Heide Glaesmer, Silke Birgitta Gahleitner et al. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 28.11.2024
Heide Glaesmer, Silke Birgitta Gahleitner, Ingo Schäfer, Carsten Spitzer (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage. 1200 Seiten. ISBN 978-3-608-98783-6. D: 132,00 EUR, A: 135,70 EUR.
Thema
Das Handbuch der Psychotraumatologie bietet eine systematische Zusammenfassung der in Theorie und Praxis gesammelten Erkenntnisse zum aktuellen Stand des Wissens. Da sich die Psychotraumatologie dynamisch weiterentwickelt, wurde das Handbuch für die 5. Auflage grundlegend überarbeitet und erweitert. So stehen inhaltlich im Fokus unter anderem die Wirksamkeit von Therapie sowie psychosoziale Traumaarbeit und -pädagogik. Erweitert wurde diese Neuauflage um die Themen Geschichte, Justiz und Rassismus
Herausgeber:innen
Heide Glaesmer, Prof. Dr., ist stellvertretende Leiterin der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig und Leiterin der dortigen Arbeitseinheit „Psychotraumatologie und Migrationsforschung“. Silke Birgitta Gahleitner, Prof. Dr., lehrt »Klinische Psychologie und Sozialarbeit« an der Alice Salomon Hochschule in Berlin und leitet die Arbeitsgruppe »Psychosoziale Traumaarbeit, Traumaberatung und Traumapädagogik« der DeGPT.
Ingo Schäfer, Prof. Dr. med., leitet die Spezialambulanz für Traumafolgestörungen und die OEG-Ambulanz am Universitätsklinikum Eppendorf, das Hamburger Behandlungszentrum für geflüchtete Menschen mit Traumatisierungen, einen Schwerpunkt zur integrierten Versorgung von Patient:innen mit Borderline-Störung sowie den Arbeitsbereich Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten. Prof. Dr. med. Carsten Spitzer ist Ordinarius für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Rostock. Seine klinischen und wissenschaftlichen Interessen gelten den dissoziativen und Konversionsstörungen, dem Zusammenhang von traumatischen Erfahrungen, insbesondere Kindheitstraumatisierungen, und körperlichen Erkrankungen, den Auswirkungen von traumatischen Belastungen auf die Persönlichkeitsentwicklung sowie Persönlichkeitsstörungen, insbesondere der Borderline-Pathologie. Die Herausgeber:innen sind auch für die Fachzeitschrift „Trauma und Gewalt“ verantwortlich von rund 70 Autor:innen aus unterschiedlichen Fachgebieten.
Aufbau und Inhalt
Neben Einführung – zu der ein Vorwort und ein Text zur Geschichte der Psychotraumatologie – und Anhang – bestehend aus einem Verzeichnis der Autor:innen und Herausgeber:innen sowie einem Register – ist die Neuauflage in sieben Blöcke gegliedert:
- Psychologische und biologische Grundlagen der Psychotraumatologie
- Die Traumatherapie in den Hauptschulen der Psychotherapie
- Krankheitsbilder und Komorbiditäten
- Spezifische Kontexte
- Trauma in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten
- Interventionen
- Schnittstellen von Psychotraumatologie und Justiz
Eine Beschreibung aller Inhalte würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, so dass nur einige Kapitel näher betrachtet werden, wobei der Fokus vor allem auf den neu hinzugekommenen Beiträgen liegt. Aber zunächst zu den Grundlagen, die Andrea B. Horn und Andreas Maercker im ersten Kapitel des ersten Blockes mit dem Titel Psychologische Theorien zum Verständnis der Posttraumatischen Belastungsstörung legen. In diesem Kapitel werden relevanten Prozesse und deren konzeptionelle Fassung im Rahmen der Forschung zur Posttraumtischen Belastungsstörung (PTBS) und zur komplexen PTBS (kPTBS) vorgestellt, so dass die Leser:innen mit denselben Begriffsdefinitionen in dieses Handbuch einsteigen. Zunächst geht es dabei um Affekte und Emotionsregulation, die zwei zentrale Aspekte der (k)PTBS bilden. „Hier spielen insbesondere Ärger, Scham, Schuld, Rache und Ungerechtigkeitsgefühle eine wichtige Rolle, weil sie häufig im Rahmen der Störungen auftreten. Diese affektiven Erlebensweisen zählen zu den sogenannten sozialen Affekten, da ihr Erleben immer in einem sozialen Bezugsrahmen stattfindet“ (S. 25). Weitere Begriffe, deren aktueller Forschungsstand im Hinblick auf das Phänomen der Posttraumatischen Belastungstörung beleuchtet wird, sind: Gedächtnis, Dissoziation, Kognitive Bewertung, Sozio-interpersonelle Prozesse sowie Aufrechterhaltungsfaktoren nach dem Trauma. Dazu gehört zum Beispiel die sogenannte Überlebensschuld, die viele Betroffene haben. Sie wurde – schon lange vor den ersten theoretischen Überlegungen zur PTBS – zunächst bei Holocaust-Überlebenden beobachtet. Solche „[k]kognitive[n] Bewertungen (…) implizieren, dass eine Kontrollmöglichkeit über die traumatische Situation bestand, die altruistisch zu nutzen gewesen wäre“ (S. 33). Im Folgenden werden einige wichtigen Modelle vorgestellt. Wie in jedem Kapitel finden sich auch hier am Ende Literaturhinweise.
Jener Eingangs kurz erwähnte Einstieg in das Buch mit dem Titel Zur Geschichte der Psychotraumatologie von Heinz-Peter Schmiedebach ist einer der neu hinzu gekommenen Beiträge, in dem deutlich wird, dass psychische Reaktionen auf erschütternde Ereignisse seit der Antike bekannt sind. Die professionelle Auseinandersetzung mit Traumafolgestörungen, die erst im 19. Jahrhundert begann und mit modernen Lebens- und Arbeitsweisen und der Schaffung neuer Sozial- und Krankenversorgungssysteme verbunden ist, warf Fragen nach den Ursachen für die psychischen Folgeerscheinungen und nach gezielten therapeutischen Interventionen auf. Dominierten zunächst die Ärzte und Psychiater diese Debatten, so beteiligten sich später noch andere Professionen wie Juristen und Psychologen. Die Diskussionen kreisten mehr oder weniger um die zentrale Frage, wie sich im Hinblick auf ein körperliches und oder psychisches Trauma das Verhältnis von Körper und Psyche gestaltete, welche Mechanismen für die diagnostizierten Symptome verantwortlich und welche individuelle Disposition (Konstitution) möglicherweise gegeben waren. Die Entwicklung der vergangenen 150 Jahre war dadurch gekennzeichnet, dass sich auf der einen Seite das Spektrum traumatisierender Ursachen sehr stark erweiterte, auf der anderen die Zahl der möglichen Diagnosen immer mehr abnahm, bis sich schließlich der Terminus „Posttraumatische Belastungsstörung“ als zentrale Diagnose durchsetzte.
Ebenfalls neu aufgenommen in das Handbuch wurde das Kapitel Trauma und Belastungsreaktionen infolge von Rassismus und Diskriminierung von Maximiliane Brandmaier und Stephanie Cuff-Schöttle. Die Autorinnen verweisen eingangs (S. 503) auf eine Studie, die besagt, dass „Menschen, die bewusst oder unbewusst von Vorurteilen oder Diskriminierung betroffen waren, häufiger unter Essstörungen, Migränen, Burn-out oder Depressionen leiden“ und verknüpfen diese Erkenntnisse mit anderen Erkenntnissen aus der Forschung. So habe sich zum Beispiel gezeigt, dass von Rassismus Betroffene häufig im therapeutischen Rahmen nicht die Anerkennung für ihr Leid bekämen, die sie bräuchten, weil „gerade in transkulturellen Settings bestehen aufseiten der Behandelnden häufig Unsicherheiten“ (S. 503). In der Folge gehen die Autorinnen auf psychische und körperliche Folgen rassismusbezogener Belastungen ein. Hier zeigen zahlreiche Studien aus unterschiedlichen Ländern, dass das Erleben von Rassismus zu einem erhöhten Risiko führen im Bezug auf allgemeine psychische Belastungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, dissoziativen Symptomatiken, aber auch Angst- und Panikstörungen und Hoch-Risiko-Verhalten zum Beispiel durch Substanzmittelkonsum. Aber auch somatische Krankheitsbilder wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Verdauungs- oder Atembeschwerden. Ein großer Block des Textes beschäftigt sich mit dem Modell der „Race-based traumatic stress injury“, dessen Grundannahme darin besteht, „dass rassistische Erfahrungen unmittelbar oder kumuliert über die Zeit, in Abhängigkeit von der Häufigkeit solcher Erfahrungen sowie dem Entwicklungsalter der betroffenen Person, traumatisierend wirken können“ (S. 507).
Diskussion
Ein Preis um die 130 Euro sowohl für die Printversion als auch das E-Book lassen aufhorchen: Ist ein Buch das wirklich wert? Für diese Neuauflage des etablierten Handbuchs der Psychotraumatologie fällt die Antwort da sehr eindeutig aus: Ja, das ist es definitiv. Die Autor:innen sind profunde Fachleute, was der schieren Masse an Informationen, die das Buch bietet, eine beeindruckende Qualität an Fachwissen bietet. Hier schreiben Expert:innen, die sich mit ihren Themen auskennen. So entsteht eine Mischung aus Forschung und Praxis, wie sie mustergültig ist. Und davon profitieren die Leser:innen durchgängig, seien sie nun langjährige Fachkräfte oder gerade eben erst im Berufseinstieg. Besonders wertvoll an diesem Handbuch ist die Multiprofessionalität und Offenheit, mit der die Inhalte vermittelt werden. Hier existieren keine ‚Grabenkämpfe‘ zwischen Medizin/Psychiatrie auf der einen und (Sozial)-Pädagogik auf der anderen Seite. Das ist in der Praxis leider nicht immer so – umso schöner ist es, dass ein Standardwerk wie das vorliegende Multiprofessionalität vorlebt. Ein weiteres Plus des Buches liegt an der weitreichenden Überarbeitung und Anpassung an den aktuellen Wissensstand, was enorm aufwändig gewesen sein dürfte: So ist ein neu strukturiertes Inhaltsverzeichnis entstanden, nachdem alle vorhandenen Beiträge auf den aktuellen Stand gebracht wurden. Die Ergänzung um neue Themen erscheint sinnvoll und passend gewählt. Sie ergänzen die bisherigen Inhalte sehr gut. Rein formal haben Verlag, Herausgeber:innen und Autor:innen ein großes Lob dafür bedient, dass sie ein Buch vorgelegt haben, das schon beim Anfassen – und das ist in Zeiten des Kostendrucks nicht selbstverständlich – eine hohe Qualität bietet. Die setzt sich auch in der formalen Gestaltung mit einem lesefreundlichen Layout und guten ergänzenden grafischen Elementen fort.
Fazit
Das Handbuch der Psychotraumatologie bietet eine systematische Zusammenfassung der in Theorie und Praxis gesammelten Erkenntnisse zum aktuellen Stand des Wissens. Wer mit diesem Themengebiet zu tun hat, dem sei dieses Buch trotz des hohen Preises ans Herz gelegt. Es ist sein Geld wert.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 28.11.2024 zu:
Heide Glaesmer, Silke Birgitta Gahleitner, Ingo Schäfer, Carsten Spitzer (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024. 5., überarbeitete und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-608-98783-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32321.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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