Tanja Kuhnert, Nikola Siller (Hrsg.): Systemik, die
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 18.03.2025

Tanja Kuhnert, Nikola Siller (Hrsg.): Systemik, die. Feministische Perspektiven systemischer Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2024. ISBN 978-3-525-40830-8. D: 50,00 EUR, A: 52,00 EUR.
Thema und Hintergrund
Egal, um welche Art der Arbeit es sich handelt: Wenn sie von Frauen geleistet wird, wird sie abgewertet oder verborgen. Das prägnanteste Beispiel ist die Care Arbeit, privat geleistet bleibt sie verborgen, bezahlt erbracht, wird sie geringer als den Anforderungen gemäß entlohnt. Aber auch in anderen Arbeitsfeldern gibt es dieselbe Unsichtbarkeit, Verdrängung und Missachtung der Arbeitsleistungen der Frauen. Je mehr ein Feld männlich dominiert ist, desto stärker greift dieser Mechanismus. Auch die Wissenschaft oder die Therapieschulen bilden hier keine Ausnahme. So werden die (früheren) Beiträge von Frauen in der systemischen Theorie und Praxis bislang kaum gewürdigt, sodass der Eindruck erweckt wird, dass es die Männer sind, die die Systemik geprägt haben und prägen. Das ist aber nicht richtig, wie dieses Buch belegt. Erstmals werden hier die Leistungen von Frauen in der theoretischen und konzeptionellen systemischen Arbeit, in der praktischen Anwendung und auch in den Fachorganisationen der Systemiker_innen zusammengestellt.
Herausgeberinnen
Tanja Kuhnert M.A. Gesundheits- und Sozialmanagement, Diplom Sozialarbeiterin arbeitet in der Systemischen Weiterbildung sowie in der eigenen Beratungspraxis (cambiat-systemisches Institut in Köln). Sie war Vorstandsmitglied in der DGSF (Deutschen Gesellschaft für systemische Beratung und Familientherapie).
Nicola Siller ist Politikwissenschaftlerin M.A., Lehrende für Systemische Beratung, Coaching und Organisationsentwicklung, Geschäftsführerin der gleichstellungspolitischen Kontakt- und Beratungsstelle Kompanera in Münster und arbeitet freiberuflich als Supervisorin, Coach und Trainerin.
Weitere 56 Personen, mehrheitlich weiblich, einige queer, waren direkt an der Arbeit für dieses Buch beteiligt (S. 8).
Aufbau
Das Ziel des Buches ist, unter einer feministischen Perspektive „die Beschreibungen und Definitionen dessen, was 'systemisch' meint, um weitere Bedeutungsgebungen zu ergänzen“ (S. 454) und die weibliche Seite der Systemik aufzuzeigen.
Die 532 Seiten enthalten neben dem Vorwort und der Einführung vier Teile:
- Teil I Musterbeschreibungen (Herausgeberinnen)
- Teil II Resonanzräume (9 Autorinnen),
- Teil III Gelebte Geschichte (19 Autorinnen)
- Teil IV Entwicklungsräume (Herausgeberinnen).
Die einzelnen Teile sind farblich am Seitenrand markiert, vertiefendes Downloadmaterial steht ebenfalls zur Verfügung. Im Anhang werden alle Personen, die mitgearbeitet haben, vorgestellt, es gibt neben dem Literaturverzeichnis ein Personenregister und ein Stichwortregister.
Inhalt
Im Vorwort würdigt Renate Regodtka die Absicht, den großen Beitrag von Frauen zu der Entwicklung der systemischen Theorie und Praxis sichtbar zu machen und nennt dieses Werk eine „systemisch-feministische Historienerzählung“ (S. 14)
In der Einleitung der Herausgeberinnen werden die Kerngedanken, die das Buch leiten, skizziert. Mit ihrem Begriff der Systemik wollen sie die Systemtheorie und verschiedenen Formen systemischer Praxis mit einer gesellschaftspolitischen Haltung verbinden. Damit knüpfen sie an die Anfänge der Systemik an, denn damals hatten die ersten Systemiker_innen einen gesellschaftspolitischen Anspruch und eine immanente machtkritische Haltung. In ihrer feministischen Perspektive auf systemische Theorie und Praxis gehen sie heute von der eigenen Verwobenheit als Frauen in patriarchale Strukturen und Muster aus. Sie greifen dabei die neueren Strömungen des feministischen Diskurses auf, der die Vielfalt der Geschlechter und eine intersektionale Perspektive auf Gleichstellung betont. Auch das viel diskutierte Dilemma wird bearbeitet: die binäre Unterscheidung von Männern und Frauen lässt zwar soziale Tatsachen und Benachteiligungen erkennen, anderseits aber macht dieselbe Unterscheidung eine geschlechtliche Vielfalt unsichtbar und schafft damit Ausschlüsse. Die Herausgeberinnen lösen das Dilemma auf systemische Weise: Die Denkfigur des Tetralemma bietet ihnen die Möglichkeit, die binäre Gängelung des „Entweder – oder“ zu umgehen, indem sie „beides“ machen: sie benennen die Unterschiede und heben sie gleichzeitig auf („Keins von beiden“), wenn sie das Potenzial der geschlechtlichen Vielfalt in den Blick nehmen.
Im Teil I entfalten die Herausgeberinnen ihre feministische Erweiterung der Systemik. Erkenntnistheoretische Überlegungen aus der systemisch-konstruktivistischen Sicht verweisen darauf, dass jede Benennung der Relevanz einer Information eine konstruktivistische Leistung ist und der Prozess der Auswahl der Informationen und die Unterscheidungsbildung immer abhängig vom Beobachtungsstandpunkt ist. Darüber hinaus ist die Kontextbildung der Informationen entscheidend, denn erwünschte Veränderungsprozesse müssen auch vom jeweiligen Kontext ermöglicht werden. Hier spielt das Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge und Strukturen, insbesondere Machtverhältnisse, eine große Rolle. Damit könnte die im systemischen Behandlungsprozess vielfach praktizierte „Beobachtung der Beobachtung“ (Kybernetik zweiter Ordnung) einen machtkritischen und geschlechtersensiblen Umgang mit Klienten fördern. Dazu braucht es aber ein Wissen um Machtverhältnisse, aus feministischer Sicht des Musters „Patriarchat“. Die Autorinnen möchten dafür „sensibilisieren, patriarchale Strukturen als Kontextfaktor für Erleben und Handeln von Klient_innensystemen, für die Entstehung und Aufrechterhaltung ihrer Leit- und Glaubenssätze und Interaktionsdynamiken einzubeziehen“ (S. 67). Dazu beschreiben sie die Auswirkungen des Patriarchats, die in intersektionaler Perspektive zu begreifen sind und damit einen Teil der Machtachsen bilden, in denen eine Person steht. Phänomene patriarchaler Ordnung (u.a. Abwertung von Frauen als minderwertig, die Zuweisung einer dienenden Rolle, ihre ökonomische Abhängigkeit, sexualisierte Gewalt gegen sie, doppelte Arbeitsbelastung und ungleiche Chancen) beeinflussen auch die systemische Praxis. Erkennbar wird dies etwa im Raumverhalten (z.B. repeating, mansplaining,) im Selbstwertgefühl der Frauen, in der mentalen Gesundheit oder in den gezeigten Emotionen der Klient_innen, sowie im Allgemeinen in dem Unsichtbar machen der Frauen auf den öffentlichen Bühnen. So lässt sich auch in der Geschichte der Systemik ein Verschwinden weiblicher Co-Autorinnen und Mitbegründerinnen von Instituten feststellen. Die Herausgeberinnen begreifen die Systemik als politisch und systemisches Handeln als Politik. Sie argumentieren, dass, wenn in der Beratungspraxis das Muster des Patriarchats nicht als Kontextfaktor berücksichtigt wird, damit die ungerechten Verhältnisse, die das Patriarchat hervorbringt, aktiv zementiert werden. Das ist dann keineswegs eine neutrale Haltung, sondern ein politisches Handeln. Daraus leiten die Autorinnen Konsequenzen für die systemische Theorie und Praxis ab und beantworten auch die Frage, wie gendersensible Praxis aussieht. Sie zeichnet sich aus z.B. durch genaues Hinhören, das Erkennen von Klischees und Herabsetzungen und der genauen Benennung von Problemen sowie der Förderung des Selbstwertes.
Im Teil II kommen systemisch arbeitenden Kolleg_innen zu Wort, die aus ihren Praxisfeldern und dem Umgang mit patriarchalen Phänomenen und Mustern berichten:
Mirjam Faust nutzt die feministische Perspektive, indem sie auf die Faktoren Gender, Macht und Patriarchat in der systemischen Paartherapie achtet: Konflikte von Paaren werden durch gesellschaftliche Erwartungen und Strukturen befeuert und sind nicht allein individuelle Probleme. Dies nicht zu thematisieren verschließt Lösungsmöglichkeiten. Sie stellt eine eigene Materialsammlung zur Verfügung (Reflektionsfragen, ein Machtressourcen-Diskussionsbogen und das „Beziehungs-Vesperbrettle“).
Astrid Hochbahn geht es um ein gendersensibles Coaching: „Das Patriarchat sitzt mit am Tisch“ (Titel S. 133) und zwar sowohl in der Reflexion der Beraterin als auch bei der Erzählung der Klient_innen. Ob bei der Berufswahl, Karriereplanung oder im Gründungsverhalten, in den scheinbar geschlechtsunspezifischen Welten fokussiert sie auf die subtilen Ausschlussmechanismen, die Frauen betreffen können. Unter anderem plädiert sie für eine Aus- und Weiterbildung, bei der die Reflexion der eigenen Erfahrung mit der patriarchalen Geschlechterordnung ein selbstverständlicher Teil ist.
Anna von Blomberg reflektiert in ihrem Beitrag, wie systemisches Denken für die Begleitung von Jugendlichen in ihrer Identitätsentwicklung hilfreich sein kann. Heutige Jugendliche gehören einer anderen Generation an als ihre Eltern und ihre Therapeut_innen. Deswegen ist die Selbstreflexion der eigenen geschlechtlichen Identitätsentwicklung bei allen Beteiligten am systemischen Beratungs- und Therapiesystem sehr wichtig. Die Autorin stellt viele Fragestellungen vor, die Berater_innen dabei unterstützen können.
Andrea Caby behandelt das Problem, dass in den traditionell somatisch-medizinischen Organisationen die Bereitschaft zu systemischer Therapie überhaupt erst noch gestärkt werden muss. Dabei nimmt sie die institutionellen Bedingungen (Hierarchien, mangelnde Augenhöhe und Transparenz) sowie die Behandlungsformen in den Blick. An einigen Pionierinnen zeigt sie, wie eine gendersensible Sicht ein deutliches Plus in der gesundheitlichen Versorgung bringen kann.
Um die Welt der Wissenschaft geht es Renate Zwicker-Pelzer. Auch anhand der eigenen Geschichte reflektiert sie, welche Barrieren es für Frauen gibt, die in der Wissenschaft Karriere machen wollen. Sie zeigt auf, wie ein Empowern für Frauen auch in der Hochschule möglich sein kann.
Anne Gemeinhardt und Marlen Gnärlich beschäftigen sich mit der intersektionalen Verschränkung von Geschlecht und Klasse. Die diskriminierenden Wirkungsmechanismen von „weiblich“ und „Arbeiterklasse“ prägen auch die systemische Beratung und Therapie. Angesichts der noch verbreiteten Nichtbeachtung gesellschaftlicher Verhältnisse in den systemtheoretischen Konzepten plädieren sie dafür, dass die Beratenden eine „neutrale“ Haltung bewusst aufgeben und die Machtachsen von Klasse und Geschlecht parteilich berücksichtigen.
In ähnlicher Weise plädieren auch Sannic Ben Dehler, Kat Fyrer, und Lara Hofstadt, wenn sie auf die Ausschlüsse von nicht- binären Personen sowohl als Auszubildende in der Systemik als auch als Klient_innen in der Systemik hinweisen. Sie versuchen, die Anschlussfähigkeit eines konstruktivistischen Verständnisses von Geschlecht an die systemischen Konzepte aufzuzeigen und bieten eine Reihe von Fragestellungen für die Reflexion der Praxis von Therapeuten_innen an, die helfen können, eine geschlechterreflektierende Haltung zu entwickeln.
Asiye Balikci-Schmidt diskutiert in ihrem Beitrag, ob es eine Spezifik in der Beratung von Migranten_innen gibt. Sie weist darauf hin, dass es häufig sehr große Unterschiede in den Kulturen der am systemischen Prozess Beteiligten gibt. Die „westliche“ Kultur betont die Individualität, Migrantinnen kommen oft aus einer Gemeinschaftskultur mit jeweils entsprechenden Werten und Normenbildern. Sie bietet eine lange Liste von Fragen, die zur Reflexion der eigenen Haltung und zur Stärkung der Fähigkeit zum Perspektivwechsel beitragen können.
Jessie Mmari und Eliza Maimouna-Sarr verweisen auf die „Notwendigkeit einer intersektionalen Rassismus- und Machtkritik aus Schwarzer systemischen Perspektive“ (S. 202). Rassismus ist ähnlich dem Patriarchat eine alles durchdringende und verborgene Kraft mit negativen Konsequenzen für die Gesundheit Schwarzer Personen. Die Autor_innen analysieren, wie sich das auch in den systemischen Behandlungskonzepten niederschlägt und wie sich z.B. rassistisches Unwissen auswirken kann. Ihre 16 Forderungen für eine diskriminierungskritische Praxis im systemischen Kontext beziehen sich u.a. auf die Weiterbildung, Veränderung der Behandlungskonzepte, die Dekolonisierung von Wissen oder die Schaffung von Ressourcen für den Ausbau von Empowerment-Räumen für marginalisierte Gruppen in Institutionen.
Teil III „Gelebte Geschichte“ ist der umfassendste Teil des Buches mit 19 Beiträgen und fast 200 Seiten. Nach einer Einleitung geben die Herausgeberinnen einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Systemik aus feministischer Perspektive, die auch durch eine bildliche Timeline veranschaulicht wird (Illustratorin: Doris Reich). Dabei geht es vor allem um den chronologischen Zusammenhang von relevanten politischen Ereignissen wie feministischen Kämpfen und den Impulsen von Frauen in der Systemik. Dieser Teil des Buches ist den Pionierinnen gewidmet, die von Beginn an das systemische Denken und therapeutische Handeln geprägt haben, aber bis heute kaum wahrgenommen wurden. Es würde den Umfang einer einzigen Buchbesprechung sprengen, den Beitrag jeder einzelnen Frau zu würdigen. Die Autorinnen bieten ein Panoptikum von Erfahrungen und Lernwegen, Ideen, Niederlagen und Erfolgen einzelner Pionierinnen. Sie nutzen dazu Zitate aus mündlich und schriftlich geführten Einzelinterviews, die in einem Projekt der DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie) und der SG (Systemische Gesellschaft) entstanden sind. Sie präsentieren Zitate aus den Veröffentlichungen oder aus unveröffentlichten Skripten der Systemiker_innen, und sie geben jeweils eine Einordnung des jeweiligen Themas in die zeitlichen Diskurse. Die Pionierinnen kommen vielfach aus dem Studium der Sozialarbeit und sind Familientherapeutinnen. Deutsche Pionierinnen (S. 246 -308) haben häufig neue Impulse aus den USA mitgebracht, und z.B. das Thema sexualisierte Gewalt in der Familie in Deutschland auch in den Fortbildungsangeboten umgesetzt (Beitrag von Cornelia Henneke zur Geschichte der Frauen in dem IF (Institut für systemische Ausbildung und Entwicklung Weinheim S. 421)). Wie Frauen international die Familientherapie veränderten, beschreibt Marie-Luise Conen (S. 309ff). Gemeinsam ist den Pionierinnen, dass sie ihr Wissen weitergeben möchten und oft Weiterbildungsorte (mit) gegründet haben. Viele haben die Erfahrung gemacht, dass sie als Autorinnen „ausgebremst“ wurden, dass Männer ihre Ideen verschriftlicht und publiziert haben und sie in den (akademischen) Räumen marginalisiert wurden. Sie haben sich auch in den eigenen Verbänden engagiert, oft hart gekämpft z.B. um die Anerkennung der systemischen Psychotherapie und in europäisch internationalen-europäischen Verbänden mitgearbeitet (Beitrag von Julia Hille und Eva Maria Lohner S. 405). In der letzten Zeit haben sich auch Netzwerke gebildet, die sich um die Anerkennung der Bedeutung gendersensibler und Rassismus kritischer Systemik bemühen und diejenigen, die das tun, unterstützen. Harlene Anderson beschreibt die Entwicklung ihres dialogischen Ansatzes, den sie als kollaborativ-dialogisch und relational charakterisiert. Sie sieht die Klient_innen als Expert_innen ihrer Welt, von denen es zu lernen gilt.
Ulrike Borst und Elisabeth Nicolai würdigen in vielen Kurzbiographien die Frauen, die zur Entwicklung der systemischen Therapie beigetragen haben. In ihrem Fazit beschreiben sie entscheidende Einflüsse: die spezielle Bedeutung der Neugier und die Enthierarchisierung in der Beziehung zwischen Therapeut_in und Klient_in sowie eine Erweiterung der Logik der Zirkularität um die Aufmerksamkeit für die Affekte und die Körperlichkeit.
Neben den Frauen, deren Leistungen ausführlich beschrieben werden, präsentieren die Herausgeberinnen zusätzlich eine (nicht vollständige) Liste mit 225 Namen wichtiger Protagonistinnen der Systemik, die nicht einzeln vorgestellt werden konnten (S. 445–446).
Im Teil IV Entwicklungsräume zeigen die Herausgeberinnen feministische Perspektiven systemischer Theorie und Praxis auf: dabei sollen die Kontextfaktoren in Theorie und Praxis einfließen und die Dimension Macht und Teilhabe einbezogen werden. So wollen sie den systemischen Ansatz „nicht zu einer Gefälligkeitstechnik werden lassen, der sich darauf ausrichtet, sich in bestehenden Bedingungen und Strukturen zu arrangieren“ (S. 448). Dazu bieten sie praktische Anleitungen anhand von Selbstreflexionsübungen, erweiterten Reflexionsmodellen, sowie von einem Modell zur Förderung einer bewussteren (Selbst-) Wahrnehmung, Kommunikation und Interaktion.
Diskussion
Das Konzept der patriarchalen Dividende spielt in der Geschlechterforschung eine wichtige Rolle. Es weist auf den allgemeinen Vorteil, den Männer gesellschaftlich erfahren durch öffentliche Repräsentanz und Sichtbarkeit und eine Machtstellung gegenüber Frauen. Die Nichtbeachtung und Verdrängung der Leistung von Frauen hat offensichtlich auch in der Entwicklung der Systemik stattgefunden, wie die unzähligen Belege in diesem Buch zeigen. Die Auswirkungen sind noch heute zu spüren: Es entstand eine Spaltung zwischen denjenigen, die in der Universität forschen und Lehrbücher schreiben (überwiegend Männer) und denjenigen, die systemisch in der Praxis arbeiten (überwiegend Frauen). Ergebnis ist, dass man in den heutigen Lehrbüchern der Systemik keine Berücksichtigung von Gender als gesellschaftliche Kategorie findet und es in der Vergangenheit keine beachtenswerte Weiterentwicklung systemisch-feministischer Konzepte gab. Ein Anschluss an intersektionale Perspektiven oder auch den Rassismus Diskurs fand nicht statt. Demgegenüber praktizierten viele Berater_innen bereits mit einem erweiterten Blick auf die Machtverhältnisse und den gesellschaftlichen Kontext der Klient_innen in ihrer Vielfalt.Und wie die hier erstmals erzählten Geschichten der Frauen, die mit und in der Systemik gearbeitet haben, zeigen, haben genau sie sehr viele innovative Ansätze gehabt.
Besonders in dem Kapitel über patriarchale Phänomene und Systemik wird deutlich: Das Private ist politisch, niemand kann sich dem patriarchalen Gesellschaftssystem entziehen (weder Therapeut_innen noch Klienten_innen). Eine Theorie und Praxis von Beratung kann darüber nicht hinweggehen und darf nicht dem falschen Idol der „Objektivität“ folgen. Was diese Feststellung für die Frauen bedeutet, wird mehr als deutlich. Entwicklungen vor allem einer Familientherapie, die auf die Geschlechterverhältnisse reflektiert, wurde schon sehr früh von Berater_innen vorgeschlagen und praktiziert, aber diese Ansätze gingen nicht in den systemischen Mainstream ein. Das ist ein Beleg für die Macht des patriarchalen Denkens, das sich seiner selbst nicht bewusst ist. Alle systemisch orientierten Praktiker_innen und Theoretiker_innen sollten beglückwünscht werden, wenn sie diese Bedeutungserweiterung annehmen können. Dieses Buch ist ein Pionierwerk über Pionierinnen. Es spricht für die Systemik und ihre Organisationen, dass mit diesem Tabubruch keine Angst vor den Konsequenzen eines Ausschlusses verbunden ist.
Das Buch ist ein Mammut Werk, aber der Umfang verweist auch auf die Vielfalt der bislang wenig beachteten Ansätze der Frauen. Selbst die Herausgeberinnen empfehlen, es nicht unbedingt von Anfang bis Ende zu lesen. Besonders empfehlenswert für diejenigen, die den feministischen Ansatz schätzen, ist der Teil I Musterbeschreibungen, in dem es um das Patriarchat und seine Phänomene geht. Ein wenig verwirrt im Teil III die Darstellung der „gelebten Geschichten“: durch den ständigen Wechsel von theoretischen Ausführungen, Interviews und Berichten über Begegnungen mit Pionierinnen helfen auch die Überschriften nicht so richtig weiter, um den roten Faden zu behalten. Es entsteht aber trotzdem ein guter Gesamteindruck von den erheblichen Leistungen der Frauen in der Systemik. Ein hilfreiches Angebot ist auch das Downloadmaterial (Blogseite www.die-weibliche-Seite.de )
Auch diejenigen, die nicht theoretisch oder praktisch mit der Systemik zu tun haben, werden einen großen Gewinn von diesem Buch haben, wenn sie an der Entwicklung des feministischen Einflusses auf eine Theorie und Praxis von Beratung interessiert sind.
Fazit
Das Werk ist ein hervorragendes Beispiel, welchen Gewinn es bringt, die verborgenen Geschichten der Frauen in der Theorie- und Praxisentwicklung aufzuzeigen und ihre feministischen Ansätze aufzugreifen. Es wäre erfreulich, wenn Akteur_innen auch anderer Therapieschulen diesem Beispiel folgen würden.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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