Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.): Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung
Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 11.06.2024
Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.): Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung. Analysen und Reflexionen. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 330 Seiten. ISBN 978-3-593-51662-2. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Hinführung
In Zeiten hoher Kirchenbindung setzten sich in der Hochzeit der Industrialisierung viele führende Kirchenvertreter nachhaltig und vehement für die Belange der Arbeitenden und ihrer Familien ein. Katholische Soziallehre und evangelische Sozialethik standen in Deutschland neben sozialistischen Impulsen zu Ende des 19. Jahrhunderts an der Wiege von Bismarcks Sozialversicherungspolitik. In der Weimarer Zeit kämpften christliche Sozialdenker für Wirtschaftsdemokratie, korporatistischen Schutz, familienstützende Maßnahmen und Selbsthilfe der arbeitenden Bevölkerung. Und in der Aufschwungzeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der Bundesrepublik Partizipation und Vermögensbildung der Arbeitenden gerade auch über Unternehmens-Mitbestimmung und investive Lohnanteile nachdrücklich ins Gespräch gebracht. Nun, da der Anteil der kirchlich gebundenen deutschen Bevölkerung mit knapp der Hälfte der Gesamtpopulation in etwa gleich so hoch ist, wie die den christlichen Kirchen Fernstehenden, darf gefragt werden, wie sich die Stoßrichtung der christlichen Kirchen in Richtung auf Sozialreformen ausnimmt. Dazu ist von Campus in Frankfurt aus Anlaß des 80. Geburtstags des Münsteraner katholischen Kirchensoziologen Karl Gabriel der Aufsatzband „Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung“ vorgelegt worden.
Autor- und Herausgeberschaft
Dr. phil. Hermann-Josef Große Kracht ist außerplanmäßiger Professor für Theologie und Sozialethik an der Technischen Universität Darmstadt.
Dr. theol. Christian Spieß lehrt als Universitätsprofessor Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Universität Linz.
Autoren und Autorinnen des Bandes „Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung“ arbeiten in Lehre und als Forschende an evangelischen und katholischen Fakultäten der Universitäten Bochum, Darmstadt, Münster und Tübingen, sind als Sozialwissenschaftler tätig an den Universitäten Bremen, Göttingen und Münster oder vertreten die Sozialethik an den Kirchlichen Universitäten/Hochschulen Frankfurt/Main und Linz/Österreich.
Inhalte
Der Band „Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung“ zeichnet zum einen die sozialpolitischen Impulse nach, die aus christlichen Vorstellungen heraus den überkommenen Sozialstaat in Deutschland mit prägten. Andererseits werden die kirchensoziologischen Wandlungen in der mehr und mehr vom Christentum sich entfernenden Gesellschaft in Deutschland beschrieben. Voraus geblickt wird auf mögliche Einschränkungen und Modifikationen, die dem Sozialstaat bei Abnahme der Kirchenbindung und Ausdünnung des Kirchenmilieus bevorstehen. Insofern knüpfen die Beiträge nicht mehr an die nachdrücklichen kirchlichen Aufrufe der sozialpolitischen Frühzeit an, sondern reflektieren unter empirischen religionssoziologischen Befunden die aktuellen Möglichkeiten und Spielräume kirchlicher sozialpolitischer Impulse.
Inhalte im Einzelnen
Es werden aus Anlass des 80. Geburtstags des katholischen Kirchensoziologen und Sozialethikers Karl Gabriel im Jahre 2023 insgesamt 13 jeweils 20- bis 30-seitige Beiträge vorgelegt.
In die Frühzeit des deutschen Sozialstaats und der katholischen Soziallehre in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird der Blick geworfen, mit Eduard Heimanns Bestreben, die Industriegesellschaft vor dem Zerbrechen zu bewahren und ihre Arbeitenden gesellschaftlich zu integriere. Die Partizipation der Arbeitenden sollte sie zu Mitgestaltern der ökonomischen Prozesse befähigen; hierzu notwendig erscheinen berufsständische Korporationen mit der von katholischer Seite angestossenen Solidaristen-Bewegung in der Gefolgschaft des Subsidiaritätsprinzips.
Die Verständigung über die Aufgaben des Sozialstaats wurde Mitte des 20. Jahrhunderts wesentlich befördert von Ernst Forsthoffs Forderung nach staatlicher Daseinsvorsorge mit dem Gedanken der Staatsbedürftigkeit der Wirtschaft. Ernst-Wolfgang Böckenförde sah die ursprünglich dem Liberalismus verdankte Freiheit nur gewährleistet, wenn der Sozialstaat drohende Friktionen und Widersprüche durch Ausgleiche und Regulierungen aufhebt, wobei sich dieser Staat aber mit der Globalsteuerung von Investitionen und Verteilung des Erwirtschafteten auch überfordern könnte. Eine Lösung könnte in Sozialisierungen nach Artikel 15 des Grundgesetzes bestehen. Die neomarxistische Position vertritt Frank Nullmeier mit der Lösungsmöglichkeit einer
Gesellschaft nach Überwindung der Klassendichotomie mit ihrer dann gegebenen Fähigkeit der allseitigen Befriedigung der „guten“ (nicht mehr der Ausbeutung dienenden) Bedürfnisse.
Der katholischen Soziallehre ist ein Schritt zur individuell-autonomen Ethik mit einer Anerkennungskultur eigen. Das Individuum sei aus seiner Sozialnatur heraus zu respektieren ohne Ausschließung, dafür mit Inklusion. In diese Richtung geht auch der Ansatz des Capabilities Approach mit der Befähigung zum aktiven Handeln, das von Not befreit sein muss; dazu bedarf es des Ausgleichs von Defiziten und Mängeln auf vielen Feldern wie Gesundheit, Ernährung, Wohnen, Mobilität, Persönlichkeitsbildung, Meinungsfreiheit, Demokratiefähigkeit, Integration, Partizipation, Umweltkontrolle, Erholung.
Spezielle Betrachtungen gelten der Stellung der Frau in der Familie und der Wohnungs-Förderung. Bei der sozialpolitischen Positionierung der Frau macht sich eine lange währende sozialrechtliche Ausrichtung auf den Mann hin als Familien-Ernährer noch immer für Frauen nachteilig bemerkbar. Die Stellung der Frau hat sich aber emanzipatorisch durch die Mehrförmigkeit familialen Zusammenlebens von der patriarchalischen Familie weg nachhaltig geändert. Die Verberuflichung der Frau durch Dienste im Gesundheitswesen wird schwergewichtig an Beispielen aus der evangelischen Diakonie erhellt. Die katholische Wohnungspolitik hat lange mit ihren Siedlungswerken eine konfessionell homogene, traditionelle Familie gestützt. Zugleich ist hierin ein Ansatz zur Vermögensbildung zu sehen.
Einige Beiträge thematisieren das katholische Milieu, wobei ein Milieu-Wandel über Generationen hinweg betrachtet wird. Der schlägt vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch, mit einer Mischung von Tradition, Transformation und Abkehr. Eine spezielle Untersuchung fragt nach der Herkunft von AfD-Wählern aus dem katholischen Milieu, die aus dem Schwenk der CDU in die politische Mitte hin enttäuscht sein könnten.
Soziale Bindungslosigkeit und mangelnde soziale Kontrolle lässt Mitnahme-Effekte von Sozialleistungen im Sinne von Moral Hazard zunehmen, mit immer höheren Sozialleistungsquoten und Gefährdung der Investitionen mit abnehmenden Netto-Investitionsquoten. Die pluralen Gesellschaften können nur zusammengehalten werden mit einer Absehung von fundamentalistischen Positionen im Sinne einer Säkularität mit einer Konzentration auf die gemeinsam von den Weltanschauungsgruppen zu bewältigenden Aufgaben unter pragmatischem, gemeinsamem Handeln der Akteure aus den verschiedenen politisch-religiösen Lagern. So ließen sich die Herausforderungen der Gegenwart mit ihren pluralen Gesellschaften ohne sprengende Konflikte lösen; zugleich ermögliche solche Säkularität im organisatorischen Binnenbereich eine religiös läuternde Rückkehr zum Glauben.
Diskussion
Der Aufsatzband „Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung“ geht sozialpolitischen und religionssoziologischen Veränderungen seit Einsetzen der Industrialisierung nach. Der Einfluss der christlichen Soziallehre war zu Beginn der staatlichen Sozialpolitik und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch hoch mit Einforderung von Partizipation, Risikoabsicherung, Stützung traditionaler Familien und Wohn-Vermögensbildung. Mit dem Rückgang der Kirchenbindung und dem Aufkommen neuer, sich diversifizierender Lebensmilieus, die sich von christlichen Traditionen entfernen, sinkt die Einfluss-Wirksamkeit der von den Kirchen vertretenen Forderungen auf die Sozialpolitik. Mit dem Verfolgen von Daseinsvorsorge und Lebenslagen-Gestaltung macht sich der säkulare Staat zum Anwalt aller seiner Bürger. In dieser Gemengelage bleiben große Entwürfe der christlichen Soziallehre von einst wie die Wirtschaftsdemokratie, Betriebsräte-Organisation, Investivlohn und Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand außen vor.
Diese Feststellungen hätten in der vorliegenden Schrift zur Wohlfahrtspolitik auch in Zeiten sinkenden kirchlichen Einflusses noch stärker herausgearbeitet werden sollen. So besteht die Stoßrichtung der zusammen gestellten Aufsätze mehr in kleinteiligen Betrachtungen von normativen Wandlungen im familialen und positionellen gesellschaftlichen Verhalten sowie in den Staat überfordernden, teils ungerechtfertigten Annehmen von Sozialleistungen ohne Not. Andererseits fehlen im Sammelband wichtige Hinweise auf die ja auch die Kirchen umtreibende, immer problematischer werdende Vermögenskonzentration und auf die auch die kirchlichen Dienste überfordernde Bürokratie mit minutiösen und zeitaufwendigen Dokumentationspflichten, auf die die Kirchen an anderer Stelle hinweisen. Dies hätte auch hier dokumentiert gehört. Nicht im Blick hat der Band auch die Wandlungen zur postindustriellen Gesellschaft mit Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz.
Einige der mitgeteilten Wandlungen und Vorschläge wie die Anerkennungskultur und die Befähigung zu allseitiger Lebensgestaltung (Capabilities Approach) finden sich auch längst im säkularen Bereich erhoben. So ist die Einbindung Betroffener in die Lösung ihrer Angelegenheiten seit den 1970er Jahren im Kommunitarismus Amitai Etzionis zu finden. Und die erweiternde Erstreckung sozialpolitischer Stützungen auf vielerlei Lebensbereiche findet sich im ebenfalls 50 Jahre alten SPES-Modell (Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatoren-System) Frankfurter und Mannheimer Sozioökonomen um Wolfgang Zapf.
Bei diesen Zufälligkeiten und Defiziten wundert es nicht, dass die Herausgeber ihrem Band keine zielbestimmende und erkenntnis-suchende Einleitung vorausschicken, mit einer Darlegung ihrer Erkenntnisziele. Hermann-Josef Große Krachts einziger Beitrag über die Feststellungen Ernst-Wolfgang Böckenfördes ist nur eine Sekundärarbeit ohne eigene Positionierung des Verfassers. Positiver zu sehen ist da der Inklusions-Beitrag von Mit-Herausgeber Christian Spieß, der von der Kritik an der sozialpolitisch zu lange dem Kapitalismus gegenüber mit der Gemeinwohl-Entschuldigung zu unkritischen Kirche nun die Denkschrift „Evangelii gaudium“ von 2013 mit ihrer Forderung der Inklusion der Armen aufgreift.
Etwas befremdlich mutet der schwer zu lesende letzte Aufsatz des Bandes von Matthias Möhring-Hesse an, nicht nur, weil er statt von „Säkularisierung“ (wie im Titel des Gesamtbandes formuliert) von „Säkularität“ spricht. Sondern auch, weil er sich der Hoffnung hingibt, dass in einer pluralistisch multiplen Gesellschaft die Akteure zur Lösung der alle Beteiligten betreffender Herausforderungen auf Teile ihrer die Welt deutenden Positionen verzichten könnten. Unter diesem erwünschten Vorgang versteht er dann „Säkularität“. Hier sei die sich aufdrängende Frage erlaubt, ob denn in pluralen Gesellschaften alle sich stellenden Herausforderungen von allen Akteuren in gleicher Weise als solche erkannt werden. Vieles spricht doch für die sozialpsychologisch erhärtete Feststellung, dass Zuwandernde ihre Positionen im Zielland besonders nachhaltig betonen.
Wenig mit der Gesamtthematik des Bandes zu tun, hat der Beitrag zu den Wahlstimmen für die AfD aus dem katholischen Milieu; die Stimmen kämen stärker aus dem ehedem nicht preußisch dominierten als aus dem seinerzeit kulturpolitisch preußisch beeinflußten Bereich, mutmaßt der Beitrag auf empirisch dünner Grundlage am Beispiel rheinland-pfälzischer Landesteile; dabei wurden für deren angenommene Zweiheit des einst preußischen Rheinland-Teils und der bayerischen Pfalz die ehedem großherzoglich-hessischen und hessen-nassauischen Landesteile übersehen.
Fazit
Der Band „Wohlfahrtsstaat in Zeiten der Säkularisierung“ wirft Blicke auf die zurück gehenden Einflüsse der christlichen Soziallehre auf die deutsche Sozialpolitik. Dabei werden die Akzente stärker auf die den Normwandel beschreibende Religionssoziologie als auf die sozio-ökonomische Stoßrichtung gesetzt. Die Kirchen auch beschäftigenden zunehmenden Vermögensungleichheiten und die ausufernde Bürokratie im Gesundheitsbereich kommen nicht zur Sprache. Die beschriebenen Wandlungen im familialen Leben und im katholischen Milieu sind lesenswert.
Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
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Zitiervorschlag
Kurt Witterstätter. Rezension vom 11.06.2024 zu:
Hermann-Josef Große Kracht (Hrsg.): Wohlfahrtspolitik in Zeiten der Säkularisierung. Analysen und Reflexionen. Campus Verlag
(Frankfurt) 2023.
ISBN 978-3-593-51662-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32257.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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