Sandy Krammer: Kinderprobleme verstehen und lösen
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 23.08.2024
Sandy Krammer: Kinderprobleme verstehen und lösen. Ein psychotherapeutischer Werkzeugkoffer für Eltern. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 252 Seiten. ISBN 978-3-17-043216-1.
Autorin
Sandy Krammer ist klinische Psychologin mit Berufserfahrungen in unterschiedlichen Feldern. Sie arbeitet als niedergelassene Kinder- und Jugendpsychotherapeutin in Davos.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist in der Reihe „Rat und Hilfe“ bei Kohlhammer erschienen, die überwiegend Titel zu medizinischen Problemen enthält. Krammer hat hier bereits einen Band zu psychosomatischen Störungen veröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil werden Familien als Expertengremien in eigener Sache angesprochen und zur Suche nach eigenständigen Problemlösungen motiviert. Dazu will das Buch einige Hilfestellungen aus Pädagogik und Psychologie, aber keine Glücksformeln beisteuern. Es sieht sich in der Tradition von Jesper Juul und anderen Autoren der bedürfnisorientierten Erziehung. Kinderprobleme benötigen ein konkretes Handwerkszeug für deren Lösung sowie Eltern, die als positive Modelle fungieren. Probleme werden mit Remo Largo auf eine ungünstige Passung von kindlichen Bedürfnissen, Fähigkeiten und Eigenheiten mit den Vorstellungen und Erwartungen der Eltern zurückgeführt. Eine Problemverortung auf nur einer Seite wird damit vermieden. Zentral sind für das Verständnis der Kinder die Bedürfnisse nach Geborgenheit, sozialer Anerkennung und Lernerfahrungen sowie – mit Grawe – nach Bindung, Orientierung und Kontrolle, Selbstwerterhöhung, Lustgewinn und Unlustvermeidung. Der fundamentalen Bedeutung der Bindungserfahrungen entsprechend wird die Bindungstheorie breiter dargestellt. Zur Entwicklung der Feinfühligkeit wird eine Anleitung zur Reflexion eigener Bindungserfahrungen gegeben. Die Kultur der Feinfühligkeit soll aber nicht so weit gehen, dass den Kindern Stress und Frust ganz ersparen bleiben, im Gegenteil bilden die Erfahrungen von Stress und Frust kindliche Widerstandskräfte aus, sofern die Kinder bei diesen hilfreich begleitet werden.
Der zweite Teil enthält ein Lexikon der Kinderprobleme mit Lösungsvorschlägen. Vorangestellt wird eine kurze Gebrauchsanweisung, die zu einem flexiblen, nicht schematischen Ausprobieren der Vorschläge einlädt. Insgesamt finden sich 23 Stichwörter, sie reichen von „Aggression“ bis „Zähneputzen“.
Zu „Aggression“ erfolgt zunächst eine psychologische Einordnung, in der der Sinn der Aggression für die Selbstbehauptung und Zielerreichung erklärt wird. Dieser positiven Seite wird Gewalt als Problem mit der Dynamik des Gewaltkreislaufs gegenübergestellt. Eine kluge Reaktion bei auftretenden Gewaltäußerungen ist von Besonnenheit und der Suche nach einer guten Problemlösung gekennzeichnet. Es gilt Ruhe zu bewahren, Impulse beherrschen zu lernen und sozialverträgliches Abreagieren sowie gewaltfreies Verhalten einzustudieren. Dazu werden Erste-Hilfe-Maßnahmen vorgestellt: Beenden der Situation, Time-Out, Ventil schaffen, Lösung suchen. Dem weiteren Verständnis für die Entwicklung von Aggressionen dienen dann Ausführungen zu Frustration und Kränkung und ein Blick auf die kindlichen Bedürfnisse, zu deren Verständnis die Erwachsenen den Kindern, durch angebotene Benennungen und das eigene Vorbild helfen können. Weitere Lösungsvorschläge beinhalten Anleitungen zum Comic-Zeichnen oder Theater-Spielen von schwierigen Situationen, den Aufbau eines Belohnungssystems oder den Tipp, in Situationen des Laut-Werdens in einen Flüstermodus zu gehen.
Für das Kapitel „Zähneputzen“ wird das Belohnungssystem erneut aufgegriffen. Es folgen weitere Vorschläge wie zielführende Erklärungen, gemeinsames Aussuchen von Zahnbürsten und Zahnpasten, der Einsatz eines besonderen Kinderliedes für die Dauer des Zähneputzens oder ein gemeinsames Zähneputzen.
In ähnlicher Weise werden die häufigsten Kinderprobleme wie Beißen, Bettnässen, Grenzen und Regeln, Lügen, Schulabsentismus, Trennung der Eltern, Trotzen u.a. m. in Beiträgen von drei bis zehn Seiten behandelt. Deutlich ausführlicher mit beinahe 60 Seiten ist das Kapitel zu „Heraufordernde Gefühle“. Hier skizziert Krammer in knapper Form eine Emotionspsychologie. Es beginnt mit einer Anleitung zur Selbsterfahrung, mit der Eltern ihrem eigenen Lernprozess zum Umgang mit Gefühlen in ihrer Kindheit nachspüren können. Es folgen Übungsvorschläge zur Gefühlswahrnehmung und -benennung (Mentalisierung), Erläuterungen zu primären und sekundären Gefühlen, zu Emotionswellen, zu Emotionsbrücken sowie zu emotionalen Wunden. Als zentrales Problem wird die zu starke oder zu schwache Regulierung von einzelnen Gefühlen dargestellt. Dazu werden viele konkrete Hilfestellungen zum Umgang in beide Richtungen gegeben. Krammer geht dann zunächst auf die häufigen Kinderängste ein, mit Ausführungen und Hilfestellungen zu Ängsten vor Monstern, fremden Personen, Schule und Trennung. Nach den Ängsten werden Scham, Traurigkeit und Wut behandelt.
Diskussion
Das Buch entspricht mit seinen vielen praktischen Vorschlägen für häufige Beratungsanlässe von Eltern uneingeschränkt dem Motto der Reihe. Der Schwerpunkt liegt auf Problemen des Kindesalters, aber vieles lässt sich auch auf ältere Kinder übertragen. Dazu hilft das psychologische Wissen, das hier entfaltet wird und in dessen Rahmen die einzelnen Stichwörter erklärt werden. Damit und auch dadurch, dass Krammer immer wieder auf die Lerngeschichte der Eltern und ihre Vorbildfunktion eingeht, kann das Buch die emotionale Kompetenz von Eltern sicherlich fördern.
Etwas schwierig ist, dass im ersten Teil mit zwei Listen von Grundbedürfnissen gearbeitet wird, der von Juul und der von Grawe. Beide stehen unvermittelt nebeneinander, das dürfte einige Leser irritieren. Auch die Form des Buches hat einen Schönheitsfehler. Der Grundidee eines Lexikons widerspricht der ausufernde Teil zu „Herausfordernde Gefühle“, der ein Drittel des Lexikonteils ausmacht. Das Buchkonzept schwankt hier zwischen einem allgemeinen Ratgeber und einem Lexikon. Vielleicht wäre es hilfreich gewesen, die Ausführungen zu den Gefühlen in den ersten Teil zu integrieren und den zweiten dafür durch die Aufnahme von Adoleszenzthemen zu erweitern.
Für viele Eltern ist sicher tröstlich, dass die Autorin von ihren eigenen Problemen mit ihrem Sohn berichtet. Manchmal keimt bei der Lektüre aber der Verdacht, dass es sich hier um einen Autorentrick handelt. Kam sie als gelernte Psychologin wirklich erst mithilfe einer befreundeten Pädagogin auf den Dreh mit den Stickern für das Zähneputzen, d.h. auf den Einsatz von Tokens? Mir wäre da die Autorin in ihrer Expertenrolle authentischer erschienen.
Trotzdem überwiegen die Stärken des Buches bei Weitem. Sie liegen, wie gesagt, vor allem in der Fülle von Anregungen zu dem, was man bei Problemen konkret machen könnte. Die Hilfestellungen umfassen Anleitungen zur Selbsterfahrung, Problemlösungssequenzen, Gesprächsmodelle sowie spielerische und gestalterische Bearbeitungsmöglichkeiten. Unter den vielen Vorschlägen finden sich auch so lustige Ideen wie die mit der Degustation von Zahnpastasorten.
Fazit
Relativ kurzer und gut zu lesender psychologischer Erziehungsratgeber, der zu einem besseren Verständnis für die Kinder und für sich selbst verhilft. Mit vielen Anregungen eröffnet er konkrete Möglichkeiten, die bei typischen Problemen im Kindesalter und darüber hinaus angewendet werden können.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 23.08.2024 zu:
Sandy Krammer: Kinderprobleme verstehen und lösen. Ein psychotherapeutischer Werkzeugkoffer für Eltern. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-17-043216-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32295.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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