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Robert Haußmann, Susan Ebert (Hrsg.): Verhaltensstörungen bei Demenzerkrankungen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 10.10.2024

Cover Robert Haußmann, Susan Ebert (Hrsg.): Verhaltensstörungen bei Demenzerkrankungen ISBN 978-3-662-68296-8

Robert Haußmann, Susan Ebert (Hrsg.): Verhaltensstörungen bei Demenzerkrankungen. Leitfaden für Diagnostik und Therapie. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2024. 142 Seiten. ISBN 978-3-662-68296-8. D: 44,99 EUR, A: 46,25 EUR, CH: 50,00 sFr.

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Thema

Verhaltensstörungen sind im fortgeschrittenen Stadium der Demenz demenzspezifische Krankheitssymptome, die oft für die Erkrankten selbst als auch für pflegende Angehörige und beruflich Pflegende ein großes Belastungspotential bilden. Hinzu kommen oft Problemlagen, die bei der Pflege und Betreuung Gefahren der Selbst- und Fremdgefährdung in sich bergen, besonders wenn die Verhaltensstörungen mit tätlichen Aggressionen verbunden sind. Die vorliegende Publikation kann in diesem Themenbereich als Leitfaden für Diagnostik und Therapie dienen.

Herausgeber und Autoren

Priv.-Doz. Dr. med. habil. Robert Haußmann, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Geriater und Susan Ebert (Mag.), Sozialarbeiterin sind in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden tätig. Des Weiteren haben an dieser Publikation mitgewirkt: Moritz Brandt, Florian Bruns, Markus Donix, Regina Mayer, Martin Mirus, Ulrike Reuner und Julia Schellong.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation besteht aus zehn Beiträgen. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen illustrieren die Texte.

In den ersten drei teils kurzen und einleitenden Beiträgen erläutert Robert Haußmann die Begrifflichkeit der BPSD (verhaltensbezogene und psychologische Symptome einer Demenz – englisch: behavioral and psychological symptoms in dementia, Abkürzung BPSD). Es handelt sich dabei überwiegend um neuropsychiatrische Symptome wie Aggression, Agitation, Enthemmung, psychotisches Erleben wie Halluzination und Fehlwahrnehmungen, aber auch Unruhe und Schlafstörungen. Ebenfalls werden auch Apathie, Rückzugsverhalten und Initiativarmut in dieses Symptomfeld eingeordnet. Dem Stand der Forschung nach unterscheiden sich die Krankheitssymptome je nach Typus der Demenz. Bei vaskulären Demenzen überwiegen im Vergleich zur Alzheimerdemenz depressive Symptome, Angstzustände und Stimmungsschwankungen, während Lewy-Körperchen-Demenzen oft mit visuellen Halluzinationen und psychotischen Symptomen verbunden sind. Die Frontotemporale Demenz (FTD) hingegen zeigt u.a. überwiegend Enthemmungsphänomene mit Auffälligkeiten im Sozialverhalten, Agitation sowie Verhaltensstereotypien. Der Autor hebt hervor, dass Verhaltensstörungen im Rahmen von Demenzerkrankungen immer auf einer Wechselwirkung von Erkrankung, Umweltfaktoren, Biografie und prämorbider Persönlichkeit beruhen. Dementsprechend sollte eine medikamentöse Behandlung möglichst erst nach dem Versuch mit verhaltens- und milieubezogenen Umgangsformen (nichtmedikamentöse Interventionen) praktiziert werden. Anschließend wird ausgeführt, dass die BPSD-Symptome in letzter Zeit u.a. in den Klassifikationssystemen ICD, DSM und auch in der S3-Leitlinie „Demenzen“ zunehmend berücksichtigt werden. Bezüglich einer BPSD-Therapie wird u.a. ein „BPSD-DATE-Algorithmus“ mit den Elementen Symptombeschreibung, Ursachenanalyse, therapeutische Intervention und Evaluation vorgestellt. Den Abschluss bilden mögliche Ursachen, pathophysiologische Konzepte und Erklärungsmodelle der BPSD-Symptome. Hervorgehoben wird hierbei vor allem der Sachverhalt, dass das unzureichende Stressbelastungsvermögen in Verbindung mit der Unfähigkeit zur Selbstberuhigung die zentrale Ursache für die BPSD-Symptome ist.

Martin Mirus und Regina Mayer befassen sich in ihren Beitrag mit Schmerz im Kontext der BPSD. Sie führen zu Beginn aus, dass Demenzkranke ihre Schmerzen aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr angemessen mitteilen können und dadurch oft keine ausreichende Schmerzbehandlung erhalten. Sie vermuten, dass die Chronifizierung der Schmerzen auch das Fortschreiten des Abbauprozesses beschleunigen kann. Ca. 60–80 Prozent der demenzkranken Heimbewohner sind schmerzerkrankt, wobei die Schmerzursachen u.a. im Bereich der Muskeln, Knochen, Nerven und Sehnen liegen. Auch Dekubiti sind mit Schmerzen verbunden. Der dauerhafte Schmerz zeigt sich auch deutlich in verschiedenen Verhaltensänderungen wie Depression, Aggression, Rufen, Klagen, Weinen, Stöhnen, aber auch in Lethargie, Rückzug oder Essensverweigerung. Es folgt die Beschreibung der verschiedenen Instrumente zur Erfassung des Schmerzes und dessen Behandlung gemäß der S3-Leitlinie „Schmerzassessment bei älteren Menschen“. Der Abschluss des Beitrages besteht aus Empfehlungen zur pharmakologischen Behandlung (u.a. Paracetamol, Metamizol und Ibuprofen).

Moritz Brandt beschreibt Schlafstörungen bei Demenzerkrankungen, denn ca. 25 – 50 Prozent der Erkrankten leiden unter diesen Störungen, die häufig bereits vor Ausbruch der Demenerkrankung, also im vorklinischen Stadium, zu beobachten sind. Mit der Demenz assoziierte Schlafstörungen sind u.a. somnische Störungen mit isolierter Ein- und Durchschlafstörung, zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen mit fragmentiertem, reduziertem Nachtschlaf und exzessive Tagesschläfrigkeit (Hypersomnie). Auch Parasomnien wie die REM-Schlaf-Verhaltensstörung sowie schlafbezogene Atmungsstörungen und das Restless-Legs-Syndrom gehören hierzu. Des Weiteren wird ausgeführt, dass eine reduzierte Schlaftiefe in den mittleren Jahren (weniger als 6 Stunden pro Nacht) das Risiko, an einer Demenz im Alter zu erkranken, um ungefähr 30 Prozent erhöht. Ergänzend werden medikamentöse Therapien für die verschiedenen Schlafstörungen bei Demenzkranken erörtert.

Markus Donix beschreibt depressive Symptome bei Demenzkranken im Kontext zwischen affektiver Dysregulation und eigenständiger Erkrankung, die neben der Apathie zu den häufigsten Verhaltensstörungen gehören. Diagnostische Kriterien für eine Depression bei der Alzheimerdemenz sind u.a. eine gedrückte Stimmung, sozialer Rückzug, Appetitverlust, Schlafstörung und das Gefühl von Wertlosigkeit oder Schuld. Bezüglich der Behandlung der Depression werden neben einer medikamentösen Therapie (u.a. selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) u.a. auch nichtmedikamentöse Verfahren praktiziert: patientenzentrierte Methoden (u.a. Aromatherapie, Validation), Maßnahmen für pflegende Angehörige (u.a. Wissensvermittlung, Unterstützung und Training) und zwecks Vermeidung von Über- oder Unterstimulation der Demenzkranken Veränderungen des räumlichen und sozialen Umfeldes.

Susan Ebert referiert über psychosoziale Interventionen bei der Bewältigung der verschiedenen Verhaltensstörungen Demenzkranker. Zu Beginn werden allgemeine Aspekte sozialmedizinischer Beratung Demenzkranker und ihrer Angehörigen erläutert, die möglichst niederschwellig gestaltet werden sollten. Hausbesuche und auch telefonische Beratungen der Demenzkranken und ihrer Angehörigen sind Bestandteile des Leistungsangebotes einer Beratung. Des Weiteren werden Umgangs- und Interventionsformen bezüglich der demenzspezifischen Verhaltensstörungen (BPSD) angeführt: u.a. kognitive Verfahren, Ergotherapie, körperliche Aktivierung und künstlerische Therapien (Musik-, Kunst- und Tanztherapie) sowie sensorische Verfahren (Aromatherapie, Snoezeln, Massagen und Lichttherapie). Diese Maßnahmen wirken sich u.a. positiv auf das Wohlbefinden aus und lindern nachweislich die Stresssymptomatik der Demenzkranken. Es folgen Ausführungen über die verschiedenen Formen der Angehörigenberatung und fachbezogenen Angehörigenschulung, die zur psychischen Stabilisierung der Betroffenen beitragen und sich auch auf das Ausmaß der Heimeinweisungen auswirken.

Robert Haußmann expliziert medikamentöse Therapien bei Verhaltensstörungen Demenzkranker (BPSD), wobei er vorab darauf verweist, dass laut S3-Leitlinie „Demenzen“ vor dem Einsatz pharmakologischer Interventionen immer erst psychosoziale Maßnahmen angewendet werden sollten. Des Weiteren wird hervorgehoben, dass nicht jede Verhaltensstörung (BPSD-Symptom) behandlungsbedürftig ist (u.a. fehlender Leidensdruck und Wohlbefinden). Hieran anschließend werden verschiedene medikamentöse Vorgehensweisen und Strategien erläutert: „Off-label-use“, Einsatz von Antidementiva ((Acetylcholinesteraseinhibitoren und Memantin), Antipsychotika (u.a. Risperidon, Haloperidol und Aripiprazol), Antidepressiva und weiteren medikamentösen Behandlungsformen (u.a. Stimmungsstabilisatoren, Melatonin und Ginkgo biloba), die jedoch keine ausreichende Evidenz hinsichtlich ihrer Wirksamkeit aufweisen können.

Julia Schellong gibt einen Überblick über Trauma und Traumafolgestörungen bei BPSD. Es werden u.a. die akute Belastungsstörung (Symptome u.a. Angst, Verwirrung, Über- und Inaktivität), die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (Symptome u.a. angstvolles Wiedererleben und Vermeiden traumanaher Reize) und die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) (Symptome u.a. Minderwertigkeitsgefühle und Beziehungs- und Kontaktstörungen) beschrieben. Studien haben belegt, dass ehemalige Soldaten mit Kriegserfahrung ein erhöhtes Risiko haben, später an einer Demenz zu erkranken. Bei Demenzkranken im frühen Stadium hat sich die Psychotherapie als Behandlungsform bewährt. Im schweren Stadium steht das Vermeiden von Reizgefügen im Vordergrund, die das Wiederaufleben der Traumata verursachen könnten.

Florian Bruns und Ulrike Reuner referieren über ethische Aspekte des Managements behavioraler und psychologischer Symptome bei Demenz (BPSD). Sie führen einleitend aus, dass das Fürsorgegebot und auch die Fürsorgepflicht von großer Bedeutung für Ärzte und Pflegende ist. Trotzdem gilt es das Bedürfnis nach Autonomie und Freizügigkeit der Demenzkranken besonders im Rahmen freiheitseinschränkender Maßnahmen und pharmakologischer Interventionen zu berücksichtigen. Des Weiteren wird auf den Einsatz von Überwachungstechnologien und simulierter Präsenztherapie eingegangen. Kritisch wird die PEG-Ernährung eingeschätzt, da sie mit einem erhöhten Risiko für Aspiration, Übelkeit und Diarrhoen verbunden ist.

Diskussion

Die folgenden Fakten hätten aus der Sicht des Rezensenten bezüglich der Thematik Verhaltensstörung bei Demenzen Erwähnung finden sollen: Im schweren Stadium der Alzheimerdemenz (Reisberg-Skalen Stadium 6) befinden sich die Erkrankten aufgrund des fortschreitenden neuropathologischen Abbauprozesses auf dem Entwicklungsstadium von Kleinkindern (krankhafte Rückentwicklung – Retrogenese) (Reisberg et al. 1999). Ähnlich wie Kleinkinder verhalten sie sich dann auch und zeigen dementsprechend die typischen Wahrnehmungs- und Verhaltensstörungen, die als Symptome einer Demenzverkindlichung klassifiziert werden können. Pflegende und Betreuende in den Pflegeheimen vermögen überwiegend damit angemessen umzugehen (Lind 2022 und 2023, Sachweh 2023). Da die vorliegende Publikation jedoch für die fachspezifische Ärzteschaft konzipiert ist, darf das vorliegende Manko nicht als allzu bedeutsam betrachtet werden. Es kann festgestellt werden, dass es den Autoren gelungen ist, verschiedene Formen von Verhaltensstörungen bei Demenzkranken ausreichend dargestellt zu haben. Besonders die Explikation der medikamentösen Therapien wird umfänglich vorgenommen. In diesem Zusammenhang gilt es zu erwähnen, dass für die Autoren eine medikamentöse Therapie nicht bei Verhaltensstörungen ohne Leidensdruck angezeigt ist. Wenn z.B. eine Demenzkranke sich freudig mit ihrem Spiegelbild unterhält, dann sollte nicht interveniert werden. Betont wird auch das Faktum, dass vor allem das krankheitsbedingte äußerst geringe Belastungsniveau in Kombination mit dem Unvermögen zur Selbstberuhigung vorrangige Gründe für das Auftreten von leidensverbundenen Verhaltensstörungen sind.

Fazit

Laut Klappentext soll das vorliegende Buch u.a. Geriatern, Neurologen und auch Allgemeinärzten eine kompakte Übersicht zur Themenstellung BPSD bieten. Diesem Anspruch wird die Publikation gerecht. 

Literatur

Lind, S. (2022) Die Demenzverkindlichung. https://www.svenlind.de/2022/05/29/die-demenzverkindlichung-5/

Lind, S. (2023) Wirksam umgehen mit Demenzverkindlichung. Pflegezeitschrift, 76 (3): 31–33

Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7–23

Sachweh, S. (2023) „Bei uns geht's bunt zu, nich?“ Kommunikation in Demenz‐Wohngemeinschaften. Göttingen: Verlag für Gesprächsforschung

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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ISSN 2190-9245