Gabriele Teckentrup: Frauen in der 68er Bewegung
Rezensiert von Prof. Dr. Angela Moré, 29.05.2024

Gabriele Teckentrup: Frauen in der 68er Bewegung. Psychoanalytische Perspektiven auf einen Generationenkonflikt.
transcript
(Bielefeld) 2023.
244 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6810-0.
D: 45,00 EUR,
A: 45,00 EUR,
CH: 54,90 sFr.
Reihe: Psychoanalyse.
Thema
In ihrem Buch über die Frauen der 68er Bewegung veröffentlicht Gabriele Teckentrup narrative Interviews mit elf Frauen, die in der Zeit der Studentenbewegung politisiert wurden, sich aktiv in der linken Szene bewegten und sich später in das politische und kulturelle Leben der Stadt Hamburg einmischten. Dabei waren die Interviewten in der Frauenbewegung aktiv oder nahmen führende Positionen bei politischen Initiativen ein.
Der Begriff des „Generationenkonflikts“ im Untertitel des Buches verweist auf eine zentrale Frage der Autorin: was haben die Motive der 1968 bewegten Frauen mit der NS-Vergangenheit und den Nachkriegsjahren ihrer Eltern zu tun. Dabei nimmt sie insbesondere die Rolle der Mütter und deren Haltungen zum Nationalsozialismus sowie deren soziale Position in den Nachkriegsfamilien in den Blick. Ihre dahinter stehende Frage lautet, ob und wie die Enttäuschungen der Frauen der 68er Generation an den Eltern und deren (meist verleugneter) Mitverantwortung für die Nazi-Zeit und der in ihr verübten Verbrechen mit deren eigenen politischen Entwicklungen zusammen hängen. Sie geht zudem davon aus, dass die subjektiven Motive für die Begeisterung an der Studentenbewegung, für die Entwicklung der linksradikalen Szene der 70er Jahre sowie für das spätere Engagement in verschiedenen Emanzipationsbewegungen auch mitbedingt waren durch transgenerational vererbte Traumata der Elterngeneration.
Die Autorin
Gabriele Teckentrup, Jg. 1944, ist analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Dozentin und Lehrsupervisorin am Michael-Balint-Institut in Hamburg. Sie studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaft, Pädagogik und Germanistik. Sie forscht zu Geschlechterdifferenz, Adoleszenz, Film und Psychoanalyse, Trauma und transgenerativer Traumatisierung.
Entstehungshintergrund
Das Buch greift auf Interviews zurück, die bereits 1995 mit damals politisch aktiven Frauen geführt worden waren und Grundlage einer Dissertation werden sollten. Dass die Autorin dieses Projekt damals aufgab infolge der abschlägigen Einschätzung eines Gutachters, der das Thema damals nicht für forschungsrelevant hielt, hatte einerseits mit dem Angewiesensein auf ein Stipendium, andererseits mit eigene Selbstzweifeln zu tun. Letztere seien Folge der eigenen Sozialisation der Autorin gewesen, die derjenigen der interviewten Frauen in vielen Punkten ähnlich war. Teckentrup berichtet, dass sie selbst in der Studentenbewegung und der sich kritisch an diese anschließenden Frauenemanzipationsbewegung ein Befreiungspotenzial von alten Rollen und Klischees erlebte, das sie damals begeisterte, ehe sich Enttäuschungen und damit verbundenes Nachdenken über ihre Erwartungen und Aktivitäten einstellten. In Verbindung mit den Forschungen zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata wurde ihr in den letzten Jahren bewusst, dass dieses Thema bis heute von Bedeutung ist, weshalb sie die Interviews von damals wieder aufgriff und sich mit einigen der Frauen 30 Jahre später erneut zu Gesprächen traf, um über ihre damalige Einschätzung ihrer politischen Entwicklung aus der heutigen Perspektive zu reflektieren.
Aufbau
Anstelle eines Vorworts gibt die Autorin hier jenen Brief wieder, den sie an die damals interviewten Frauen richtete mit der Erklärung, warum sie das Projekt damals nicht fortführte und warum sie es nun erneut aufgreifen möchte. Anschließend leitet sie in das Buch ein, indem sie dessen Entstehungsgeschichte und die Hintergründe derselben kurz zusammenfasst, um dann zunächst allgemein auf die Lebensgeschichte von Frauen der zweiten Generation nach dem Krieg, der auch sie angehört, einzugehen. Dabei stellt sie fest, dass die aktive Mitwirkung von Frauen bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts entweder behindert oder ignoriert wurde und auch in der späteren Beschreibung dieser Jahre kaum Erwähnung findet.
Im sich anschließenden IV. Kapitel stellt die Autorin in kurzen Einführungskapiteln die zentralen psychoanalytischen Konzepte des Unbewussten, die Bedeutung von Traumatisierung und deren transgenerativer Weitergabe in Verbindung mit dem Phänomen der Gefühlserbschaften vor und geht auf die besondere Bedeutung der Adoleszenz als zweiter Chance für die Verarbeitung von Erfahrungen aus der Kindheit ein. In Kapitel V beschreibt sie den Ablauf und die Funktion narrativer Interviews und stellt dann in den Kapiteln VI und VII die Interviews aus dem Jahr 1995 mit den Frauen der 68er Bewegung in Hamburg vor. Die ersten drei dieser Interviews werden einer ausführlicheren Interpretation unterzogen, die nachfolgenden Interviews nur wiedergegeben. Das VIII. Kapitel wertet die Eindrücke aus diesen Interviews nochmals aus und fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Daran schließen sich im letzten IX. Kapitel aktuelle Gespräche von 1922 mit den wenigen noch erreichbaren Frauen an, welche die Autorin mit einigen Nachgedanken zu jener Zeit und ihrer Bedeutung für die Biographien der interviewten Frauen wie auch für ihre eigene Lebensgeschichte abschließt.
Inhalt
Die insgesamt elf wiedergegebenen Interviews mit Frauen, die als Kriegs- oder Nachkriegskinder geboren wurden und sich durch die 68er Bewegung politisierten und in der politischen Szene Hamburgs sowie in der Frauenbewegung eine Rolle spielten, können, wie Teckentrup einräumt, keine repräsentativen Erkenntnisse liefern. Dennoch geben sie nach Auffassung der Autorin Einblicke in die Entwicklungsverläufe dieser Biographien, in die Motivationen für das politische Engagement und schließlich auch in die transgenerationalen Verstrickungen dieser Frauen in die NS-Vergangenheit ihrer Eltern. Dabei spielt für Teckentrups eigene Motivation die Unsichtbarkeit von Frauen in den politischen Auseinandersetzungen, die sie als „gestohlenen Geschichte“ bezeichnet, eine große Rolle. Für die Generation von Frauen, die im Nationalsozialismus als junge BDM-begeisterte Frauen oder als bereits Erwachsene mit verantwortlich für die Ereignisse im Nationalsozialismus waren, habe diese historische Unsichtbarkeit jedoch über lange Zeit den Vorteil gehabt, dass sie nicht als Mittäterinnen, sondern als Opfer des NS gesehen wurden. Die Mitverantwortung der Generation der Mütter und die daraus folgende transgenerationale Verstrickung in Schuld zu erkennen und anzuerkennen, ist nach Teckentrup Teil des Emanzipationsprozesses der 68er-Frauen. Hierbei legt sie insbesondere Wert darauf, „die unbewussten Beweggründe von Frauen der zweiten Generation [zu] erfahren, die dazu führten, dass sie gegen die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, Strukturen und Normen und damit gegen die Elterngeneration aufbegehrt und Widerstand geleistet haben …“ (14). Diese Erfahrungen hätten auch für die weibliche Identitäts- und Lebensentwicklung eine wichtige Rolle gespielt und es den 68er Frauen überhaupt erst ermöglicht, aus den erstarrten, auch durch die NS-Ideologie geprägten Geschlechterzuweisungen auszubrechen.
Durch sorgfältige Analyse ihrer Gegenübertragungsreaktionen gelingt es Teckentrup, einige entscheidende Wünsche und Motive bei den Interviewpartnerinnen zu benennen, die möglicherweise typisch für die „zweite Generation“ von Frauen waren. Gleichzeitig untersucht sie auch die Behinderungen und Einschränkungen, die nicht nur von den Männern ausgingen, sondern in der verinnerlichten Bereitschaft der Frauen zu Anpassung und Opferbereitschaft begründet waren, genährt durch die große Sehnsucht nach Anerkennung durch „Vaterfiguren“ und die Angst vor Ausschluss aus den politischen Gruppierungen. Diese war den meisten Töchtern in den Herkunftsfamilien verweigert worden, sie sollten sich den Männern unterordnen, früh heiraten und keinesfalls studieren. Darin sieht die Autorin auch die These Eckstaedts (1989) [1] bestätigt, dass die transgenerationale Traumaweitergabe in der deutschen Nachkriegsgesellschaft u.a. in der Weitergabe von Hörigkeitsverhältnissen bestand. Dabei ist die Angst, keine Anerkennung zu bekommen und aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden, selbst Bestandteil des transgenerativen Erbes, denn der Ausschluss aus der (Volks-)Gemeinschaft und damit verbundene Sanktionen und Ächtungen waren ein verbreitetes Druckmittel im nationalsozialistischen Herrschaftssystem.
In allen Interviews wird deutlich, dass die Frauen die Lebensumstände der Nachkriegszeit, egal ob in der damaligen DDR oder in der BRD, als mehr oder weniger stark beengend erlebt und den Aufbruch der 68er Bewegung und die daraus folgenden politischen und soziokulturellen Strömungen als emanzipatorisch Impulse wahrgenommen hatten. Sie benötigten jedoch jeweils einige Zeit, um sich von verinnerlichten Geboten und Ängsten zu befreien und merkten erst im Nachhinein, wie sehr sie sich auch noch in den neuen linken Zusammenhängen an die dort weiter bestehenden patriarchalen Strukturen anpassten und die klassischen Frauenrollen übernahmen. Diese Einschränkungen der Entwicklungsmöglichkeiten der Frauen führt die Autorin auch auf die weitgehend rigiden, von Verschweigen, Verdrängen und Bestrafen geprägten Erziehungsmethoden der Nachkriegsjahre zurück, in welchen die erste Generation mit der Abwehr ihrer Schuld- und Schamgefühle wie ihrer Traumata beschäftigt war, was zu Gefühlsstarre und mangelnder Empathie – für sich wie auch für die heranwachsenden Kinder – geführt hatte. Die Aufbruchstimmung der 68er Generation sei somit auch Ausdruck des Wunsches gewesen, sich von den unbewusst übernommenen Schuld- und Schamgefühlen zu befreien. Die emotionale Enge und Verständnislosigkeit der Eltern erzeugten bei den Töchtern zudem eine innere Distanz und den Wunsch nach innerem Rückzug oder Ausbruch aus der Familie. Einige der interviewten Frauen sprechen über Scham auch angesichts der Armut der Eltern, die in manchen Regionen ein Ausgrenzungsfaktor war, in anderen eher Normalität. Vor diesem Hintergrund erklärt sich Teckentrup das Aufkommen der Frauenbewegung zugleich mit dem Wunsch, die ödipale Schuld an den Müttern wieder gut zu machen, indem die Töchter deren „sozialen Tod“ aufheben und etwas leben wollten, was den Müttern nicht möglich gewesen war, was diese sich aber gewünscht hätten. Die Töchter hätten mit ihrem Aufbruch folglich auch einen unbewussten Wunsch der Mütter nach einem eigenen Leben realisiert (207).
Diskussion
Das Buch leistet eine Aufarbeitung der unbewussten Verstrickungen der Frauen der 68er Bewegung in die unbewältigte NS-Vergangenheit ihrer Eltern bzw. Mütter, die zu einer zeitweiligen Fortsetzung bestimmter Verhaltensmuster beigetragen hatten. Teckentrups Buch macht diese Verstrickungen transparent, aber auch, wie sich daraus eine Frauenemanzipationsbewegung entwickelt hat, welche für die Transformation der Geschlechterverhältnisse in Deutschland und die Veränderung von Erziehungspraktiken wesentlich war. Daher ist dieses Buch ein wichtiger Beitrag zur jüngsten Zeitgeschichte nicht nur aus gesellschaftspolitischer, sondern auch sozialpsychologischer Sicht.
Fazit
In ihrer Zusammenfassung macht Teckentrup deutlich, dass die Sehnsucht nach Führungsfiguren und deren Idealisierung sowie bestimmte politische Aktionen der 68er Bewegung und der Frauen in diesem bestimmten Muster wiederholten, die schon die Elterngeneration in der NS-Zeit erlebt bzw. realisiert hatte (216). In der Erkenntnis der interviewten Frauen, dass sie das patriarchale System der politischen Bewegungen der 68er lange mitgetragen haben, zeigt sich ein zu jener Zeit noch unbewusstes Wiederholungsmoment gegenüber der Elterngeneration. In der Anerkennung ihres Scheiterns und der Loslösung aus diesen Strukturen hätten diese Frauen dann jedoch etwas nachgeholt, was der Elterngeneration nicht möglich gewesen war: einen sowohl persönlichen wie (inter-)generativen Trauerprozess, der die Entwicklung neuer Identitäten ermöglicht habe (214f).
Summary
The book comes to terms with the unconscious entanglements of the women of the 1968 movement in the unresolved Nazi past of their parents, which led to a temporary continuation of certain patterns of behaviour. In her summary, Teckentrup makes it clear that the longing for leadership figures and their idealisation as well as certain political actions of the '68ers repeated certain patterns that the parents' generation had already experienced or realised during the Nazi era. The book makes these entanglements transparent, but also how a women's emancipation movement developed from them, which was essential for the transformation of gender relations in Germany and the change in educational practices. This book is therefore an important contribution to recent contemporary history, not only from a socio-political but also a socio-psychological perspective.
[1] Eckstaedt, A. 1989. Nationalsozialismus in der »zweiten Generation«. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen. Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Rezension von
Prof. Dr. Angela Moré
Leibniz Universität Hannover -
Institut für Soziologie, Lehrgebiet Sozialpsychologie
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