Armin Bernhard: Praxisphilosophische Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer, 12.05.2025

Armin Bernhard: Praxisphilosophische Pädagogik. Ein materialistisch-humanistisches Projekt gegen die Enthumanisierung der Gesellschaft.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
437 Seiten.
ISBN 978-3-7799-8023-0.
D: 68,00 EUR,
A: 70,00 EUR.
Reihe: Pädagogik und Gesellschaftskritik.
Thema
„Praxisphilosophische Pädagogik“ ist ein theoretischer Grundlagentext, zugleich aber auch ein elaboriertes politisches Manifest. Es geht Bernhard um die Neubegründung kritischer Pädagogik als theoretischem Projekt mit verbindlichem praktischem Anspruch, das seine philosophischen Wurzeln im ursprünglichen Marxismus hat. Sein Anlass ist nicht die schlichte Wiederbelebung eines in den 1970er-Jahren prominenten erziehungswissenschaftlichen Theorieansatzes, sondern die vom Kapitalismus hervorgerufene Krise, die mit der Digitalisierung, dem exzessiven Naturverbrauch und der gesellschaftlichen Atomisierung inzwischen den Fortbestand der Menschheit zu gefährden droht. Aus dieser Perspektive heraus spricht Bernhard von einer „Enthumanisierung“, verstanden als ein Schwinden der gesellschaftlichen Grundlagen, die der Mensch zur Menschwerdung braucht. Er setzt dagegen die unabgegoltene aufklärerische Utopie einer vernünftigen Gesellschaftsordnung, in deren Dienst er die pädagogische Theorie und Praxis stellen will.
Autor
Armin Bernhard (* 1957) war von 2003 bis 2023 Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Duisburg-Essen. Seine breit gefächerte Forschung steht in der Tradition der kritischen Pädagogik (H. J. Heydorn, H.- J. Gamm), deren Eingriffsmöglichkeiten er mit Blick auf sich wandelnde gesellschaftliche und politische Herausforderungen theoretisch wie praktisch immer wieder neu ausgelotet hat. Das vorliegende Buch kann insofern als verdichtete Bilanz seiner wissenschaftlichen Arbeit gelesen werden.
Aufbau
Das mit 27 Seiten Literaturverzeichnis breit fundierte Werk beginnt mit einer „Hinführung“ zur praxisphilosophischen Pädagogik, in der Bernhard sein Verständnis von Praxis und Praxisphilosophie präzisiert. Das 1. Kapitel ist zunächst dem innerwissenschaftlichen Motiv gewidmet, nämlich den „Geburtsfehlern“ der kritischen Pädagogik, die Bernhard in dem unzureichenden Praxisbezug dieses Paradigmas sieht, ein Mangel, dem er mit seiner Neubegründung abhelfen will. Er greift dazu auf den Historischen Materialismus von Marx zurück, dessen Grundlagen im zweiten Kapitel zunächst ausführlich rekonstruiert werden, bevor Bernhard die Konsequenzen entfaltet, die daraus für eine sich emanzipatorisch verstehende Pädagogik in Theorie und Praxis zu ziehen sind. So ergeben sich „veränderte Zugänge […] zur gesellschaftlichen Erziehungs- und Bildungswirklichkeit“ hinsichtlich des Verhältnisses von Theorie und Praxis, der Rolle von Ideologiekritik in der Pädagogik sowie für einen neuen Blick auf die Sozial und Ideengeschichte von Erziehung und Bildung (3. Kapitel). Das Buch endet mit zwei kürzeren Kapiteln, in denen sich Bernhard dem Kampf um Begriffe und Deutungshoheit widmet und Desiderate der praxisphilosophischen Pädagogik sowie abschließend neun Thesen für eine „Pädagogik der Befreiung im Kapitalismus“ formuliert.
Inhalt
Die Einleitung skizziert knapp das in dem Buch entfaltete Programm einer „praxisreflektierenden, praxiskritischen und zugleich praxisverändernden Theorie“ (S. 16 f.).
In seiner Hinführung zur praxisphilosophischen Pädagogik betont Bernhard einleitend angesichts der Krise des Kapitalismus die bleibende Aktualität des Marxismus als theoretischem Instrument einer kritischen Gesellschaftsanalyse mit veränderndem Anspruch, wobei er diesen, Gramsci folgend, nicht für die Wissenschaft reservieren, sondern Ansätze dazu auch im Alltagsdenken ausmachen will. Dieses Praxisverständnis grenzt er gegen andere handlungstheoretisch oder sozialtechnologisch verkürzte Ansätze wie auch gegen den Pragmatismus Deweys ab. Er distanziert sich ebenfalls von der ansonsten von ihm verteidigten Kritischen Theorie insofern, als er ihr einen mangelnden Blick für gesellschaftlich mögliche Veränderungen vorwirft.
Ausgangspunkt von Bernhards Entwurf ist eine Rekapitulation des „Elends der kritischen Pädagogik“ (1. Kapitel), für das er eine Reihe von zeitgeschichtlichen und theoretischen Gründen nennt. Die für die Entstehung der kritischen Pädagogik günstige Liberalisierungsphase ab Mitte der 1960er-Jahre sei relativ schnell durch eine konservative Wende, vor allem aber durch den Aufstieg des den Neoliberalismus und das von ihm propagierte Menschenbild abgelöst worden, die das Diskussionsklima zuungunsten der kritischen Erziehungswissenschaft verändert habe. Die „Abwicklung“ (S. 97) der DDR mitsamt der sozialistischen Pädagogik habe ein Übriges dazu getan.
Einen größeren Raum nehmen die in Bernhards Augen weitgehend selbstverschuldeten Gründe der Marginalisierung ein, beginnend mit dem ebenso vagen wie inflationären Gebrauch des Attributs „kritisch“. Eines der Hauptprobleme sei die mangelnde Aufarbeitung der theoretischen und praktischen Konzepte der sozialistischen Pädagogik sowohl in der Arbeiterbewegung als auch in der Reformpädagogik gewesen. Stattdessen habe sich die kritische Pädagogik „mehr oder weniger verdünnt“ (S. 81) an der Kritischen Theorie orientiert mit der Folge eines Verzichts auf praktische Veränderungen. Hinzugekommen sei dann ab Anfang der 1980er-Jahre eine zunehmende „Kontamination“ (S. 89) durch postmoderne Tendenzen, die nicht nur zu einer Verwässerung des eigenen Begriffsinstrumentariums geführt, sondern auch eine fundamentale Rationalitätskritik nach sich gezogen habe. Mit dieser theoretischen Neuorientierung seien einerseits die gesellschaftsutopischen Wurzeln der Aufklärung gekappt und andererseits Identitätsfragen im Kontext der Pluralisierung und Individualisierung in den Vordergrund gerückt worden, ohne dass die (ehemals) kritische Pädagogik die darin verborgene Anpassung an den Neoliberalismus erkannt hätte.
Die Rekonstruktion des „Elends“ kulminiert in einer ethischen Kritik: Anders als in der Aufbruchsphase der 1960er-Jahre, erfordere es heute erheblichen Mutes, revisionistische Tendenzen öffentlich zu benennen und zu bekämpfen, ansonsten drohe die „gesellschaftliche Tiefenwirkung dieses Erosionsdrucks auf Kritik […] die Unmündigkeit der Theorie nach sich zu ziehen“ (S. 91).
Die theoretische Alternative zu dem „Elend“ wird mit den „Bausteinen einer materialistischen Pädagogik auf praxisphilosophischer Grundlage“ entfaltet (2. Kapitel), deren Vorläufer vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart kurz skizziert werden (2.1), bevor sich Bernhard einer dichten Rekapitulation des Historischen Materialismus widmet (2.2). Dieser erklärt die Soziogenese aus dem Stoffwechsel mit der Natur, durch den sich der Mensch als Individuum wie als Gattungssubjekt in der gesellschaftlichen Praxis verwirklicht. Insofern wohnt der Praxis immer auch potenziell die Kraft zur Veränderung bestehender Verhältnisse inne. Bernhard erkennt hier wesentliche Gemeinsamkeiten mit der Pädagogik, der es ebenfalls um eine zukunftsorientierte Subjektwerdung gehe, die aber im Rahmen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse, in denen Pädagogik eine widersprüchliche Rolle als Agent der Selbst- und zugleich Fremdbestimmung wahrnehme, analysiert werden müsse. Das Bewusstsein dieser Doppelrolle ist für Bernhard eine wesentliche Bedingung für die „Entmythologisierung“ der Pädagogik (S. 127), die dazu neigt, ihre guten Absichten für die Tat zu nehmen. Mit Blick auf die „Entmythologisierung“ geht Bernhard auch einen wesentlichen Schritt über den Marxismus hinaus, indem er die leibliche Verfasstheit des Menschen mit allen seinen emotionalen Facetten in Rechnung stellt. Er spricht hier von einer „prekären Grundkonstitution“ (2.3) die durch das Spannungsverhältnis von Autonomiestreben und Anpassungsbereitschaft entstehe, wobei die Art und Weise, wie die Individuen dieses Verhältnis austarieren, wiederum gesellschaftlich mit geprägt sei. Wichtig sei daher, zu klären, wie sich gesellschaftliche Zwänge auf die psychische Struktur der Individuen auswirken und wo sich dennoch „Zonen der Unverfügbarkeit“ ausmachen lassen (S. 134).
Anpassung resultiert allerdings nicht nur aus dem Druck sozioökonomischer Strukturen, sondern auch aus dem Verhältnis der Generationen zueinander. Für eine materialistische Theorie der Pädagogik sind die „intergenerativen Verhältnisse“ (2.4) ein Schlüsselbegriff der Anthropogenese, da über sie Wissen und Können, aber auch Mentalitäten und Bewusstseinsformen tradiert werden. Dieser Fokus erlaube es, die gesellschaftliche Entwicklung jenseits idealistischer Geschichtskonstruktionen nachzuvollziehen. Mit zunehmender Komplexität dieses Tradierungsprozesses werde Erziehung unerlässlich, sie sei aber stets konflikthaft, da der Eigensinn jüngerer Generationen auf sedimentierte Verhältnisse trifft, die die ältere Genration bewahren will. Offene Fragen sind dabei zum einen, inwieweit individuelle bzw. klassenspezifische und die gesamtgesellschaftliche „Regeneration“ miteinander vereinbar sind, und zum anderen, wie es möglich sein kann, durch die intergenerativen Verhältnisse den „Überbau“ im Sinne einer humanen Gestaltung der Gesellschaft zu verändern, was als eine implizite Absage gegen Marx‘ revolutionäre Utopie gewertet werden kann.
In Kapitel 2.5 bündelt Bernhard die vorherigen Ausführungen, indem er noch einmal systematisch die gesellschaftliche Funktion der Erziehung und die daraus erwachsenden Aufgaben der Pädagogik darstellt. Vieles davon ist aus der pädagogischen Tradition seit der Aufklärung bekannt, ein besonderes Merkmal des Ansatzes sind aber der konsequente Bezug auf die Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft und die Einbettung der Pädagogik in deren Gesamtzusammenhang (zusammengefasst auf S. 192 f.). Markanter wird dieses Profil in den Ausführungen zur gegenwärtigen Bedeutung der Pädagogik (2.5.3) erkennbar, in dem Bernhard die Marginalisierung einer theoretisch gehaltvollen Pädagogik durch neoliberale Tendenzen (Schaffung von Humankapital) der faktisch gestiegenen Relevanz von Erziehung gegenüberstellt. In klarer Abgrenzung gegen „linke“ Verkürzungen des Autoritätsbegriffs betont Bernhard die Notwendigkeit von (pädagogisch legitimierbarem) Zwang, nicht nur wegen der gesellschaftlichen Integrationsfunktion der Erziehung, sondern auch zur Humanisierung der Subjekte. Zugleich habe sie aber auch die nachwachsende Generation vor illegitim vereinnahmenden Sozialisationstendenzen zu schützen. Dieses engagierte Plädoyer wird gesellschaftlich zurückgebunden an die restriktiven Wirkungen eines rein auf den Erwerb gerichteten Arbeitsbegriffs, die die Erfüllung des pädagogischen Auftrags gegenwärtig stark einschränkten; daher fordert Bernhard hier, im Sinne Marx‘, eine Erweiterung des Arbeitsbegriffs auf alle „Lebenstätigkeit“.
Kapitel 2.6 befasst sich mit dem auch für die kritisch-materialistische Theorie essenziellen Begriff der Bildung, den Bernhard gegen postmoderne „Entsorgung“ (S. 207) wie gegen sozialwissenschaftliche Verkürzung verteidigt. Er folgt dabei grundsätzlich Heydorns Ansatz, der die Geschichte der Bildung ausgehend von deren widersprüchlicher Funktion, Herrschaft zu festigen und zugleich zu transzendieren, rekonstruierte („Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“, 1970). Bernhard betont dabei das utopische Moment des Bildungsbegriffs, dessen idealistischer Überschuss allerdings materialistisch „geerdet“ werden müsse als historisch gewachsenes Vermögen des Menschen zur Gestaltung seines Lebens. Vor diesem Hintergrund sei es heute primäre Aufgabe kritischer Bildungstheorie, ein „antizyklisches Modell zu den bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen“ (S. 212) zu entwickeln, das kenntlich macht, wie diese das Widerstandsvermögen der Subjekte schwächen, wo aber auch umgekehrt sich Ansätze für Widerstand identifizieren lassen. Dazu sei zum einen ein „Abarbeiten“ an der klassischen bürgerlichen Kultur notwendig, zum anderen, mit Bourdieu, eine (Selbst-)reflexion des individuellen Habitus', dessen sozialen Genese und die damit einhergehenden Einschränkungen bewusst gemacht werden müssten, damit die Subjekte sich für alternative Denk- und Handlungsweisen öffnen könnten.
In Kapitel 2.7 wendet sich Bernhard dem Handeln und der Haltung von Erziehenden zu, als deren Grundlage zum einen die „radikale Parteilichkeit für das Kind“ (S. 259), zum anderen, im Sinne eines kritischen Bildungsbegriffs, der „kategorische Imperativ einer gesellschaftsverändernden Praxis“ (S. 245) bestimmt werden. Bernhard betont diese Fundamente, da gegenwärtig nicht nur die Pädagogik marginalisiert, sondern auch die pädagogische Rolle der Lehrkraft durch die Reduktion zum „Lernmanager“ beschnitten werde. Es würden digital optimierte „Lernwelten“ geschaffen und der Lehrkraft eine Fülle von Detailkompetenzen zur Lernsteuerung abverlangt, beides aber ohne Reflexion der pädagogischen Zwecke. In einer bemerkenswerten Synthese von Tradition und kritisch-materialistischer Perspektive stellt Bernhard diesem Befund die „Aura“ der Lehrkraft (S. 258) als personalisierte Vermittlungsinstanz von Welt gegenüber, ohne dabei die Schwierigkeiten zu ignorieren, mit denen Lehrende, die sich dieses Ethos zueigen machen, gegenwärtig konfrontiert sind.
Die Bausteine einer materialistischen Pädagogik kulminieren in 2.8 im Umriss einer pädagogischen Utopie, die davon ausgeht, dass bereits dem Wesen der Pädagogik ein utopisches Moment innewohne, da sie in jedem Menschen ein Potenzial zur Veränderung sehe. Insofern sei die pädagogische Utopie, im Gegensatz zur politischen, nicht abstrakt, sondern könne mit ihren Einflussmöglichkeiten auf die seelischen Strukturen neuer Generationen der politischen Utopie einer von überflüssiger Herrschaft befreiten Gesellschaft zuarbeiten. Erschwert werde dies freilich aktuell aufgrund der „makrosozialen Stressoren“ (S. 275) durch die globalen Krisen ebenso wie durch die gesellschaftliche Allgegenwart neoliberalen Verfügungswillens über Humankapital.
Das 3. Kapitel widmet sich den „Veränderten Zugängen praxisphilosophischer Pädagogik zur gesellschaftlichen Erziehungs- und Bildungswirklichkeit“ hinsichtlich des Theorie-Praxis-Verhältnisses (3.1), der Ideologiekritik (3.2) und der Sozial- und Ideengeschichte der Erziehung und Bildung (3.3).
In einem kurzen historischen Abriss zur pädagogischen Theorie-Praxis-Diskussion von Schleiermacher über Dilthey bis zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik diagnostiziert Bernhard ein verkürztes Verständnis dieses Verhältnisses, da ausgehend von Schleiermachers Diktum einer „Dignität“ der Erziehungspraxis vor der Theorie deren Rolle auf bloßen Nachvollzug vorgefundener gesellschaftlicher Wirklichkeit reduziert worden sei. Das entgegengesetzte Theorieverständnis der Kritischen Theorie weist Bernhard aber ebenso zurück, weil dabei die Praxis vernachlässigt worden sei (s.o.). Gerecht werde man dem Verhältnis nur, wenn man davon ausgehe, dass im konkreten Erziehungshandeln Theorie und Praxis stets „oszillierend“ (Bloch) auf drei Ebenen beteiligt seien, der strukturell gesellschaftlichen, der institutionellen wie auch der Ebene des interpersonellen Erziehungsgeschehens. In diese Gefüge komme der Theorie eine gesellschaftsanalytische, eine das pädagogische Handlungsfeld strukturierende wie auch eine Praxis orientierende Funktion zu. Dazu müsse das Theorie-Praxis-Verhältnis als ein dialogisches gestaltet werden, da die Theorie für die Praxis kein „Navigationsgerät“, sondern nur ein „Kompass“ sein könne (298).
Ein weiterer für die praxisphilosophische Pädagogik konstitutiver Zugang ist die Ideologiekritik (3.2). Unter „Ideologie“ versteht Bernhard, ausgehend von Marx und Gramsci, ein verzerrtes oder verkürztes Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das zwar immer ein Wahrheitsmoment enthalte, im Wesentlichen aber der Verschleierung von Partikularinteressen herrschender Gruppen diene. Die propagandistisch verbreiteten Ideologien bewirkten „Erkenntnisreduktionen“, die sich im Laufe der Sozialisation festsetzten und als einzig mögliches Bild der Wirklichkeit geglaubt würden. Aufgabe praxisphilosophischer Pädagogik sei es, den ideologischen Charakter dieser Konstrukte transparent zu machen. Sie operiert dabei auf zwei Ebenen, zum einen der pädagogischen, auf der die restriktiven Wirkungen der Ideologie für die Subjektwerdung offengelegt werden, zum anderen der erziehungs- bzw. bildungswissenschaftliche Ebene, die sich der Analyse des gesellschaftlichen Diskurses widmet, also untersucht, welche Interessen sich hinter Begriffsverwendungen und als relevant propagierten pädagogischen Themen verbergen, was an den Beispielen der PISA-Studie und der frühkindlichen Bildung exemplarisch konkretisiert wird.
Auch zur Ideen- und Sozialgeschichte von Erziehung und Bildung kann die kritisch-materialistische Pädagogik neue Zugänge eröffnen (3.3). Als marxistisch inspirierte geht sie von einer Wechselwirkung zwischen Ideen und materiellen Reproduktionsbedingungen bzw. gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen aus, die in ihren Wirkungen auf Erziehung und Bildung untersucht werden müssen. Damit grenzt Bernhard sich, wie ein kurzer Rückblick auf die historische Bildungsforschung zeigt, nicht nur von positivistischer Ereignisgeschichte oder von reiner Ideengeschichte ab, sondern auch von vulgärmarxistischen Ansätzen und dem Poststrukturalismus in der Nachfolge Foucaults, der die Geschichte der Erziehung vornehmlich als die einer zunehmender Disziplinierung deute. Die Abgrenzung ist Bernhard, wie bereits in den vorherigen Zusammenhängen deutlich wurde, wichtig, weil so die „eigensinnige Dynamik“ von Erziehung wie auch der utopische Überschuss pädagogischer Ideen über die gesellschaftliche Praxis freigelegt werden könne.
Das 4. Kapitel: Gesellschaftskritik und Wahrheitssuche in umkämpftem Feld und das 5. Kapitel zu den Essentialen einer Pädagogik der Befreiung im Kapitalismus der „westlichen Welt“ kann als Zusammenfassung der Aufgaben, Vorgehensweise und Ziele einer kritisch-materialistischen Pädagogik gelesen werden, die im Laufe des Buches entfaltet wurden. Sie beginnt mit dem Appell, sich nicht auf der irrigen Suche nach gesellschaftlicher Relevanz in aktuelle Diskurse einzuklinken und herrschaftskonforme Begriffe zu übernehmen, sondern vielmehr die dahinter verborgene Ideologie aufzudecken und im Gegenzug die „einheimischen Begriffe“ gegen „feindliche Übernahmen“ zu verteidigen. Methodisch orientiert sich Bernhard an den bereits im 19. Jahrhundert von dem italienischen Marxisten Labriola entwickelten Vierschritt der „Analyse“ des Verhältnisses zwischen Erscheinung und Wesen, der „Reduktion“, hier wörtlich verstanden als Rückführung von Phänomenen auf ihre gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, der „Mediation“, also der Art und Weise, wie Phänomene ihre gesellschaftliche Form bekommen und schließlich der „Komposition“ womit die Entwicklung einer neuen Sichtweise auf die Dinge gemeint ist. Abschließend werden im 5. Kapitel die Überlegungen in Neun Thesen zu den „Essentialen einer Pädagogik der Befreiung im Kapitalismus“ auf den Punkt gebracht.
Diskussion
Es dürfte deutlich geworden sein, dass in Bernhards Entwurf die wissenschaftliche Reflexion untrennbar mit einer dezidierten politischen Positionierung verbunden ist und insofern zur Diskussion einlädt. Wer der Auffassung ist, Wissenschaft müsse ihrem Gegenstand gegenüber neutral bleiben, wird also auf jeder Seite dieses Buches Reibungspunkte finden. Diese Auffassung zu vertreten ist für Erziehungswissenschaftler und Erziehungswissenschaftlerinnen allerdings insofern schwierig, als sie das Interesse von Kindern und Jugendlichen an einem menschenwürdigen und die Entfaltung ihre Individualität ermöglichenden Leben zu vertreten haben; sie kommen also ohne ein entsprechendes Ethos nicht aus und sind auch – dies gilt seit Rousseau – zur Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen verpflichtet, die diesen Zielen entgegenstehen. Ein weiterer Diskussionspunkt wäre dann, ob man dazu auf die marxistische Kapitalismuskritik zurückgreifen muss. Dies erscheint legitim, wenn nicht gar notwendig, sobald man sich auf sozioökonomische Verhältnisse nicht nur als diffuse „äußere Mächte“ oder als Diskurse, sondern auf deren materielle Gegebenheit und die aus ihr resultierenden konkreten Konsequenzen für das Leben von Menschen beziehen und die unvermeidliche Verstrickung der Wissenschaft in diese Verhältnisse in Rechnung stellen will. Relevant wird der Marxismus auch dann, wenn die historische von Menschen gemachte Dimension gesellschaftlicher Praxis und damit deren grundsätzliche Veränderbarkeit zur Debatte stehen, es also um die Offenheit der Entwicklung, letztlich auch der Individuen, gehen soll. Aus orthodox marxistischer Sicht ließe sich gegen Bernhards einseitige Verurteilung vielleicht einwenden, dass für Marx der Kapitalismus mit seinen ökonomischen Potenzialen eine notwendige Durchgangsstufe zur befreiten kommunistischen Gesellschaft sei. Diese Perspektive schließt Bernhard offensichtlich aus, wenn er von einer „Befreiung im Kapitalismus“ (4. Kapitel), nicht mehr aber der Befreiung vom Kapitalismus spricht, eine gesellschaftliche Transformation also nur noch innerhalb dieser Verhältnisse gesucht werden kann. Ob der Kapitalismus in der Lage sein wird, sich so zu verändern, dass die von ihm verursachte Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und gesellschaftlicher Integration aufzuhalten ist, mithin eine humane Zukunft für alle Menschen möglich bleibt, ist eine offene Frage. Im Sinne dieser Offenheit ist Bernhards Engagement für dezidierte pädagogische Eingriffe in das Räderwerk des Systems zu verstehen.
Von der Struktur her stellt sich das Buch, musikalisch gesprochen, als „tema con variazioni“ dar, d.h. nach der Rekonstruktion der marxistischen Grundlagen (2.2) tauchen die daraus sich ergebenden Denkmotive in wechselnden Argumentationszusammenhängen immer wieder auf, was aber nicht von Nachteil ist, weil so die Komplexität der von Bernhard entfalteten Zusammenhänge präsent bleibt.
Bei aller Kritik an der Pädagogik ist Bernhard keineswegs Bilderstürmer, sondern im Gegenteil ein mit den traditionellen pädagogischen Diskursen vertrauter Verteidiger der „einheimischen Begriffe“ und damit genuin pädagogischen Denkens, das er engagiert gegen dessen schleichende Marginalisierung verteidigt. Seine Kritik gilt vielmehr einer Pädagogik, die die gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhänge, in die sie selbst wie auch ihre Zwecke notwendig verstrickt sind, ignoriert und damit Gefahr läuft, der Aufrechterhaltung von Herrschaft zu dienen.
Hervorgehoben sei hier ein wesentlicher Aspekt, in dem Bernhard über den klassischen Marxismus hinausgeht, nämlich die leiblich-emotionale Verfasstheit des Subjekts, die sich unter der Einwirkung gesellschaftlichen Zwangs (ver-)formt. Dies war zwar bereits, was Bernhard nicht erwähnt, ein zentrales Forschungsthema der Kritischen Theorie, es trifft aber durchaus zu, dass sowohl der Marxismus als auch die kritische Erziehungswissenschaft den Menschen einseitig als Vernunftwesen adressierten und daran hochfliegende Emanzipationserwartungen knüpften, ohne der psychisch nachvollziehbaren Bereitschaft von Menschen, sich der Heteronomie zu fügen, Rechnung zu tragen. Es kann insgesamt als Manko der Pädagogik angesehen werden, dass sie diesen affektiven Aspekt der von ihr stets hochgehaltenen „Mündigkeit“ weitgehend ausblendet. Auch Bernhard hält mit Nachdruck an der Idee von Emanzipation fest, mit ansonsten in der erziehungswissenschaftlichen Literatur kaum zu findender Klarheit weist er aber auf die vielfältigen Faktoren hin, die dem entgegenstehen und damit auf die Schwierigkeit, ein emanzipatorisches Programm zu verwirklichen. Das Bestreben danach führt zu manchen pathetischen oder polemischen Formulierungen, die zwar von wissenschaftlichen Sprachgepflogenheiten abweichen, aber auf der anderen Seite den Ernst von Bernhards Engagement erkennen lassen.
Die Konturen des Gegenbildes bleiben angesichts von Bernhards düsterer Gegenwartsdiagnose allerdings vage. So hätte man sich in den beiden letzten Kapiteln etwas mehr Konkretisierungen dazu gewünscht, wie eine pädagogisch induzierte Befreiung im Kapitalismus aussehen könnte, wenn der neoliberale Verfügungsanspruch über die Subjekte totalitäre Züge hat. Bernhard weist zwar nachdrücklich auf die gesellschaftlichen Verwerfungen, den Klimawandel, wie auch auf die noch unabsehbaren soziokulturellen Folgen der Digitalisierung hin, welche konkreten Eingriffsmöglichkeiten sich hier für eine marxistisch inspirierte Pädagogik böten, bleibt indes häufig offen: Man kann allerdings darüber streiten, ob dies die Aufgabe eines theoretischen Grundlagentextes ist.
Fazit
Bernhard hat ein theoretisch ebenso anspruchsvolles wie konsequentes Werk verfasst, in dem pädagogisches und politisches Engagement Hand in Hand gehen und das in dieser Einheit wie auch in der unversöhnlichen Kritik an einer neoliberal gekaperten Gesellschaft in der erziehungswissenschaftlichen Landschaft Seinesgleichen sucht.
Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer
Professor für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.
Arbeitsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Geschichte der Schule, Bildung und Erziehung im gesellschaftlichen Kontext, Bildungsreformen.
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