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Nadine Sarfert: Unerhörte Jugendliche

Rezensiert von Dr. Barbara Umrath, 12.09.2024

Cover Nadine Sarfert: Unerhörte Jugendliche ISBN 978-3-593-51803-9

Nadine Sarfert: Unerhörte Jugendliche. Artikulationen von Klasse und Geschlecht in der stationären Jugendhilfe. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. 406 Seiten. ISBN 978-3-593-51803-9. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.

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Thema

Selbstverhältnisse Jugendlicher in der Heimerziehung zwischen Eigensinn und bürgerlich-hegemonialen Normen

Die Studie von Nadine Sarfert untersucht, wie Jugendliche in den stationären Hilfen mit gesellschaftlich dominanten Normen, Zuschreibungen und Erwartungen umgehen. Damit lässt sich die Arbeit dem breiteren Feld der Kinder- und Jugendhilfeforschung und hierbei wiederum der biografisch orientierten Adressat*innenforschung zuordnen. In der Tradition einer kritischen Sozialen Arbeit stehend findet neben dem institutionellen Kontext der stationären Jugendhilfe die Wirkmächtigkeit bürgerlich-kapitalistischer und vergeschlechtlichter Gesellschaftsstrukturen ausdrücklich Berücksichtigung.

Autorin und Entstehungshintergrund

Dr. Nadine Sarfert hat zunächst Soziale Arbeit und Geschlechterforschung in Berlin studiert, bevor sie mit der vorliegenden Studie an der Universität Basel promoviert wurde. Die Dissertation entstand im Rahmen des dortigen Graduiertenkollegs Gender Studies, das bis zu ihrer Emeritierung von Prof. Dr. Andrea Maihofer geleitet wurde. Deren Arbeiten, die kritische Gesellschafts-, Subjekt- und Geschlechtertheorie verbinden, stellen denn auch einen zentralen Bezugspunkt von Sarfert dar.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel, deren Aufbau den für empirische Studien üblichen Konventionen folgt. In der Einleitung wird das Erkenntnisinteresse dargelegt. Im Sinne des titelgebenden, von Stuart Hall geprägten Begriffs der Artikulation geht es darum zu untersuchen, wie die Selbstverhältnisse von Jugendlichen in den stationären Hilfen „mit institutionellen Zwängen und gesellschaftlichen Widersprüchen korrespondieren“ (S. 23). Mit Hilfe der Tiefenhermeneutik als Auswertungsmethode soll dem sowohl auf der manifesten Ebene bewusster, intendierter Aussagen und Handlungen als auch auf der Ebene unbewusst-latenter Sinngehalte nachgegangen werden.

In Kapitel 2 werden die theoretischen Bezugspunkte der Studie ausführlich dargestellt. Anknüpfend an die Kritik der autoritären Heimerziehung im Kontext der 68er-Bewegung, an die Kritische Theorie insbesondere Adornos sowie deren Rezeption und Weiterentwicklung in der Sozialen Arbeit wird zunächst ein gesellschaftstheoretisches Verständnis von Jugendhilfe als „bürgerlich-kapitalistische[r] Sozialisationsagentur“ (S. 39) entwickelt. Diese wirke, so die Argumentation im Anschluss an Foucault’s Studien zur Gouvernementalität und deren Fruchtbarmachung für die Soziale Arbeit durch Kessl u.a., im Neoliberalismus primär als „Regierungstechnologie“ bzw. „Normalisierungsmacht“ (S. 49). Durch Zusammenführung von subjekt- und gesellschaftstheoretischen Überlegungen werden sodann „die theoretischen Grundlagen für eine Analyse individueller Umgangs- und Subjektivierungsweisen in der Jugendhilfe und deren Eingebundensein in gesellschaftliche Verhältnisse“ (S. 30) geschaffen. Neben Foucaults Verständnis von Subjektivierung als gleichzeitigem Prozess von Unterwerfung und Ermächtigung fungiert hierbei Maihofer als zentrale Referenz. Ihr folgend begreift Sarfert das moderne, bürgerliche Subjekt als konstitutiv männliches Selbst- und Weltverhältnis, das mit machtvollen Prozessen der Hegemoniebildung, der Selbststilisierung und -affirmierung sowie nicht zuletzt solchen der Veranderung verbunden ist.

Kapitel 3 beschreibt das Forschungsdesign und reflektiert den Forschungsprozess. Zur Datenerhebung wurde eine Kombination aus ethnografischen Beobachtungen in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe und narrativen Interviews mit 18 Bewohner*innen eingesetzt (vgl. S. 84–93). Das Material wurde einerseits sequenziell, andererseits tiefenhermeneutisch ausgewertet.

Die Kapitel 4 bis 6, die rund zwei Drittel des Buches ausmachen, legen die empirischen Befunde ausführlich dar. Kapitel 4 richtet den Fokus auf das System der Jugendhilfe und die darin eingebetteten Interaktionen zwischen Adressat*innen und Sozialarbeiter*innen. Besonderes Augenmerk gilt der Frage, „welche Rolle Macht und Hierarchien“ (S. 127) in diesem Kontext spielen. Dabei zeigt sich eine ‚Doppelbödigkeit‘ der professionellen Praxis: So orientieren sich die Fachkräfte ausdrücklich an Werten wie Partizipation und Augenhöhe, wirken mit ihrem Handeln latent jedoch auf eine – mehr oder weniger subtile – „Disziplinierung“ und „Zurichtung“ (S. 134) der Adressat*innen hin. Beispielsweise laden die Sozialarbeiter*innen die zur Teilnahme verpflichteten Jugendlichen bei einem Gruppennachmittag dazu ein, eigene Bedürfnisse und Anliegen einzubringen, greifen aber nur auf, was in den von ihnen vorgegebenen Rahmen passt. Auf jugendlichen Eigensinn und Nicht-Anpassung an bürgerlich-hegemoniale Normen wird hingegen mit einer Abwertung entsprechender Orientierungen, Zukunftsvorstellungen und Wünsche reagiert. Auf diese Weise, so Sarferts Schlussfolgerung, fungiert Jugendhilfe im Sinne „einer sozialen Platzanweisung“ (S. 134), welche die häufig aus sozial benachteiligten Milieus stammenden Adressat*innen an ihre untergeordnete Position im Klassenverhältnis erinnert und darauf festlegt (vgl. S. 158–162).

Kapitel 5 wendet sich den Artikulationsweisen der jugendlichen Adressat*innen zu. Rekonstruiert werden zunächst deren Erfahrungen von Stigmatisierung als Jugendliche in der Jugendhilfe, wobei deutlich wird, wie die Konfrontation mit negativen Zuschreibungen ein „Gefühl des Ausgeliefertseins“ (S. 189) hervorrufen kann. Sodann werden an konkreten Fallbeispielen unterschiedliche Subjektivierungsweisen der Adressat*innen herausgearbeitet. Diese unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Selbststilisierungen sowie der Übernahme bzw. Zurückweisung hegemonialer Normen. Ihnen gemeinsam ist, dass in allen Fällen unterhalb der jeweils dominanten Selbstinszenierungen – etwa als abgebrüht, cool und nicht auf Dritte angewiesen – weniger sichtbare Sorgen und Bedürfnisse existieren, die wahrzunehmen elementar ist, um den Jugendlichen in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Schließlich wird herausgearbeitet, wie die in der Jugendhilfe nicht nur geförderte, sondern auch geforderte Autonomie und Selbstbestimmung ganz im Sinne des klassischen bürgerlich-männlichen Subjektverständnisses eine Negation von Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit impliziert, unter der die befragten Jugendlichen immer wieder leiden – auch dann, wenn sie diese in ihren Selbststilisierungen reproduzieren. In Rückbindung an die zuvor dargestellten theoretischen Bezugspunkte wird dies als strukturell bedingte „Kälte und Zurichtung“ (S. 256) gedeutet, die ihre Wurzeln in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft hat und entsprechend auch die als Vermittlungsinstanz fungierende Jugendhilfe prägt.

Kapitel 6 richtet das Augenmerk darauf, wie die Jugendlichen auf Geschlechternormen Bezug nehmen, mit denen sie innerhalb wie außerhalb der Jugendhilfe konfrontiert sind. Gezeigt wird, wie stark die Abarbeitung an bürgerlich-hetero-patriarchalen Männlichkeits- und Weiblichkeitsnormen die Selbstverhältnisse der Befragten prägt, die zum Interviewzeitpunkt allesamt als cisgeschlechtliche junge Frauen bzw. Männer lebten (vgl. S. 27). Die männlichen Jugendlichen geben sich im Sinne einer Orientierung an ‚hegemonialer Männlichkeit‘ (Connell) betont cool und autonom, bekommen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung ihre gleichzeitige Abhängigkeit und Schwäche jedoch in stärkerem Maße als andere Gleichaltrige zu spüren. Unter diesen Voraussetzungen gewinnt die Distanzierung und Abwertung von allem, was als ‚unmännlich‘ bzw. ‚weiblich‘ gilt, eine um so zentralere Rolle für die Stabilisierung eines Selbstverhältnisses als Mann, das mit Pohl als stets fragil verstanden wird (vgl. S. 296–317). Die „ambivalente bis feindselige Haltung gegenüber der Jugendhilfe“ (S. 309) und den größtenteils weiblichen Sozialarbeiter*innen, welche bei den jungen Männern zu beobachten ist, muss demzufolge als etwas verstanden werden, das durch gesellschaftlich hegemoniale Männlichkeitsnormen mitbedingt ist. Mädchen wiederum sehen sich mit der widersprüchlichen Anforderung konfrontiert, heute ebenfalls autonomes Subjekt zu sein, dabei aber weiterhin als begehrenswertes Objekt zu erscheinen. Die Interviewpartnerinnen suchen dem u.a. dadurch nachzukommen, dass sie sich noch bei Schilderungen sexualisierter Gewalterfahrungen als souverän und handlungsmächtig präsentieren (vgl. S. 333 ff.) bzw. viel Zeit und Energie investieren, um ihre Körper gemäß herrschender Schönheitsideale zu bearbeiten, auch wenn sie dies als Zumutung erleben (vgl. S. 321 f.). Dabei zeigt sich, dass die Subjektivierungsweisen junger Frauen im System Jugendhilfe nicht zuletzt entlang klassenspezifischer Körper- und Schönheitspraxen beurteilt werden (vgl. S. 358 ff.). So wird etwa eine ‚übertriebene‘ Beschäftigung mit dem eigenen Äußeren sowohl von den Sozialarbeiter*innen problematisiert als auch von der 16jährigen Roxy, die dem Jugendamt beweisen muss, dass sie ihrem Kind eine ‚gute‘, d.h. dessen Bedürfnisse priorisierende, Mutter sein kann (vgl. S. 337 ff.).

Die Schlussbetrachtung fasst die herausgearbeitete ‚Doppelbödigkeit‘ jugendlicher Artikulationsweisen noch einmal prägnant zusammen. In Abgrenzung zu „ein[em] spezifisch affirmative[n] Selbstverständnis der Sozialen Arbeit“ (S. 371), welches das auf Staub-Bernasconi zurückgehende Triplemandat als Überwindung des Spannungsverhältnisses von Hilfe und Kontrolle deutet, plädiert Sarfert für ein dialektisches Verständnis Sozialer Arbeit, das um die strukturelle Bedingtheit und einstweilige Nicht-Auflösbarkeit dieser Spannung weiß. In diesem Sinne werden abschließend konkrete Ansatzpunkte für eine kritische Praxis der Jugendhilfe als Reflexion und ‚Entunterwerfung‘ (Foucault) identifiziert (vgl. S. 375–380).

Diskussion

Bei der Studie von Sarfert handelt es sich um eine theoretisch wie methodisch anspruchsvolle Arbeit, die eine Vielzahl an Forschungssträngen gegenstandsbezogen zusammenführt und fruchtbar macht. Angesichts dessen ist verständlich, dass für die vorliegende Veröffentlichung aus Zeitgründen nur ein Teil des Materials vollständig ausgewertet werden konnte. Wo die Ergebnisse an empirisch bereits gut belegte Befunde anschließen – z.B. bzgl. der Dynamiken, die zu Hilfeabbrüchen in der stationären Erziehung führen (vgl. S. 253 ff.) – bereichern sie diese durch ein tiefenhermeneutisches Verständnis unbewusst-latenter Dimensionen. Dabei gelingt es der Verfasserin hervorragend, die institutionellen wie gesellschaftlichen Zwänge herauszuarbeiten, in denen sich jugendliche Adressat*innen wie Fachkräfte bewegen und vor deren Hintergrund sie um Handlungsfähigkeit ringen. Konsequenterweise wird die von der Autorin eingeforderte machtkritische (Selbst-)Reflexivität Sozialer Arbeit auch auf das eigene Vorgehen im Forschungsprozess bezogen – etwa wenn das Deutungsmonopol der Forscherin im Verhältnis zu den Adressat*innen und Sozialarbeiter*innen (vgl. S. 116 ff.) oder der eigene Anteil an der „Dethematisierung von Rassismus“ (S. 120) reflektiert wird.

Fazit

Indem die Studie von Sarfert ihren Blick darauf richtet, wie Jugendliche in den stationären Hilfen zur Erziehung mit hegemonialen Normen, Zuschreibungen und Erwartungen umgehen, leistet sie einen wichtigen und zeitgemäßen Beitrag zu einer machtkritischen, geschlechterreflektierten Jugendhilfeforschung. Insbesondere die empirischen Kapitel dürften auch von (angehenden) Praktiker*innen mit Gewinn gelesen werden, machen sie doch auf häufig subtile Gesten der Zuschreibung und Hierarchisierung aufmerksam und regen zur Reflexion eigener Deutungen und eigenen Handelns an.

Rezension von
Dr. Barbara Umrath
Diplom-Pädagogin im Bereich der Schnittstellen von Geschlechterforschung, kritischer Gesellschaftstheorie und Sozialer Arbeit
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Es gibt 1 Rezension von Barbara Umrath.

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Zitiervorschlag
Barbara Umrath. Rezension vom 12.09.2024 zu: Nadine Sarfert: Unerhörte Jugendliche. Artikulationen von Klasse und Geschlecht in der stationären Jugendhilfe. Campus Verlag (Frankfurt) 2023. ISBN 978-3-593-51803-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32259.php, Datum des Zugriffs 15.10.2024.


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