Esma Isis-Arnautović: Vom Menschenbild zum Paradigma
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.07.2024

Esma Isis-Arnautović: Vom Menschenbild zum Paradigma. Zur Begründbarkeit einer theologischen Anthropologie im Islam.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2024.
285 Seiten.
ISBN 978-3-7560-1564-1.
69,00 EUR.
Reihe: Theologie, Bildung, Ethik und Recht des Islam - 10.
Fragen nach dem Wer? – Woher? – Wohin?
Es ist eine mit Mosaiken bestückte, farbenfrohe, fragmentierte Leinwand, auf der Bruchstücke und leere weiße Stellen des Themenfeldes „Theologische Anthropologie des Islam“ zu sehen sind. Es sind Fragen danach, ob der Islam für Anders- oder Nichtgläubige Feind oder Freund ist (Monika Tworuschka, 2019), ob in demokratischen, freiheitlichen Gesellschaften muslimische Ideologien Platz haben (Kai Hafez, 2013), wie antimuslimischem Rassismus begegnet werden kann (Petra Wild, 2018), wie in liberalen, demokratischen Gesellschaften religiöse Bildung vermittelt werden kann (Zekirija Sejdini, Hrsg., 2016), wie in der Moderne (Slavoj Zizek, 2015) der Islam neu gedacht und gemacht werden kann (Katajun Amirpur, 2013). Ich- und Weltanschauung sind intellektuelle, anthropologische Herausforderungen (siehe z.B. dazu auch: Anne Conrad, u.a., Hrsg., Erziehung als „Entfehlerung“. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/22612.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Es sind die abendländischen, philosophischen Fragen danach, wer der Mensch ist, was er wissen kann, was er tun soll und was er hoffen darf (Immanuel Kant), die sich in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt existentiell stellen und interkulturelles Denken und Handeln und den interreligiösen Dialog fordern. Die Auseinandersetzung mit dem Islam als Glaubensgemeinschaft macht es notwendig, die (gesetzten) Grundlagen der Glaubenslehre zu bedenken: Da ist zum einen die Sunna als prophetisches Wissen und Überlieferung; zum anderen ist es das Menschenbild, das sich als Botschaft, Gesetz und Offenbarung vermittelt.
Die Islamwissenschaftlerin Esma Isis-Arnautovic vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Université de Fribourg legt ihre Dissertationsschrift „Vom Menschenbild zum Paradigma“ vor. Sie plädiert darin für eine theoretische und praktische theologische Anthropologie des Islam: „Wer sich mit theologischer Anthropologie im Islam beschäftigt, betritt ein ungeahnt großes Forschungsfeld“. Es sind zum einen die in der Glaubenslehre vermittelten Überlieferungen, wie sie im Koran geschrieben sind; zum anderen aber vor allem im Wissen und Glauben daran, „wie Gott sich offenbart, neben relevanten Aussagen über den Menschen auch grundsätzliche Eckpfeiler für die Konzeption und Begründbarkeit einer theologischen Anthropologie“. Offenbarung und Mensch, das sind die Paradigmen, die aufeinander bezogen sind. Es ist nicht die Frage, ob es einen Gott gibt, oder ob der Gottesglaube eine menschliche Erfindung ist, sondern das Plazet, dass islamisch-theologische Studien sub- und interdisziplinär sich vollziehen.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einführung und Begründungsrelevanz, gliedert die Autorin ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit in drei Teile. Im ersten Teil sondiert und problematisiert sie „Theologische Anthropologie im Islam“, indem sie Ansprüche und Kontroversen zur Sprache bringt und den internationalen Forschungsstand aufzeigt. Im zweiten Teil analysiert und reflektiert sie „Theologische Anthropologie aus offenbarungstheologischer Perspektive“, als Kommunikationsprozess zwischen Gott und Mensch, als „Gottesrede“ und „Menschenwort“. Im dritten Teil vermittelt die Autorin einen Rück- und Ausblick auf die „Theologische Anthropologie als Paradigma“. Die aktuellen fachspezifischen und übergreifenden Diskurse zu den wissenschaftlichen Fachbereichen differenzieren als „Anthropologie des Islam“ oder „Islamische Anthropologie“. Mit dem Vorschlag, die unterschiedlichen, theoretischen und praktischen Zugänge in einem wissenschaftlichen Fach „Islamisch-theologische Studien“ zusammen zu bringen und eine „islamisch geprägte Sozialanthropologie“ zu begründen, fokussiert die Autorin die humanistische Überzeugung, dass die Werte: Menschenwürde, Selbstbestimmung, Gleichheit aller Menschen, Individualität, soziale Verantwortung, Solidarität… Grundlagen der conditio humana sind. Es ist nicht die Theozentrik, sondern der Humanismus, wie er sich als „sapere aude -Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ anbietet. Der interreligiöse Diskurs könne sich modellhaft auf verschiedene Denkrichtungen ausrichten: „Schöpfung – fitra – halifa – 'abd – umma – nafs – amana“. Über Gott reden heißt demnach, mit Menschen sprechen und leben, menschenwürdig, friedlich und gleichberechtigt. Und „Gottesrede“ ersetzt „Gott nicht durch einen Text…, sondern seine Präsenz im Akt der Rezitationshandlung“. Was bleibt? Es sind philosophische, theologische und sozialanthropologische Fragen; und es sind die Auseinandersetzungen mit der menschlichen Geschichte, den Kulturen und Empathien.
Diskussion
Navid Kermani nimmt mit seinem ersten Kinderbuch „Fragen nach Gott“ die Aufforderung auf: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“, körperlich und geistig; weil wegen Glaubensfragen in der Menschheitsgeschichte immer wieder Konflikte, Gewalt und Kriege entstanden sind und weiter entstehen. Er zelebriert einen Dialog, ein Gespräch, eine Belehrung, und Vermutungen darüber, was der Islam, sein Glaube, den er in seinem Heimatland, Iran, von seinen Eltern erworben und erfahren hat, für ihn heute ist – und wie er ihn an seine Nachkommen weitergeben kann. Es ist keine Glaubenslehre, sondern eine Glaubens-Erzählung, die gespickt ist mit Erfahrungen, Erlebnissen, Vermutungen, Hoffnungen und Zweifeln (Navid Kermani, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29121.php). Es sind die freiheitsbezogenen, humanen Hoffnungen, die religiöses Denken und Handeln zu einem der bedeutsamsten, existentiellen Grundlagen eines erdbewussten, kosmosbestimmten Grundlagen des Lebens machen.
Fazit
„Gottes Offenbarung macht … nicht Halt vor physischen Grenzen (und menschlichem Wollen und Sollen, JS), sondern kommt dem Menschen so nahe, wie er sich nur selbst sein kann“. Göttliche Zeugnisse und Zeichen vermitteln sich dem Menschen in Offenbarungen; im Islam ist es der Koran und sind es die Hadithen. Sie zu lesen und zu interpretieren, dazu bedarf es des intellektuellen Seins.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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