Christoph Mattes, Simon Rosenkranz et al. (Hrsg.): Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat
Rezensiert von Prof. Dr. Kerstin Herzog, 15.08.2024
Christoph Mattes, Simon Rosenkranz, Matthias D. Witte (Hrsg.): Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat. Eine international vergleichende Reflexion. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 187 Seiten. ISBN 978-3-7799-8244-9. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
Der als „international vergleichende Reflexion“ angekündigte Herausgeberband vertritt die These, dass Schulden nicht nur individuelle Probleme sind, sondern tief in sozialen und wirtschaftlichen Strukturen verwurzelt sind. Die Beiträge verdeutlichen, wie soziale Sicherungssysteme die Entstehung und Überwindung von Überschuldung beeinflussen. Die Autor:innen erörtern, wie verschiedene Länder ihre Sozialpolitik gestalten und welche Maßnahmen zur Regulierung sowie individuellen Unterstützung, ergriffen werden.
Der Band gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil behandelt Ver- und Überschuldung sowie sozialstaatliche Perspektiven, während der zweite Teil länderspezifische Ansichten auf den sozialpolitischen Umgang mit Überschuldung präsentiert. Hierzu umfasst er Fachbeiträge zu Deutschland, Großbritannien, Schweden und den USA, die die historisch-sozialpolitischen Entwicklungspfade zu institutionellen Regulierungs- und Unterstützungsformen nachzeichnen. Die länderspezifischen Besonderheiten der Schuldenberatung und Regulierungsvarianten werden im Kontext sozialpolitischer Prägungen und Wohlfahrtsstaatmodelle (Esping-Andersen) analysiert, was Anregungen für Reformen in anderen Ländern bietet.
Aufbau und Inhalt
Nach den einleitenden Worten der Herausgeber präsentiert Stefan Angel quantitative Ausprägungen privater Verschuldung im europäischen Vergleich. Er diskutiert Unterschiede zwischen Ländern hinsichtlich Verschuldungshäufigkeiten, -volumen und -mustern und hebt die mangelnde Verbindlichkeit von Messkonzepten zu Überschuldungsphänomenen hervor. Für seine Analyse nutzt er ein vierdimensionales Indikatorenset, das subjektive und objektive finanzielle Vulnerabilität sowie manifeste und institutionalisierte Überschuldung abbildet (S. 26 f.). Besonders relevant für sozialpolitische Handlungsperspektiven sind die institutionellen Erklärfaktoren für Länderunterschiede, wie Regelungen zum Gläubigerschutz und Privatkonkurs, Merkmale des jeweiligen Wohlfahrtsstaates sowie das Vertrauen in Institutionen (S. 32 f.).
Der Beitrag von Carlo Knöpfel beleuchtet die Situation von problematisch verschuldeten Privathaushalten in der Schweiz und analysiert den sozialstaatlichen Umgang als „Spannungsverhältnis von Eigenverantwortung und sozialstaatlich organisierter Solidarität“ (S. 37). Eine zentrale Erkenntnis seiner Analyse ist, dass die spezifische Ausgestaltung dieses Verhältnisses im hybriden Wohlfahrtsstaatmodell der Schweiz den Staat selbst zur Quelle der Verschuldung machen kann. Der Autor sieht Hoffnungen in der Einführung eines Restschuldbefreiungsverfahrens.
Der Beitrag von Jan-Ocko Heuer bildet das Scharnier zum zweiten Teil und entwickelt eine Typologie staatlicher Schuldenregulierungsvarianten auf Basis von 15 Ländern. Der Autor analysiert differenziert die Regelungen zu Verbraucherinsolvenzverfahren und Schuldenbefreiung und formuliert vier idealtypische Modelle: das Marktmodell (USA, Kanada), das Restriktionsmodell (Großbritannien, Australien, Neuseeland), das Haftungsmodell (Deutschland, Österreich) und das Gnadenmodell (Frankreich, Belgien, skandinavische Länder). Eine abschließende Grafik (S. 72) verdeutlicht, dass diese Modelle auf zwei Achsen angeordnet sind: der ökonomischen Sphäre des Gläubiger:innen-Schuldner:innen-Verhältnisses und der öffentlichen Sphäre des Schuldner:innen-Gesellschafts-Verhältnisses, sowie dem Fokus auf Schuldner:in, Gläubiger:in oder Gesellschaft. Heuer weist jedoch einschränkend darauf hin, dass die zugrunde liegenden Daten den Stand von 2014 repräsentieren und auf ihre Aktualität überprüft werden sollten.
Der folgende Aufsatz der Herausgeber Simon Rosenkranz, Christoph Mattes und Matthias D. Witte konzentriert sich auf das deutsche Verbraucherinsolvenzverfahren und die Schuldnerberatung. Das Haftungsmodell dient als sensibilisierendes Konzept zur Darstellung der Entstehung des Verfahrens und des Institutionalisierungsprozesses der Schuldnerberatung. Dadurch werden die Widersprüche und Spannungen sichtbar, die bei der Verknüpfung der beiden Bearbeitungsweisen von Überschuldung auf der Ebene der Einzelfallberatung, der institutionellen Ebene der Schuldnerberatungsstellen sowie auf gesellschaftspolitischer Ebene entstehen (S. 99 f.).
Im Beitrag von Jason J. Kilborn wird das Marktmodell als US-amerikanische Herangehensweise an Überschuldungsphänomene thematisiert. Er verdeutlicht, wie zunächst eine „Kreditberatung“ finanziert durch die Kreditindustrie entstand, gefolgt von einem Konkursverfahren für Privatpersonen. Wirtschaftliche Krisen führten zu Veränderungen in beiden Bereichen: Mit steigenden Insolvenzzahlen wandelte sich die Kreditberatung von präventiven, bildungsorientierten Ansätzen hin zu Schuldenregulierung, die auf die Vermeidung von Insolvenzen abzielte. Dieses privat finanzierte Modell, eng mit der Kreditwirtschaft verbunden, geriet ab den 1980er Jahren zunehmend in die Krise. In den 1990er Jahren entstand ein Markt für Beratungsinstitutionen, der einerseits auf den Strukturen der Kreditberatung basierte und andererseits ein serviceorientiertes, ortsunabhängiges Modell mit Schwerpunkt auf Vergleichen entwickelte. Im Bereich der Konkursverfahren wurden Anpassungsbedarfe, insbesondere hinsichtlich des „missbräuchlichen“ Zugangs zur Restschuldbefreiung, identifiziert. Kilborn resümiert, dass die bestehenden Strukturen nicht ausreichend auf die sich abzeichnenden wirtschaftlichen Krisen vorbereitet sind.
Uwe Schwarze erörtert in seinem Beitrag die institutionalisierten Problembearbeitungen in Schweden im Rahmen eines „selektivistischen Gnadenmodells“. Dieses Modell versteht rechts- und sozialpolitische Maßnahmen zur Milderung der gesellschaftlichen Folgen von Überschuldung im Kontext einer universalistischen Sozialpolitik: Soziale Dienstleistungen sind für alle Bürger:innen kostenfrei und ohne Bedürftigkeitsprüfung zugänglich (S. 131). Der Autor hebt hervor, dass die Zusammenarbeit von Verbraucherschutz und lokaler Sozialer Arbeit international als positives Beispiel für eine strategische, fachliche und ressourcenorientierte Kooperation angesehen wird (S. 134). Im Gegensatz dazu sind die Regelungen zum behördlichen Schuldensanierungsverfahren als selektivistisch zu betrachten. Die Bearbeitung privater Überschuldung befindet sich somit in einer spannungsvollen Kombination aus universalistischen Prinzipien im (sozial)pädagogischen Bereich und selektivistischen Ansätzen im rechtlichen Kontext.
Im Beitrag von Katharina Möser wird das Restriktionsmodell für England und Wales behandelt. Sie unterscheidet zwischen drei Arten von Beratungsangeboten, die aus der Deregulierung des Kreditmarkts entstanden sind: einem öffentlich finanzierten, ganzheitlichen Modell, einem informationsbasierten, verbraucherschützenden Modell und einem gewerblichen, marktorientierten Angebot, das seit den 1990er Jahren besteht. Auch die Entschuldungsverfahren werden in drei Modelle unterteilt: Das traditionelle Modell richtet sich fast ausschließlich an Unternehmer:innen, während das zweite Modell (IVA) eine langfristige Zahlungsvereinbarung zwischen Gläubiger:innen und Schuldner:innen mit privater Insolvenzverwaltung vorsieht. Modell 3 (DRO) hingegen ist für einkommens- und vermögenslose Schuldner:innen gedacht. Möser zeigt zudem, dass Überschuldung zunehmend mit verfestigten Armutslagen verbunden ist und dass die politischen Ansätze von Flexibilisierung, Deregulierung und Privatisierung keine nachhaltigen Lösungen bieten.
Im Abschlussbeitrag reflektieren Christoph Mattes und Matthias D. Witte die vorangegangenen Beiträge und heben die Notwendigkeit hervor, private Überschuldung im Kontext der Professionalität sozialer Schuldnerberatung, sozialpolitischer Maßnahmen und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stärker als strukturell geprägt zu betrachten.
Diskussion
Die Fachbeiträge untermauern die These, dass private Überschuldung nicht isoliert, sondern mit institutionellen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen verbunden betrachtet werden muss, durch die verschiedenen länderspezifischen Analysen überzeugend. Die Zusammenschau der Ergebnisse ist geeignet, um über ein „engeres und systematischeres Zusammenwirken von Sozialpolitik, Rechtspolitik und Finanzmarktpolitik, Verbraucherschutz, Verbraucherbildung und Verbraucherberatung unter gleichzeitiger Einhaltung der fachlichen und ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit“ (Schwarze, S. 151) nachzudenken.
Davon ausgehend ließen sich andere Regulierungsweisen entwerfen, die stärker an den strukturellen Faktoren ansetzen als lediglich am Einzelfall. Wertvolle Ergänzungen wären ferner aus den subjektorientierten Forschungsarbeiten zu entnehmen, die danach fragen, was die Individuen von einer Nutzung sozialer Dienstleistungen haben. Denn auch hierin steckt das Potenzial einer alternativen Sozialpolitik.
Das Fachbuch bietet eine international vergleichende sozialpolitische Analyse von Maßnahmen im Kontext privater Ver- und Überschuldung und positioniert sich in der bislang immer noch zu wenig beachteten Überschuldungsforschung. Zielgruppe scheint eher das fachwissenschaftliche Publikum zu sein, weniger die sozialarbeiterische oder verbraucherorientierte Praxis. Die länderspezifischen Einblicke werden daher stärker sozialpolitisch als professionstheoretisch behandelt.
Fazit
Insgesamt ist „Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat“ ein wichtiger Beitrag zu den Diskussionen über Schulden, deren Problembearbeitung sowie gesellschaftlicher Bedeutung. Für international interessierte Wissenschaftler:innen finden sich zudem in den länderspezifischen Beiträgen wertvolle Literaturhinweise.
Rezension von
Prof. Dr. Kerstin Herzog
Diplom-Sozialpädagogin, Schulden- und Insolvenzberaterin
Seit 01.07.2022 Professorin für Soziale Arbeit und prekäre Lebensverhältnisse an der Hochschule RheinMain.
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Zitiervorschlag
Kerstin Herzog. Rezension vom 15.08.2024 zu:
Christoph Mattes, Simon Rosenkranz, Matthias D. Witte (Hrsg.): Schulden, Schuldenberatung und Sozialstaat. Eine international vergleichende Reflexion. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
ISBN 978-3-7799-8244-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32287.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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