Udo Rauchfleisch, Annette Güldenring et al.: Transidentität - Transgender
Rezensiert von Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz, 02.01.2025
Udo Rauchfleisch, Annette Güldenring, Jacqueline Born: Transidentität - Transgender. Transitionsprozesse begleiten und gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2024. 6., vollst. überarbeitete Auflage. ISBN 978-3-525-40039-5. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Thema
Auf der Basis seiner mehr als fünf Jahrzehnten Erfahrung in der Begleitung von Transgendern entwickelt Udo Rauchfleisch in dieser umfassend überarbeiteten und erweiterten 6. Auflage, wie Transitionsprozesse fachlich-professionell unterstützt und gemeinsam mit den trans* Personen gestaltet werden können. Er zeigt außerdem auf, wie die therapeutische Begleitung von Transgendern aussehen kann und widmet sich aktuellen Aspekten wie dem Zusammenhang von Binarität und Nichtbinarität, der Transition von Kindern und Jugendlichen und einer möglichen Detransition. Die Beiträge von Annette Güldenring und Jaqueline Born geben eindrücklich Einblick in das Leben transidenter Menschen und verbinden die theoretischen Informationen des Werks sehr anschaulich mit dem Alltag als trans*Person in einer binär-orientierten Gesellschaft.
In dieser 6. Auflagen wird ein wichtiger Schritt in Richtung Entpathologisierung von 'Transsexualität‘ gegangen. Udo Rauchfleisch zeigt dies durch die Einführung der Begriffe 'Transidentität' und 'Transgender‘, die anders als „Transsexualität“ die Entwicklung und Gestaltung der eigenen Identität als entscheidenden Aspekt in den Mittelpunkt stellen.
Das Buch richtet sich an beteiligte Fachpersonen im Transitionsprozess transidenter Menschen, aber auch an Transgender und ihre Angehörigen.
Autor
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, Diplom-Psychologe, Fachpsychologe (FSP/SVKP), Psychoanalytiker (DPG, DGPT), lehrte Klinische Psychologie an der Universität Basel uns als Psychotherapeut in privater Praxis tätig.
Aufbau und Inhalt
Im Kapitel Von der Krankheit Transsexualität zur nichtpathologischen Transidentität/Transgender geht Udo Rauchfleisch zunächst auf die Weiterentwicklung des Begriffs Transsexualität zu Transidentität ein. Darüber hinaus ersetzt er in der aktuellen Auflage die Bezeichnung „zugewiesenes Geschlecht“ mit „biologisches Geschlecht“ und begründet dies damit, dass die geschlechtliche Identität nicht allein auf der Basis äußerer Körpermerkmale festgelegt werden könne. Das „empfundene Geschlecht“ kann nur von der Person selbst bestimmt werden. Schlussfolgernd stellt er fest, dass Transgender zu sein immer auf einer Selbstdiagnose beruhen muss und nicht von außen zu validieren ist. Der anschließende historische Rückblick schlägt einen Bogen von ersten diagnostisch-pathologische Einordnungen im ICD und der Zuordnung der Transidentität als Störung der Kerngeschlechtlichkeit, hin zu einer Änderung im Verständnis von Transidentität. Einher geht der Prozess mit einer Entpathologisierung, die die Auffassung befördert, dass trans*Sein nicht die Störung der Geschlechtsidentität birgt, sondern als Identitätsvariante anzusehen ist. Das Anderssein im Vergleich mit dem Verhalten der Mehrheitsgesellschaft bleibt. Rauchfleisch konstatiert, dass die Anerkennung einer Nichtbinarität in einer von bisher kategorialen Unterscheidungen und binären Strukturen geprägten Kultur ein Umdenken und eine Modifizierung psychoanalytischer Konzepte führen muss, um nichtbinären Personen gerecht zu werden.
Das Kapitel Der Ablauf der Diagnostik und Begleitung zeichnet den Weg der Transition von Diagnose bis Nachbetreuung nach. Für Rauchfleisch bildet die psychische Situation der transidenten Person die Basis allen Handelns. Er wiederholt, dass die Diagnose Transidentität immer eine Eigendiagnose darstellen muss. Kritisch betrachtet Rauchfleisch in diesem Zusammenhang die Rolle der begutachtenden Fachpersonen und seine eigene bisherige Haltung zu dem Prozess der Begutachtung. Für ihn handelt es sich heute um einen selbstverantwortlichen Prozess und eine Bestätigung, dass im Diagnoseverfahren alle wichtigen Themen zur Transidentität und Transition besprochen wurden. Er bewegt sich weg von einer Bewertung von außen. Für ihn ist es nicht mehr vereinbar, dass z.B. ein Alltagstest gefordert wird. Entscheidet sich die trans*Person dafür, handelt sich einerseits um einen Selbsttest, aber auch ein Testen der Umgebung im Umgang mit dem Rollenwechsel. Weiter wird auf die Applikation gegengeschlechtlicher Hormone und angleichende chirurgische Maßnahmen an das empfundene Geschlecht sowie den Ablauf einer Personenstandsänderung und die Notwendigkeit einer Nachbetreuung eingegangen.
Im Kapitel zum Thema Die Begutachtung und Begleitung von Transidenten/​Transgendern stehen die Änderungen in den Rechtssystemen der deutschsprachigen Ländern Deutschland, Schweiz und Österreich im Mittelpunkt. Es wird positiv resümiert, dass in allen Ländern rechtliche Fortschritte zu verzeichnen sind.
Das Herzstück des Buches bildet das Kapitel Eigene Erfahrungen aus Begutachtungen und Behandlungen. Udo Rauchfleisch berichtet von seinen ersten Begegnungen mit transidenten Menschen, in einer Gesellschaft der 1970er Jahre, die Geschlechtsbinarität als unverrückbare Gegebenheit betrachtete. Aus seiner Sicht ist eine Transnegativität bis heute in der Umgebung von trans*Personen zu bemerken. Dies fördert nicht allein den Wunsch nach einem möglichst „guten Passing“, sondern führt auch häufig dazu, dass jegliche Anzeichen für das zugewiesene Geschlecht ausgemerzt werden wollen. Er entwickelt die Folgen einer Entpathologisierung für die Diagnostik und Begutachtung. Die Begutachtung wird dann zur Bestätigung der Entscheidung des Transidenten. Aus der Sicht des Autors wird aus der begleitenden Psychotherapie ein Coachingprozess. Sehr differenziert betrachtet das Kapitel außerdem basierend auf eigenen Erfahrungen die Situation von trans*Flüchtlingen, aber auch die Situation von trans*Kindern und Jugendlichen.
Das Kapitel Worauf kommt es in der therapeutischen Begleitung von Transgendern an? stellt als notwendige Vorbedingung einer Selbstreflexion der Therapeut:In der eigenen Gefühl und Vorstellungen hinsichtlich Geschlechtsidentitäten heraus. Bezüglich der Transidenten geht es darum Resilienz und Empowerment zu fördern. Es wird geklärt, wie diese entwickelt werden können und welche Phasen der Transition in besonderem Maße protektive Faktoren benötigen. Einen Schwerpunkt erhält auch, wie Autonomieentwicklung durch das in die Handnehmen eigener Angelegenheiten zur Stärkung des Selbstwertgefühls beiträgt.
Im Kapitel Mit welchen Fragen und Problemen sind Transgender konfrontiert? geht Rauchfleisch auf die Irritation ein, die Transgender in ihrer Umwelt auslösen können und die nicht zuletzt zu unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung führen kann. Es wird dargestellt, dass das Bearbeiten der erlebten Diskriminierung und Ausgrenzung einen wichtigen Teil der Begleitung der trans*Personen darstellt. Es besteht die Gefahr des Aufbaus eines negativen Selbstbildes und hat damit Konsequenzen für die Identitätsentwicklung. Die Teilhabe an Selbsthilfegruppen wird als entscheidende Ressource im Umgang negativen Reaktionen aus der Umwelt gesehen.
Das Kapitel Welche Hilfe können die Professionellen Transgendern bieten? beschreibt, dass in einem Transitionsprozess immer Professionelle verschiedener fachlicher Disziplinen beteiligt sind. Für Rauchfleisch ist ein ausschlaggebender Faktor, dass die Ziele und der Zeitpunkt der einzelnen Schritte bei der trans*Person liegen. Er stellt fest, dass trotz wichtiger Änderungen, wie das Selbstbestimmungsgesetz nach wie vor eine erhebliche Fremdbestimmung besteht. Rauchfleisch rät, dass eine Fachperson die Koordinationsfunktion übernimmt und als Ansprechpartner:In zur Verfügung steht. Er ändert auch seine Auffassung dahin gehend, dass er nicht mehr ausschließt, dass Begutachtung und psychotherapeutisch Begleitung in einer Hand liegen. Für ihn handelt es sich Zuge einer Entpathologisierung bei der Begutachtung nicht mehr um eine Beurteilung. Er stimmt Annette Güldenring zu, die fordert auf jedwede Psychodiagnostik der Geschlechtsidentität zu verzichten. Es werden weiterhin Angebote der Psychiatrie und Klinischen Psychologie vorgestellt. Rauchfleisch geht auf Angebote somatischer Fächer wie der Endokrinologie, Plastischen Chirurgie und Dermatologie ein. Ein weiteres Angebot stellt die juristische Beratung dar, die die Personenstandsänderungen, Versicherungen oder auch den Umgang mit einer bestehenden Ehe umfassen kann. Rauchfleisch merkt kritisch an, dass es bisher wenige Beratungsstellen, die bei Problemen und Fragen von trans*Personen fundiert unterstützen können. Hochemotional wird aus der Sicht des Autors in der Öffentlichkeit das Thema Detransition diskutiert. Der Autor führt aus, dass Transitionskritiker:Innen diese als Hinweis einer Fehlentscheidung ansehen. Er selbst ordnet das Wechseln in eine andere Geschlechtskategorie nachdem bereits ein Rollenwechsel stattgefunden hat, mit einem sehr positiven Blick, als Schritt auf dem Weg der Selbstfindung ein.
Im Kapitel Was können Transgender selbst tun wird der Fokus weg gelenkt von den Aufgaben und Handlugen der psychologischen und anderen Dienste hin zu den Aktivitäten der trans*Personen. Hier werden in ersten Linie Selbsthilfegruppen als Möglichkeit zum Erfahrungs- und Informationsaustausch beschrieben. Dort stehen Solidarität und Wertschätzung im Vordergrund. Es wird kritisch diskutiert, dass trans*Personen sich häufig zu früh im Transitionsprozess von Selbsthilfegruppen distanzieren. Ein weiterer Aspekt der emanzipatorischen Arbeit von Transgendern können politische Tätigkeiten und das sich Organisieren in Transgenderorganisationen sein.
In Rückblicke einem Beitrag von Annette Güldenring gelingt es den Lesenden in den Alltag und das Leben einer trans*Person mitzunehmen und die bisherigen Ausführungen biografisch lebendig zu machen. Besonders die Zeitreise ab den 1970er Jahren zeigt sehr eindrücklich mit welchen seelischen, körperlichen, sozialen, sowie rechtlichen Belastungen Menschen, die sich dem falschen Geschlecht zugeordnet fühlten zu kämpfen hatten. Annette Güldenring beschreibt aber auch, dass geschlechtlich variante Menschen sich in den letzten Jahren zunehmend Lebensräume und vermehrte Akzeptanz, ohne sich verstecken zu müssen erkämpfen konnten.
Eine andere Perspektive nimmt der ebenfalls autobiografische Beitrag Freegender von Jaqueline Born ein. Sie beschreibt, warum sie als Trans*frau auf eine chirurgische Angleichung an ihr empfundenes Geschlecht verzichtet und die Therapie mit Hormonen abgebrochen hat. Es wird deutlich, dass transidente Menschen immer mehr ihren eigenen Weg suchen und sich nicht mehr einer gesellschaftlich geforderten Zweigeschlechtlichkeit unterordnen wollen. Sie gehen ihren eigenen Weg im Transitionsprozess und bewegen sich als „drittes“ oder „viertes“ Geschlecht außerhalb vorgegebener Geschlechterrollen.
Gendertheoretische Aspekte der Transidentität nimmt den Blickwinkel auf cis Personen ein, deren Bild von einer Geschlechterpolarität durch Transgender infrage gestellt werden. Udo Rauchfleisch versucht mit der Normalitätsvorstellung einer binärorientierten Gesellschaft aufzuräumen. Er beschreibt Unsicherheit und Angst vor dem Verlust der „Selbstverständlichkeit“ der bisherigen Geschlechterordnung einer Mehrheitsgesellschaft. Die Ablehnung einer Non-Binarität, führt in unserer Gesellschaft nach Rauchfleisch nicht zuletzt zu Pathologisierung, Ausgrenzung und Aggression gegenüber trans*Personen. Aus den gendertheoretischen Überlegungen dieses Kapitels ergeben sich drei zentrale Konsequenzen: Transgender, die herkömmliche Geschlechterrollen sprengen sollen sich nicht in ein Binaritätskorsett zwängen lassen. Es gilt zu akzeptieren, dass etwas vom ursprünglich zugewiesenen Geschlecht ach der Transition durchschimmern kann. Es ist nicht notwendig die perfekte Frau oder der perfekte Mann zu sein. Mehr Transidente würden auf Hormonbehandlungen oder chirurgische Angleichungen verzichten, wenn sie gesellschaftlich so akzeptiert werden wie sie sich fühlen.
Abschließend fasst Rauchfleisch in Auf den Punkt gebracht seine Position in Bezug auf das Phänomen Transgender und den Umgang mit trans*Personen in 12 Thesen zusammen. Er stellt die bisherige Sicht unserer Gesellschaft auf Transgender in Frage und pointiert, dass sie, insbesondere nichtbinäre Personen, herausfordern binäre Geschlechtervorstellungen zu hinterfragen. Eine Akzeptanz vielfältiger Identitätsentwürfe, führt nach Rauchfleisch zu einer gesellschaftlichen Weite und Bereicherung.
Diskussion
Sehr überzeugend entwickelt Udo Rauchfleisch die Kritik am Gutachtersystem und die gleichzeitig damit verbundene Forderung nach Selbstbestimmung und Empowerment im Transitionsprozess und bei der Wahl individueller Angleichungsschritte an das empfundene Geschlecht. Sehr empathisch berichtet er von seinen Erfahrungen mit trans*Personen. Er spricht sich klar gegen die Bevormundung transidenter Personen aus. Er fordert eine Selbstdiagnose. Dies tut er mit einer großen Vehemenz, die zu leichten Redundanzen in dem Werk führt.
Transidentität wird, orientiert an der Neuerung im ICD-11 als Normvariante der Geschlechtsidentität betrachtet: Darum versteht Rauchfleisch seine Rolle als Begleiter im Transitionsprozess inzwischen ausschließlich als beratend. Welche Schritte im Transitionsprozess gegangen werden entscheidet jede trans*Person selbstverantwortlich. Rauchfleisch arbeitet heraus, dass Selbstverantwortung zu einem höheren Selbstwertgefühl und einem positiveren Selbstverständnis führen. Dies lässt umgekehrt weniger reaktive (sekundäre) überwiegend umweltbedingte psychischen Störungen entstehen.
Grundsätzlich ist dem gesamten Gutachterwesen in Bezug auf Transidentität in Deutschland, Österreich, der Schweiz und darüber hinaus zu wünschen, die gelebte Praxis in der Spannung zwischen Bevormundung und Selbstbestimmung zu reflektieren. Für Udo Rauchfleisch steht das Empowerment von trans*Personen im Vordergrund. Durch zur Verfügung gestelltes Fachwissen können eigenständige Entscheidungen getroffen werden. Damit liegt die Transition selbstverantwortlich bei den Betroffenen und eine Begutachtung wird überflüssig. Dieses Werk leistet einen wichtigen Beitrag auf dem Weg zu einer inklusiven und pluralen Gesellschaft.
Udo Rauchfleisch zeichnet einen Weg zu einem selbstbestimmten und weitestgehend diskriminierungsfreien Leben transidenter Menschen nach. Daraus ergeben sich die inhaltlichen Schwerpunkte: die Entpathologisierung durch die Einführung des Begriffs „Transidentität“, die Forderung der Selbstdiagnose als Teil eines selbstbestimmten Transitionsprozess statt einer Bevormundung durch Begutachtung und die Infragestellung einer binären Gesellschaft als manifestierte Norm.
Fazit
Der besondere Mehrwert des Buchs liegt zum einen in den fachlich fundierten Erfahrungen Udo Rauchfleischs, aber auch in den Essays von Annette Güldenring und Jaqueline Born. Diese gewähren völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen der eigenen Transidentität. Dadurch gelingt es, auch für einen nicht transidenten Menschen einen kleinen Zugang zum Alltag und die Gefühlswelt außerhalb herkömmlicher Geschlechterrollen zu bekommen.
Rezension von
Prof. Dr. Tanja Brandl-Götz
Studiengangsleitung des Studiengangs Pädagogik der Kindheit (B.A.) an der Evangelischen Hochschule Nürnberg
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Zitiervorschlag
Tanja Brandl-Götz. Rezension vom 02.01.2025 zu:
Udo Rauchfleisch, Annette Güldenring, Jacqueline Born: Transidentität - Transgender. Transitionsprozesse begleiten und gestalten. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2024. 6., vollst. überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-525-40039-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32325.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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