ist PhD Student an der University of Chicago, Sozialarbeiter und Pädagoge und ebenfalls Mitwirkender beim NAASW.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeber*innen berufen sich auf Jahrzehnte von aktivistischer Arbeit und wissenschaftlichen Diskussionen rund um Abolitionismus und Sozialer Arbeit. Die konkrete Entstehungsmotivation für das Buch wird jedoch auf das Jahr 2020 datiert: Nach den Polizeimorden an George Floyde und Breonna Taylor riefen viele Proteste „abolish the police“ – aber auch „fund social work“. Einige Forderungen plädierten dafür, Soziale Arbeit als „softe“ Version von Polizei einzusetzen. Die Herausgeber*innen griffen dies auf und verschriftlichen ihre Kritik an der Verzweigung von Sozialer Arbeit mit Polizei und anderen Mechanismen von Überwachung und Kontrolle.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Vorwort durch die Aktivistin und Autorin Mariame Kaba und einer Keynote von Angela Y. Davis, gliedert sich das Buch in 3 Teile: Möglichkeiten, Paradoxe und Praxis.
Im ersten Teil beginnen die Autor*innen des NAASW damit, Möglichkeiten abolitionistischer Soziale Arbeit zu konzeptualisieren und ihre Prinzipien und Spielräume zu beleuchten. Der Professor Sam Harrell beschreibt in Kapitel 3 den Unterschied wie Sozialarbeiter*innen konkret die Größe und Reichweite des strafenden Staats eingrenzen können. In Kapitel 4 führen indigene Autor*innen in indigene abolitionistische Praktiken ein und plädieren für die Notwendigkeit, ihre Stimmen und Erfahrungen in die Soziale Arbeit zu integrieren. Kapitel 5 thematisiert die Verstrickung von Sozialer Arbeit mit der US-amerikanischen Geschichte von Siedlerkolonialismus, Rassismus und weißer Vorherrschaft, welche bis heute das Gefängnissystem und z.B. auch auf das US-amerikanische „child welfare system“ prägt. Als Antwort auf diese Verstrickung und auf die Lücken der antirassistischen Bemühungen der Berufsverbände hat z.B. die National Association of Black Social Workers seit den späten 1960er Jahren die Bedürfnisse Schwarzer Menschen ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt. Die Autor*innen heben hervor, dass die Soziale Arbeit sich an abolitionistischen Ideen orientieren muss, um rassistische Systeme zu beseitigen.
Der zweite Teil setzt sich mit Paradoxen auseinander. Die Sozialarbeiterin Kassandra Frederique beschreibt in Kapitel 6 die zentralen Abhängigkeits- und Machtverhältnisse zwischen Sozialarbeiter*innen und Klient*innen und die Berufsgrenzen von abolitionistischen Ansätzen. Sie argumentiert, dass die Soziale Arbeit im Kampf gegen die Ursachen sozialer Probleme obsolet werden wird, da Abolitionismus auch eine „Welt ohne Soziale Arbeit“ bedeutet. Im 7. Kapitel untersuchen Mimi E. Kim und Cameron Rasmussen die Beziehung zwischen dem Wohlfahrtsstaat und der Sozialen Arbeit im neoliberalen Zeitalter. Neoliberalismus bedeutet nicht nur ein Rückgang wohlfahrtstaatlicher Leistungen, sondern auch eine Zunahme strafender und disziplinierender Maßnahmen. Die Herausforderung besteht darin, die Funktionen des Wohlfahrtsstaats nicht nur gegen den Neoliberalismus zu verteidigen, sondern ihn neu zu gestalten, um soziale Gerechtigkeit und kollektive Fürsorge zu erlangen. In Kapitel 8 untersucht der Professor Alan Dettlaff das US-amerikanische child welfare system. Er führt aus, wie seit den Anfängen des child welfare systems Schwarze Familien unverhältnismäßig sozial kontrolliert und überwacht wurden. Vage Gesetze zur Meldepflicht führen dazu, dass mehr als die Hälfte aller Schwarzen Kinder in den USA einer staatlichen Untersuchung unterzogen werden und fast doppelt so häufig von ihren Familien getrennt werden. Daran anschließend diskutieren in Kapitel 9 die Aktivistin Joyce McMillan und die Professorin Dorothy Roberts ihre Erfahrungen mit dem child welfare system. Die Wissenschaftlerin Sophia Sarantakos führt in Kapitel 10 aus, wie Abolitionismus von oberflächlicher Rhetorik zur kreativen Arbeit und kontinuierlichen Praxis werden kann.
Im dritten Teil stellen verschiedene Autor*innen Ansätze für die konkrete Praxis der Sozialen Arbeit vor. Die Autorin und Aktivistin Shira Hassan führt in Kapitel 11 in den Ansatz der transformativen Gerechtigkeit und „Liberatory Harm Reduction“ ein. Dabei sollen kriminalisierte Gruppen wie Drogenkonsumenten oder Sexarbeiterinnen mit peer-Ansätzen darin unterstützt werden, Zugang zu Hilfe, Gesundheitseinrichtungen und Gemeinschaft zu erhalten – ohne Stigma und Zwang. In einem Interview in Kapitel 12 stellt die Mitbegründerin einer queeren Schwarzen Jugendorganisation Charlene A. Carruthers ihreEinblicke in die Praxis ihrer abolitionistisch orientierten Arbeit mit Jugendlichen dar. Im Kapitel 13 analysiert die Sozialarbeiterin Tanisha „Wakumi“ Douglas die Spannungen, die sich aus der Implementierung von abolitionistischen Ansätzen in ihrer Projektarbeit ergeben haben. Die Professorin Stephanie Wahab diskutiert in Kapitel 14 die Notwendigkeit, dass sich Soziale Arbeit mit der Besatzung in Palästina auseinandersetzen sollte, da dies die Werte der Profession, wie soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde, betrifft. In Kapitel 15 beschäftigen sich die Wissenschaftler*innen Nev Jones und Leah A. Jacobs mit Zwangseinweisungen in psychiatrische Dienste und entwickeln abolitionistische Handlungsmöglichkeiten.
Diskussion
Das Buch hat zwei zentrale Implikationen. Erstens: Soziale Arbeit ist verstrickt mit strafenden Institutionen und führt in verschiedenen Kontexten eine eigene strafende und kontrollierende Funktion und Logik aus (z.B. in Jobcentern oder Jugendhilfe). Zweitens: Soziale Arbeit kann auf Solidarität, Fürsorge und soziale Gerechtigkeit ausgerichtet sein und somit eine befreiende Rolle spielen. Die verschiedenen Autor*innen heben hervor, dass es keine einfachen Antworten gibt und einige Grundfragen umstritten sind, welche der Sammelband aufgreift und undogmatisch analysiert. Das Buch bezieht sich auf US-amerikanische Geschichte und politische Verhältnisse. Einige Grundlagen ähneln sich, andere (wie Organisationsformen und Entwicklung der Sozialen Arbeit) unterscheiden sich zum deutschen Kontext. Beispielsweise haben Polizei, das Gefängnissystem oder das „child welfare system“ in den USA einen anderen historischen Kontext (z.B. Siedlerkolonialismus (siehe Kapitel 4), Sklaverei, Jim Crow Ära (siehe Kapitel 5)) als in Deutschland. Auch die Profession der Sozialen Arbeit hat eine andere Tradition und Geschichte in Deutschland als in den USA (siehe z.B. Kapitel 1, auch wenn die US-amerikanische Begründerin der Sozialen Arbeit Jane Addams natürlich auch die Entwicklung Sozialer Arbeit in Deutschland geprägt hat).
Fazit
Das Buch „Abolition and Social Work“ liefert nicht nur kritische Denkanstöße, sondern wichtige Praxishinweise für eine auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit ausgerichtete Profession und Praxis der Sozialen Arbeit. Die verschiedenen Autor*innen legen dabei nicht nur Möglichkeiten, sondern auch Paradoxe einer abolitionistischen Sozialen Arbeit dar. Auch wenn nicht jeder Aspekt des US-fokussierten Buches eins zu eins auf Deutschland übertragbar sind, ist das Buch jedem Sozialarbeitenden und angrenzenden Professionen in Deutschland zu empfehlen und eine weitere Verbreitung, Diskussion, Übersetzungs- und Übertragungsarbeit auf den deutschen Kontext unbedingt weiterzuverfolgen.
Rezension von
Deike Janssen
Sozialarbeiterin und Politikwissenschaftlerin;
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