Martina Kruse, Katharina Hartmann et al. (Hrsg.): Trauma und Gewalt in der Geburtshilfe
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 08.10.2024
Martina Kruse, Katharina Hartmann, Lena D. Ontrup (Hrsg.): Trauma und Gewalt in der Geburtshilfe. Ein Handbuch für Fachkräfte. Schattauer (Stuttgart) 2024. 464 Seiten. ISBN 978-3-608-40086-1. D: 59,00 EUR, A: 60,70 EUR.
Thema
Expert:innen aus unterschiedlichen Fachgebieten beleuchten, was werdende Mütter und Eltern, Angehörige sowie Hebammen und Ärzt:innen im Kreißsaal und auch bereits davor und danach erleben und wie eine gewaltfreie Schwangerschaft und Geburt ermöglicht werden kann. Sie gehen anhand von soziologischen, psychologischen und auch politikwissenschaftlichen Konzepten auf unterschiedliche Formen und Felder der Gewalt ein und erleichtern den Dialog. Im Praxisteil werden Möglichkeiten zur Prävention sowie zur Versorgung und Betreuung der unterschiedlichen Betroffenen vorgestellt. Das ist von unschätzbarer Relevanz, denn die Geburt wirkt sich auf die Bindung von Eltern und Kind und somit auf die psychische Gesundheit über die Lebensspanne hinweg aus. Eine trauma- und gewaltfreie Geburt ist die Voraussetzung für eine gesündere Gesellschaft!
Herausgeber:in
Martina Kruse ist Hebamme und Familienhebamme, Systemische Beraterin sowie Traumafachberaterin. Sie leitet ein Team der Frühen Hilfen in Kerpen und arbeitet freiberuflich als Dozentin beziehungsweise Referentin. In Köln berät sie Frauen und Paare in eigener Praxis im Kontext von Trauma und Schwangerschaft. Dr.in phil. Katharina Hartmann, Initiatorin und ehemalige Moderatorin der Roses Revolution Deutschland; Gründungsmitglied und ehemalige Vorständin von Mother Hood e.V., aktuell tätig im Wissenschaftsressort und Leitung des Internationalen Netzwerkes des Vereins. Unterstützt werden die Herausgeberinnen von rund 30 Autor:innen aus verschiedenen Fachbereichen.
Aufbau und Inhalt
Sieben Teile umfasst dieses Buch neben den üblichen Formalia. Die einzelnen Kapitel sind dabei mit entsprechenden Literaturhinweisen versehen.
Teil I: Grundlagen
Zunächst geht es um die politik- und sozialwissenschaftliche Perspektive bezüglich des Themas Gewalt in der Geburtshilfe, bevor es um die Geschichte der Roses Revolution in Deutschland geht. Es folgen ein Blick auf den grund- und menschenrechtlichen Rahmen für geburtshilfliche erlebte und ausgeübte Gewalt im deutschen Rechtssystem sowie Rassismus in der Geburtshilfe. Der nächste Beitrag geht der Frage nach, inwieweit sozialer Staus und Klassismus Ursache für Diskriminierung von Schwangeren und Gebärenden sind. Es folgt ein Blick darauf, warum es auf Basis psychologischer Forschung überhaupt zu Gewalt in der Geburtshilfe kommt. Ein konkretes Fallbeispiel steht im nächsten Kapitel im Mittelpunkt. An diesem erläutert die Autorin, wie psychische, soziale und politische Aspekte ineinandergreifen, und leitet daraus Handlungsempfehlungen ab. Es folgen eine Beschäftigung mit dem Begriff des Traumas und Erläuterungen dazu, zu welchen psychischen Störungen und Pathologien von Gewalt im Rahmen der Geburt führen kann.
Teil II: Aus der beruflichen Praxis
In diesem Teil wird das Thema aus unterschiedlichen beruflichen Praxisperspektiven betrachtet. So wird beispielsweise deutlich, dass das Gewalterleben manchmal noch Jahrzehnte später zu Belastungen führen kann. Außerdem wird die Arbeit in einer Beratungsstelle näher betrachtet. In zwei Beiträgen berichten außerdem betroffene Mütter über ihre eigene Geschichte.
Teil III: Schlaglicht auf einzelne Gruppierungen – Intersektionalität
Die Forschung zeigt, dass marginalisierte Gruppen besonders betroffen sind von Gewalt im geburtshilflichen Kontext. Darum geht es in diesem Teil. So wird zum Beispiel die Versorgung von behinderten Schwangeren betrachtet, aber auch das wenig beachtete Thema Schwangerschaft und Geburt nach einer Vergewaltigung. Die Schilderung eines Trans Vaters über seine Erfahrungen während der Schwangerschaft und im Wochenbett finden sich ebenfalls in diesem Teil. Den Abschluss bildet ein Beitrag aus der Betroffenenperspektive, welche Art Gewalt Eltern bei Fehl- und Totgeburten erleiden.
Teil IV: Therapeutischer Blick auf das Familiensystem
Hier werden einige therapeutische Ansätze zur Bewältigung von Traumafolgen vorgestellt. Dazu gehört die Integrative bindungsorientierte Traumatherapie, bei der sowohl mit den Bezugspersonen als auch mit den Säuglingen und Kleinkindern gearbeitet wird. Im weiteren Verlauf steht ein Narrativer Therapieansatz im Fokus, bevor die Emotionale Erste Hilfe als eine Möglichkeit zur Intervention bei Krisen des Kindes nach als traumatisch erlebten Geburten eingeführt wird.
Teil V: Fachkräfte als Betroffene
In diesem Teil stehen die Fachkräfte im Mittelpunkt. So geht es zunächst um Mechanismen, Arten und Konsequenzen von Gewalterfahrungen in der Hebammenausbildung sowie das Erleben von Anti-Islam-Diskriminierung in der Hebammenwissenschaft aus der Studierendenperspektive. Ein weiterer Beitrag behandelt die Belastung von geburtshilflichem Fachpersonal durch nicht juristische Schuld. Zum Ende geht es darum, welche Maßnahmen die psychische Gesundheit und professionelle Handlungsfähigkeit des Fachpersonals in der Geburtshilfe unterstützen können.
Teil VI: Ansätze zur Prävention und Bewältigung
Hier stehen gute Beispiele aus der Praxis im Fokus, wie es Fachkräften gelingen kann, gewaltfrei und niedrigschwellig die Situation im Berufsalltag zu verbessern. So finden sich hier Grundlagen einer traumasensiblen Sicht- und Arbeitsweise sowie Chancen und Grenzen des Engagements der Betroffenen vor dem Hintergrund eines erweiterten Traumakonzeptes. Mit Benjamin Dittrich schreibt ein betroffener Vater, wie seine Erlebnisse letztlich zur Gründung einer Väter-Selbsthilfegruppe geführt haben. Ein weiteres Unterkapitel beschäftigt sich mit dem Einsatz von Integrationsmittler:innen zur Vermeidung von Respektlosigkeit und Gewalt rund um die Geburt. Den Abschluss dieses Teils bilden zwei Beiträge über praktische Grundsätze zu respektvollen gynäkologischen Untersuchungen in der Schwangerschaft sowie zur Bedeutung von professionellen Nachbesprechungen zur Verarbeitung des Erlebten oder zur Vorbereitung von Folgegeburten.
Teil VII: Ausblick
In diesem Teil werden diverse Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die Leser:innen weiter mit dem Thema auseinandersetzen können. Auch Adressen zur Vernetzung oder zur Vermittlung von Betroffenen finden sich in diesem Teil.
Diskussion
Als fundiertes Handbuch bewirbt der Verlag diesen Titel – und das ist an dieser Stelle kein leeres Versprechen. Mit fundierten Beiträgen trägt dieses Buch dazu, einen Themenkomplex in den Köpfen von Fachkräften zu verankern, den viel zu wenige Menschen auf dem Schirm haben. Dabei kann ein Trauma unter der Geburt nicht nur Auswirkungen auf Mutter und Vater – ja, tatsächlich! – haben, sondern auch die so wichtige Bindung zum Kind in der ersten Lebensphase. Und das wirkt sich auf ein ganzes Leben aus. Insofern ist es besonders wichtig, auch traumatische Geburtserfahrungen im Rahmen sozialpädagogischer Diagnostik mitzudenken. Dafür ist es wichtig zu wissen, dass es so etwas wie Gewalt und daraus resultierende Traumata unter der Geburt gibt. Denn ohne dieses Wissen kann man diese Aspekte auch nicht in die eigene Arbeit miteinbeziehen. Dabei sind die Texte – vor allem in den autobiografischen Beiträgen – bisweilen nur schwer auszuhalten. Mehr als einmal schüttelt man sich förmlich beim Lesen und stellt sich bedrückt die Frage, ob DAS wirklich in einem hochentwickelten Land wie dem unseren passieren kann. Ja, kann es, und deshalb ist dieses Buch so ungemein wichtig.
Fazit
Wer es nicht selbst erlebt hat, mag kaum glauben, dass Gewalt unter der Geburt so ein bedeutsames Thema ist. Es ist von unschätzbarer Relevanz, darüber aufzuklären, denn die Geburt wirkt sich auf die Bindung von Eltern und Kind und somit auf die psychische Gesundheit über die Lebensspanne hinweg aus. Eine trauma- und gewaltfreie Geburt ist die Voraussetzung für eine gesündere Gesellschaft! Dazu leistet dieses Buch einen enorm wichtigen Beitrag.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 08.10.2024 zu:
Martina Kruse, Katharina Hartmann, Lena D. Ontrup (Hrsg.): Trauma und Gewalt in der Geburtshilfe. Ein Handbuch für Fachkräfte. Schattauer
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-608-40086-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32318.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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