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Yaroslav Hrytsak: Ukraine

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 20.11.2024

Cover Yaroslav Hrytsak: Ukraine ISBN 978-3-406-82162-2

Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation. Verlag C.H. Beck (München) 2024. 480 Seiten. ISBN 978-3-406-82162-2. 34,00 EUR.

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Thema

Das Buch ist ein Beitrag zur Gesamtgeschichte der ukrainischen Nation und des Staats Ukraine. Und zwar der einzige aus der Feder eines im Land Geborenen und dort Gebliebenen. Sein Blick auf die Szene ist der eines sich seiner Nationalität bewussten Ukrainers. Wenn Staaten Pässe hätten, so der Autor, würde darin 1914 als Geburtsjahr des ukrainischen Staates eingetragen sein. Gleichzeitig aber wäre diese moderne Staatsbildung nicht denkbar gewesen ohne die lange Geschichte der ukrainischen Nationenbildung. Daher setzt das Buch in seiner chronologischen Darstellung mit der Geschichte der Rus ab dem 9./10. Jahrhundert ein und spannt den Bogen bis in die Gegenwart, wo sich die Ukraine, ohne dass der Prozess schon abgeschlossen wäre, wandelt von einer ethnischen zu einer zivilgesellschaftlichen Nation, deren politische Kultur sich grundlegend unterscheidet von der Russlands.

Entstehungsgeschichte

Die ukrainische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel (deutsche Übersetzung) Die Vergangenheit unter den Füßen: Eine globale Geschichte der Ukraine bei Portal Books. Das vorliegende Buch folgt der englischen Übersetzung, die 2023 im Sphere-Verlag (London) als Ukraine: The Forging of a Nation publiziert wurde; die Übersetzung ins Deutsche besorgten Karlheinz Dürr und Norbert Juraschitz; beide sind als Übersetzer ausgewiesen, der zweite Übersetzer hat Osteuropäische Geschichte und Ostslawische Philologie studiert.

Der Autor kann auf eigene frühere Arbeiten ab 1996, die nur zum Teil und lediglich auf Polnisch übersetzt wurden, zurückgreifen. Genannt seien (deutsche Übersetzungen) Abriss der Geschichte der Ukraine: Bildung des modernen ukrainischen Volkes im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Ukraine 1772–1999: Geburt eines modernen Volkes) und Der Prophet in seinem Vaterland: Iwan Franko und seine Gemeinschaft.

In der ausführlichen und kommentierten Sammlung der verwendeten Quellen am Buchende gibt der Autor an, welche Arbeiten anderer Autoren er benutzt hat und ihm als Stütze dienten. Zwei Historiker der ukrainischen Geschichte haben ihn maßgeblich beeinflusst: Ivan Lysiak Rudnytsky (1918–1919), in Nordamerika Professor für Ukrainische Geschichte, dessen Leben in Kindheit und Jugend eng verbunden ist mit jenem Teil der Westukraine, der als Galizien bekannt ist, und Roman Szporlok, in den USA Professor für Osteuropäische Geschichte, der 1933 geboren wurde in einem Ort, der damals in Polen lag und – wie zuvor im österreichischen Galizien -Grzymałów hieß und heute als ukrainische Stadt den Namen Hrymailiv trägt.

Autor

Yaroslav Hrytsak wurde am 1. Januar 1960 im westukrainischen Dorf Dowhe, Rajon Stryj in der Oblast Lwiw (Lemberg) in einen Handwerkerhaushalt hinein geboren. Heute ist er Professor an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw und Direktor des Instituts für historische Forschungen an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw. Zu seinen weiteren akademischen Aktivitäten gehört auch, dass er Mitglied und Sprecher der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission ist. Er studierte von 1977 bis 1982 Geschichtswissenschaften an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw, wo er 1987 promoviert wurde, 1996 habilitierte er sich an der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine in Kyjiw (Kiew), Studienaufenthalte im Ausland folgten.

Wenn man, wie der Autor das tut, die Geburt der ukrainischen Nation auf das Jahr 1914 datiert, dann hat Yaroslav Hrytsak deren Geschichte zur Hälfte bewusst erlebt; er spricht also zu uns auch als Zeitzeuge. Welchen Wechselfällen Menschen(gruppen) auf dem Gebiet der heutigen Ukraine bis zu seiner Geburt unterworfen waren, konnte er an den Geschichten seiner Bezirkshauptstadt Stryj ablesen. Etwa an jener der dortigen Juden, die sich nur drei Jahrzehnte nach Gründung des polnisch-litauischen Reiches, der Rzeczpospolita, in der schon früher zum polnischen Königtum gehörenden Stadt ansiedelten. In der Rzeczpospolita erfuhren die dortigen Juden durch die jeweilige Obrigkeit starke Unterstützung, und auch später unter österreichischem und anschließend polnischem Regime hatten sie ein gutes Auskommen, was u.a. dazu führte, dass die Juden bis zur Hälfte die Stadtbevölkerung und Anfang des 20. Jahrhunderts gar den Bürgermeister stellten. Als die Nazis mit ihrem Mordhandwerk zu Ende waren, hatten von rund 18.000 Tausend Jüdinnen und Juden der Stadt ganze 19 überlebt; darunter der als Schriftsteller in Österreich, Polen und der Ukraine geehrte Adam Zielinski, Jg. 1929.

Aufbau und Inhalt

Am Anfang des Buches findet sich eine auf den Juli 2023 datierte, (wohl) eigens für das deutsch(sprachig)e Publikum verfasste und unter dem Eindruck des ersten Kriegsjahres geschriebene Einleitung, in der der Autor seine Motivation, die Zielsetzung des Buches und die dabei verfolgte Methodik darlegt.

Danach folgt der Kern des Buches, bestehend aus zwölf als Kapitel, Intermezzo bzw. Ausblick bezeichneten Teilen, von denen die eine Hälfte der Chronologie folgt und die andere sich einem bestimmten Sachverhalt widmet.

Die sechs chronologischen Teile tragen die Überschriften

  • Die Rus,
  • Der Kosakenstaat,
  • Das lange 19. Jahrhundert,
  • Ukraine 1914–1945,
  • Nachkriegs-Ukraine und
  • Die unabhängige Ukraine.

Die Anfänge der Kiewer Rus reichen bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts zurück. Auf dem Gebiet zwischen Ostseeraum, Schwarzem Meer und dem Bosporus bildete sich zu dieser Zeit ein Großreich heraus, das seit 862 von den Rjurikiden, einer Fürstendynastie aus dem Stamm der Rus, beherrscht wurde, bald die gesamten ostslawischen Gebiete vereinte und zahlreichen Heimat bot. Durch den Handel mit dem Byzantinischen Reich und mit der Annahme des Christentums in seiner byzantinischen (orthodoxen) Gestalt 988 durch die Rjurikiden erlebte das Reich eine wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit. Durch innere Fehden und äußere Angriffe von Steppenstämmen geschwächt, zerfiel dieses erste Großreich Osteuropas. Im Lauf des 14. Jahrhunderts kamen die nordöstlichen und zentralukrainischen Gebiete unter die Herrschaft des Großfürstentums Litauen, der südwestliche Teil unter die Herrschaft Polens; nach Gründung des Staates Polen-Litauen im 1569 war die Herrschaft in einer Hand.

Während des 16. Jahrhunderts schlossen sich vor allem entlaufene leibeigene Bauern und Abenteurer zu Kosaken-Heeren zusammen und gründeten unter anderem am Dnjeper größere Gemeinschaften. Nach dem Volksaufstand von 1648 und der Befreiung von der polnisch-litauischen Herrschaft bildeten sie zunächst einen unabhängigen Herrschaftsverband, gerieten jedoch bald wieder in neue Abhängigkeiten ihrer Nachbarn Polen und Russland. In der Folge zerfiel das Gebiet der heutigen Ukraine bald mehrheitlich in einen kleineren polnischen und einen großen russischen Teil; im zweiten wurden unter der Herrschaft Katharinas der Großen (1762–1796) in den südlichen und östlichen Gebieten der heutigen Ukraine zunehmend Deutsche und Russen angesiedelt.

Im Verlauf der Teilungen Polen-Litauens (1772-1795) wurde das nördliche und westliche Territorium der heutigen Ukraine aufgeteilt zwischen Russland und Österreich. Während die ukrainische Sprache und Kultur im Zarenreich mehr und mehr einer massiven Russifizierung ausgesetzt war, konnte sie sich unter habsburgischer Herrschaft, in Galizien, freier entfalten. Vor allem von dort gingen im 19. Jahrhundert Impulse zur Herausbildung einer eigenen ukrainischen Nation aus.

Das anschließende Kapitel Ukraine, 1914–1945 nimmt in der Darstellung eine besondere Rolle ein. Ich zitiere: „Die Geburt der Ukraine als moderne Nation geschah im Zeitraum 1914–1945, inmitten der Flammen von Kriegen und Revolutionen und stellt ein klar ausgeprägtes Kapitel der Geschichte des Landes dar.“ (S. 318) „Und das bedeutet, dass sie ein Geburtstrauma von Kriegs- und Revolutionsgewalt in sich trägt.“ (S. 321) Aber es gilt auch: „Natürlich hätte die Ukraine ohne den Krieg und die Revolution vermutlich andere Grenzen. Um es ganz offen zu sagen: Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich die ukrainische Nation ohne diese Ereignisse von Transkarpatien im Südwesten so weit bis zum Donbass im Osten hätte erstrecken können.“ (ebd.)

Die Geschichte der Nachkriegs-Ukraine, so die Kapitelüberschrift, ist die Geschichte der Ukraine als Sozialistischer Sowjetrepublik (SSR), von der wir im Westen zumindest wussten, dass dort Kernwaffen stationiert waren, es große Kernkraftwerke gab, von denen das bei Tschernobyl am 26. April 1986 schlagartig am bekanntesten wurde, und es nach der russischen SSR die größte Wirtschaftsmacht der UdSSR war. Zu groß, als dass diese ohne sie hätte überleben können:

„Zu Beginn der 1990er Jahre wurde der Zerfall der UdSSR zum wichtigsten Beitrag der Ukraine zur Weltgeschichte. Zwar war der Kommunismus gescheitert, doch hätte die Sowjetunion ohne die baltischen und die kaukasischen Republiken weiterexistieren können. Nach Proklamation der Unabhängigkeit der Ukraine war das jedoch nicht mehr möglich: ohne die Ukraine hatte die Sowjetunion ihren Daseinszweck verloren. [...] Der Austritt der Ukraine aus der Union der Sowjetrepubliken setzte der globalen Supermacht ein Ende, die nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und nach dem Zweiten Weltkrieg immer weiter erstarkt war und die schließlich die Welt mit einem Dritten Weltkrieg bedroht hätte.“ (S. 427).

Im letzten Kapitel der chronologischen Darstellung, Die unabhängige Ukraine, wird der Blick zugleich zurück gewendet zum Anfang der 1990er als auch nach vorn, weshalb es als Ausblick deklariert ist.

Die auf eine bestimmte Sache bezogenen Teile des Buches haben die Titel

  • Was sagt ein Name aus?,
  • Eine kurze Geschichte des ukrainischen Brotes,
  • Eine kurze Geschichte des ukrainischen Liedguts,
  • Eine kurze Geschichte des ukrainischen Grenzlands,
  • Eine kurze Geschichte der Gewalt und
  • Eine kurze Geschichte der ukrainischen Sprache.

In der Gesamtdarstellung des Buches haben sie – so darf man bei einer Vorwegnahme der Diskussion sagen – die Funktion, auf solche Aspekte der ukrainischen Geschichte aufmerksam zu machen, die für die Entwicklung einer ethnischen und politischen Identität essentiell waren und noch sind, in der chronologischen Darstellung aber keinen angemessenen Platz finden konnten.

Illustriert sei der Charakter der sechs Buchteile am Beispiel von Was sagt ein Name aus?, wo es um die Klärung der Begriffe Rus und Ukraine geht. Als Fazit seiner Nachforschungen und Überlegungen formuliert Yaroslav Hrytsak:

 „Kurzum: ‚Rus‘ ist primär der Name einer traditionellen, historischen Gemeinschaft, ‚Ukraine‘ hingegen ist primär der Name einer modernen Gesellschaft. So gesehen, verlief die Gründung der Ukraine auf drei Ebenen: von einem Volk zu einer Nation, von einer traditionellen zu einer modernen Gesellschaft, von Rus zu Ukraine. Auch wenn diese Formel den Sachverhalt allzu sehr vereinfacht, ermöglicht sie es, eine gewisse Ordnung in den terminologischen Wirrwarr zu bringen.“ (S. 41)

Am Ende des Buches findet sich eine mehrseitige Danksagung und danach ein Anhang, der Anmerkungen zur Transliteration, eine ausführlich kommentierte Auswahlbibliographie sowie ein umfangreiches Personenregister enthält.

Diskussion

Yaroslav Hrytsaks Werk bietet einen Blick auf die Ukraine in ihrem Gewordensein aus der Perspektive eines sich seiner Nationalität bewussten Ukrainers, und ist eine Gegenrede zu der traditionellen russischen, durch Putin immer wieder aktualisierten Geschichtsschreibung zur Ukraine. Der Autor seziert die Mythen der russischen Propaganda, bewahrt sich aber gleichwohl einen kritischen Blick für ukrainische Legenden und Übertreibungen. Yaroslav Hrytsak ergreift mit seiner Darstellung der Ukraine und ihrer Geschichte Partei, ohne Werte wissenschaftlichen Arbeitens zu verletzten.

Um das recht zu verstehen und würdigen zu können, muss man sein Buch lesen, weil man nur dann etwas mitbekommt von Yaroslav Hrytsaks Spirit.

Im vierten und letzten Band seiner „Geschichte des Westens“ schrieb Heinrich Winkler vor acht Jahren zur Ukraine: „Das Land war sich seines außenpolitischen Standorts selbst nicht sicher: In seinem Ostteil war es Rußland, in seinem Westteil mehr Europa und dem Westen zugewandt. So etwas wie eine gemeinsame politische Kultur der Ukraine gab es zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht; ihre Nationsbildung war unabgeschlossen.“ (Winkler 2016, S. 302) Das ist heute anders und der von Putin Anfang 2022 entfachte Krieg beschleunigt den Prozess der Nationsbildung; auch in diesem Fall gilt nach Yaroslav Hrytsak: „ein Krieg ist ein großer Zeitbeschleuniger“ (S. 454). Er beschreibt den jüngsten Abschnitt der Bildung einer ukrainischen Nation im Schlusskapitel „Die unabhängige Ukraine“, mit dem man das Lesen des Buches beginnen kann, um sich dann die dabei aufgeworfenen Fragen durch Lektüre früherer Partien beantworten zu lassen.

Manche Leser(innen) mögen den Kopf geschüttelt haben, als sie die Winklersche Formulierung „in seinem Westteil mehr Europa und dem Westen zugewandt“ gelesen haben. Ja, wo um alles in der Welt, ist denn die Ukraine, wenn nicht in Europa, denn sonst zu verorten? In Asien etwa? Das wohl nicht, wohl aber in jenem „Halb-Asien“, womit der galizische Jude Karl Emil Franzos 1876 das Gebiet bezeichnete, das – nach damaligen Bezeichnungen – Galizien und die Bukowina, Südrussland und Rumänien umfasst. Heinrich Winkler ist kein Einzelfall. Wer öffentliche Statements zur Sache aufmerksam hört oder liest, wird feststellen: Es besteht ein unverkennbarer Trend, den politisch-kulturell bestimmten Begriff des „Westens“ mit der geographisch-historischen Bezeichnung „Europa“ gleichzusetzen, wobei man die zweite Größe als abhängige Variable der ersten betrachtet. Radikal zu Ende gedacht, heißt das: Ein „Europa“, das noch 1989 im Osten nur bis zur Rhön reichte, würde sich nach Aufnahme einer siegreichen Ukraine in die EU rund 2.500 Kilometer weiter nach Osten erstrecken. Man ahnt den Unsinn solcher Logik. Auch Yaroslav Hrytsak verfällt ihm mitunter. So spricht er beispielsweise davon, dass die moderne Ukraine „danach drängt, sich mit Europa zu vereinigen“ (S. 42).

Bezeichnungen geographischer Großräume ergeben sich nicht von selbst und einzig „aus der Natur“. Nur haben die – menschengemachten – geographischen Bezeichnungen einen gewichtigen Sinn, dessen Bedeutung respektiert werden sollte. Yaroslav Hrytsak tut das auch meist. Er spricht differenziert von Nord-, Süd-, West-, und Osteuropa, ja sogar von Mitteleuropa. Er redet dabei augenscheinlich eben so, wie das vom Ständigen Ausschuss für geographische Namen (StAGN) vorgeschlagen wird. So haben sich slawische Stämme bis Ende des 9. Jahrhunderts niedergelassen „in Ost-, Mittel- und Südeuropa“ (S. 59), die Entwicklung der für die ukrainische Geschichte bedeutsamen Zivilisation in „ganz Osteuropa“ (S. 53) breitet sich von der Schwarzmeerregion aus nach Norden bis Kyjiw und von da aus in alle Länder der Rus, im 9. Jahrhundert tauchen im nordöstlichen Europa Skandinavier auf, die über das Flusssystem Osteuropas die Handelswege wieder herstellen zwischen dem Mittelmeerraum und „Nordeuropa“ (S. 60), was teilweise auch darauf zurückzuführen ist, dass sich mit der Festigung der karolingischen Macht die politischen Verhältnisse stabilisierten in „Westeuropa“ (S. 60), dem Gebiet westlich des Rheins. Beim Marsch durch die Geschichte braucht man eine gute Landkarte; Yaroslav Hrytsak hat sie.

Da wir gerade bei Kartografierung sind: Eine besondere und in ihrer politischen Bedeutung gerade heute wichtige Frage ist die, wo die Grenzen zwischen Mittel- und Osteuropa zu ziehen sei. Yaroslav Hrytsak markiert sie in Übereinstimmung mit dem StAGN als von Norden nach Süden verlaufende Linie an den Ostgrenzen der drei baltischen und der vier Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) und damit deckungsgleich mit der Ostgrenze sowohl der EU als auch der NATO. Das werden insbesondere seine polnischen Mitstreiter(innen) im Wissenschaftlichen Komitee „Collegium Artium“ in Kraków (Krakau) mit Wohlgefallen registrieren; besonders in Polen wird aus guten Sachgründen und angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine mehr als verständlich großer Wert darauf gelegt, nicht zu Ost-, sondern zu Mitteleuropa gezählt zu werden (Heekerens im Druck). Für Putin ist Osteuropa deckungsgleich mit Russki Mir.

Und noch etwas zur (politischen) Geographie: Durch das ganze Buch hindurch findet sich immer wieder und zu allen behandelten Epochen die Hervorhebung der Westukraine mit ihrem Zentrum Lwiw (Lemberg, Lwów) als eines Gebietes, das stets eine politische Sonderrolle spielte und das bis heute tut. Der Ansicht ist nicht nur der Autor, sondern seiner Einschätzung nach wohl auch Putin: „Eine Niederlage der Ukraine würde ihre Zerstückelung bedeuten. Der russischsprachige Osten würde, zusammen mit der Krim und der gesamten Schwarzmeerküste, von Russland annektiert werden. Die Westukraine – der Landesteil mit den stärksten antirussischen Empfindungen – könnte gehen, wohin sie wollte, zum Teufel damit. Der restliche Teil der Ukraine würde zu einem kleinen landwirtschaftlichen Vasallenstaat mit einer Marionettenregierung in Kyjiw geschrumpft werden“ (S. 438). Die Geschichte des Westteils der Ukraine ist mit jener Mitteleuropas und des Westens weitaus enger verbunden als die der übrigen Landesteile (Heekerens im Druck).

Zu den auf eine bestimmte Sache bezogenen Buchteilen gehört auch der zur ukrainischen Sprache. Sprache trägt wesentlich zur Identität eines Volkes bei. Darauf wurden ZEIT-Leser(innen) unlängst aufmerksam gemacht, als in der ZEIT Nr. 46/2024 vom 30. Oktober 2024 auf der Titelseite ein Leitartikel der polnischstämmigen Journalistin Olivia Kortas unter dem Titel „Aus Kiew wird Kyjiw“ erschien. Dort wird dargelegt, weshalb DIE ZEIT bei Nennung der ukrainischen Hauptstadt künftig deren ukrainischen Namen benutzen wird. Man kann über den Sinn dieser Maßnahme lange diskutieren. Was man aber nicht bestreiten kann: Das russische Imperium hat in Gestalt sowohl des Zarenreiches, der UdSSR und Putin-Russlands die ukrainische Sprache immer wieder hart bedrängt und tut das in seiner jüngsten Gestalt noch immer und aufs Heftigste. Yaroslav Hrytsak hat das im Kapitel „Eine kurze Geschichte der ukrainischen Sprache“ der Länge und der Breite nach beschrieben.

Die Bekämpfung der Sprache eines Volkes ist Genozid. Jedenfalls ist das die Ansicht des Mannes, der dieses Wort in die Welt gesetzt hat. Raphael Lemkin, der 1926 in Lwów (heute: Lwiw) in Recht promoviert wurde, hat unter seinem Konzept zwei Dinge zusammen gedacht, die er mit „Barbarei“ bzw. „Vandalismus“ markierte. „Das erste definierte ich als die Vernichtung nationaler und religiöser Gruppen, das zweite als Zerstörung kultureller Werke, die als Sinnbild für die einzigartige schöpferische Geisteskraft dieser nationalen und religiösen Gruppen standen. Ich wollte sowohl die physische Existenz als auch das geistige Leben dieser Gruppen schützen“ (Lemkin 2020, S. 89). In Genoziden geschah immer und geschieht noch heute, wenn auch manchmal zeitlich verschoben, Beides: Barbarei und Vandalismus.

Fazit

Unbedingt lesenswert. Zumindest für jene, die – aus welchen Gründen auch immer – verstehen wollen, was sich hinter dem erneuten Putinschen Angriffskrieg auf die Ukraine verbirgt und weshalb sich das ukrainische Volk diesmal so heftig wehrt. Wie man es mit der Ukraine hält, ist spätestens seit Februar 2022 keine bloß akademische Frage mehr; die Antwort darauf beeinflusst aktuelles Wahlverhalten und formt auf mittlere Sicht die politische Landschaft Deutschlands. Das vorliegende Buch ist ein gutes Hilfsmittel bei der Meinungsbildung für alle, die dem Sog des Populismus Widerstand leisten wollen.

Literatur

Heekerens, Hans-Peter, im Druck: So fern – so nah: Eine Lesereise nach Galizien. Berlin u.a.: LIT Verlag. ISBN 978-3-643-15622-8

Lemkin, Raphael, 2020. Ohne Auftrag: die Autobiographie von Raphael Lemkin. Eschenlohe: Buxus Stiftung. ISBN 978-3-9817614-3-6

Winkler, Heinrich, 2016. Geschichte des WestensBd. 4: Die Zeit der Gegenwart. 3. Aufl. München: C.H.Beck. ISBN 978-3-406-66984-2

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 182 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 20.11.2024 zu: Yaroslav Hrytsak: Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation. Verlag C.H. Beck (München) 2024. ISBN 978-3-406-82162-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32280.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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