Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier et al. (Hrsg.): Smashed to pieces - eine Klavierzerlegung
Rezensiert von Thomas Barth, 13.06.2024

Claudia Märzendorfer, Michael Glasmeier, Carsten Seiffarth (Hrsg.): Smashed to pieces - eine Klavierzerlegung / A piano dismantling.
Textem Verlag
2023.
176 Seiten.
ISBN 978-3-86485-295-4.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR.
Reihe: Campo - Band 5. .
Thema
Das Klavier spielt eine wichtige Rolle in der Musikgeragogik im Bildungswesen, im Sozialwesen, im Gesundheitswesen und in der Pflege, demente und behinderte Personen können von Unterricht profitieren. Doch das Klavier spielt, insbesondere in Österreich, auch eine kulturell bedeutsame Rolle als Statussymbol, das Klassengrenzen definiert. Klavierausbildung ist für höhere Töchter oft Teil der Sozialisation und dient der Disziplinierung, wie in Werken der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek beschrieben („Die Klavierspielerin“). Künstler:innen setzen sich im vorliegenden Band mit dieser kulturell-politische Seite des Instruments auseinander.
Autor:innen
Prof. Michael Glasmeier ist Kunsthistoriker, Lyriker und Ausstellungsmacher und befasst sich mit bildender Kunst, Musik, Sprache, Film, Fotografie sowie Komik, Subversion und Politik. Claudia Märzendorfer ist bildende Künstlerin, die Objekte und Performances kreiert, sie arbeitet „mit Installationen, Film als Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Klang und Text. Ihre Arbeiten verfolgen eine konzeptuelle Strenge und werden häufig in Schwarz und Weiß ausgeführt.“ (Wikipedia) Sie verwendet analoge Techniken im Digitalzeitalter, beschäftigt sich mit Archiven und kreiert ortsspezifische Installationen.
Aufbau und Inhalt
Der originelle Aktionskunstband ist Buch und Kunstwerk zugleich. Das Buch funktioniert als Daumenkino im DIN-A-5-Format, das auf den rechten Seiten die De- bzw. umgekehrt Remontage des zerlegten Klaviers illustriert: Eine Performance von Claudia Märzendorfer. Die Bühne wird dabei statisch von oben aufgenommen, sodass man jeweils bis zu fünf Personen kommen, gehen und agieren sieht. Die ca. 75 Fotos zeigen die systematische Zerlegung des Instruments, bei der nur selten Schusswaffen, meist aber handelsübliche Werkzeuge, Schraubendreher, Zangen zum Einsatz kommen.
Linker Hand finden sich ein begleitender und kommentierender Fließtext. Ein langer Essay von Michael Glasmeier, spannt den kunstgeschichtlichen Rahmen auf. Der Text findet sich wiederholt auch in englischer Übersetzung. Das Werk dokumentiert den Versuch, Kunstwerk und Bilddenken, Filmzeit und Lesezeit in unmittelbaren Nachbarschaften reflektieren zu können. Glasmeier ist als Kunsthistoriker, der auch Film, Fotografie sowie deren Anwendung in Subversion und Politik im Blick hat, überzeugt, dass sich in der Performance auch Gegenwart und Geistesgeschichte spiegeln. Glasmeiers Kommentar spannt den Bogen über Johann Sebastian Bach, Kaiser Franz Josef, und Samuel Beckett bis zum Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, den er zitiert: „Das Aussprechen eines Wortes ist gleichsam ein Anschlagen einer Taste auf dem Vorstellungsklavier.“ (S. 94)
Auch Objekte der bildenden Kunst spielen eine Rolle: Neben der Bühne mit Motorroller und Klavier befindet sich, wie eingangs weitere Aufnahmen zeigen, eine seltsame Schreibmaschine auf einem Stapel Papier: Eine aus Tinten-Eis geformte Attrappe der vom Komponisten Arnold Schönberg erfundenen, aber nie gebauten „Notenschreibmaschine“, die langsam schmilzt und sich in die unter ihr aufgestapelten Notenblätter ergießt.
„In ihrem Videofilm smashed to pieces … (2018) zeigt die Wiener Künstlerin Claudia Märzendorfer die Zerlegung eines Klaviers in einem konzentrierten Live-Act, an dem acht Personen, Werkzeuge, ein Gewehr und ein Motorrad beteiligt sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Klavierzerstörungen – ein seit dem 19. Jahrhundert spezielles Sujet von Comedy bis zur Wiener Gruppe oder Fluxus – führt bei Märzendorfer der destruktive Akt zu stets neuen starken und überraschenden Bildfindungen und Tableaus.“(Verlagstext)
Als großbürgerliches Kulturmöbelstück, Prestige- und Kultobjekt besonders in Wien steht das Klavier, wie Glasmeier anmerkt, wie kein anderes Instrument für die KuK-Bourgeoisie und führt als Beleg Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ an. Lustvolle Zerstörungsorgien treffen schon seit Stummfilmzeiten gerne das Klavier, Resonanzmöbel und absoluter Klangkörper. Neben seiner pompösen Bürgerlichkeit wäre so das Instrument für anarchische Zweckentfremdung prädestiniert, so Glasmeier, „…zumal die immense Spannung, die vor allem beim Flügel auf die Saiten ausgeübt wird, es trotz seiner eher behäbigen Erscheinung ständig im übernervösen Zustand kurz vor dem Zerspringen hält.“ (S. 42) Futuristen, Dadaisten und kreative Musiker wie John Cage hätten sich schon daran ausgetobt.
Diskussion
Das ungewöhnliche Buchprojekt erklärt und demonstriert zugleich die Bedeutung des Klaviers für die bürgerliche Kultur indem es die Ablehnung des bourgeoisen Gesellschaftskonzeptes gewaltsam inszeniert. Die Disziplin, die beim Erlernen des Instruments gefordert ist, spiegelt sich in der disziplinierten Demontage, die wie bei einer Sektion Einzelteile freilegt, herausoperiert und als Tableau anordnet.
In Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ wird das strenge Regime einer auf Status und Konkurrenz angelegten Klavierausbildung drastisch beschrieben. Dabei rüttelte die Protagonistin Erika bekanntlich relativ vergeblich an den gesellschaftlichen Gitterstäben im bourgeoisen „Gefängnis ihres alternden Körpers“, jenem biopolitischen Dispositiv, dem das musisch-mechanische Dispositiv des Klavierkorpus zugeordnet ist. Ihre Versuche, sich von der dominanten Mutter zu befreien und ihre erotischen Fantasien auszuleben, bleiben im zähen Normengefüge einer verkrusteten Gesellschaft stecken. Wenn sich in Märzendorfers Performance aggressive Impulse gegen das Klavier richten, steht dies in langer künstlerischer Tradition. Nicht wenige Kulturschaffende agieren in ihren Werken und Aktionen traumatische Kindheitserfahrungen in harter Musikbeschulung aus, die zugleich den Anpassungsdruck bürgerlicher Regime symbolisiert. Die Zerstörung eines Klaviers scheint der Künstlerin die passende Antwort darauf und ein Kunstprofessor liefert dazu das passende „manplaining“ (explaining by an older man), wie man kritisch anmerken könnte.
Schon im April 1959, rekapituliert Glasmeier, hätten die skandalisierten Künstler der Wiener Gruppe mit Beilen ein Instrument zerlegt. Friedrich Achleitner fuhr dazu mit einem Motorroller auf die Bühne, was 2018 von Claudia Märzendorfer referenziert wurde: Die Wiener Künstlerin Nicole Six durfte bei dieser Klavierzertrümmerung auf der Vespa vorfahren und zückte ein Gewehr, um mit zwei Schüssen ins geöffnete Piano den Reigen der Gewalt zu eröffnen. Danach erfolgt jedoch eine ruhige, systematische Demontage, einer Vivisektion am Instrument gleich -womit die Performance gleich noch symbolisch das beliebteste Mediengenre nachstellt: Den Fernseh-Krimi: Ein Schuss, ein Schrei und alles Weitere nach der Obduktion, bis das Kleinbürgertum vor der Mattscheibe am Ende den Übeltäter in Handschellen vom Polizisten abgeführt sieht und mit zwei Lektionen in den süßen Schlaf sinken kann: Fürchte deinen Nächsten, er könnte ein Mörder sein, und nur die Staatsgewalt steht zwischen dir und dem Chaos.
Doch neben Revolte gegen Zwänge der Gesellschaft werden auch existenziellere Themen angesprochen. Wenn die bezeichnenderweise aus Tinten-Eis geformte Attrappe von Schönbergs Notenmaschine, langsam schmilzt und sich in die aufgestapelten Notenblätter ergießt, ahnt man: Es geht um Zeit, Musik, Mechanik und das Ringen des Menschen um Bedeutung in einer von Kultur überfluteten Welt. Das Gefühl, nie Zeit zu haben bei gleichzeitig unendlicher Langeweile in digitalen Medienwelten ist heute weit verbreitet. Das vorliegende Buch kann plastisch machen, wie Gegenaktionen sich in Kunst manifestieren und Menschen ihre Unfreiheit reflektieren und ihre Freiheit wiedergewinnen können.
Das Buch von Michael Glasmeier und Claudia Märzendorfer thematisiert die Absurdität einer bürgerlichen Gesellschaft, die uns disziplinieren will und dafür Musik bzw. das statusbetonende Klavier instrumentalisiert. Die Antwort der Performance ist analytisch und aggressiv zugleich. Die originelle Form des Buches als mediales Kunstwerk demonstriert weitere Kreativität und gibt aggressiven Fantasien eine kulturell angemessene Form. Es ist ein Buch, das verletzlichen und verletzten Personen, die mit der zornigen Klavierschülerin und kritischen Literatin Elfriede Jelinek fühlen, kathartische Linderung versprechen könnte. Vielleicht böte es auch eine humorvolle Auflockerung strenger Klavierausbildungen evtl. sogar in der Musikgeragogik.
Fazit
Das Buch von Michael Glasmeier und Claudia Märzendorfer thematisiert die Absurdität einer bürgerlichen Gesellschaft, die uns disziplinieren will und dafür das statusbetonende Klavier instrumentalisiert. Die Antwort der Performance ist analytisch und aggressiv zugleich, deren Präsentation in der originellen Form des Buches als mediales Kunstwerk verspricht auch eine humorvolle Auflockerung strenger Klavierausbildungen vielleicht sogar in der Musikgeragogik.
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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