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Erich Schützendorf, Jürgen Datum: Anderland entdecken

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 16.08.2024

Cover Erich Schützendorf, Jürgen Datum: Anderland entdecken ISBN 978-3-497-02898-6

Erich Schützendorf, Jürgen Datum: Anderland entdecken, erleben, begreifen. Ein Reiseführer in die Welt von Menschen mit Demenz. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2024. 2. Auflage. 143 Seiten. ISBN 978-3-497-02898-6. 24,00 EUR.

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Thema und Entstehungshintergrund

Das innere Erleben und Verhalten von Menschen mit der Diagnose Demenz verstehen zu lernen, ist die Absicht dieses Buches. Dazu nutzen die Autoren die Metapher eines Reiseführers in diese „andere Welt“ (Anderland) mit ihren Ansichten und Sichtweisen, Zusammenhängen und Erklärungen, Folgerungen und Verhaltensweisen. Die Autoren leitet die Annahme, dass die reisenden „Normalländer“ „freudig aufgeregt“ (S. 6) losziehen, um sich auf eine andere Kultur einzulassen und zu erkennen, dass „Reisen bildet“ (S. 6).

Autoren

Erich Schützendorf war lange VHS-Direktor und Fachbereichsleiter für Fragen des Älterwerdens an der Volkshochschule des Kreises Viersen. Seit vielen Jahren engagiert er sich als Lehrbeauftragter, Dozent, Buchautor, Vortragender und Experte in Fachgesellschaften zu geragogischen, gerontologischen und geriatrischen Themen. Die Welt der Menschen mit Demenz zu ergründen, ist eines seiner Hauptanliegen. Jürgen Datum hat mit seiner Expertise als Werbetexter den Textduktus geprägt.

Aufbau und Inhalt

Mit dem Inhaltsverzeichnis, einer symbolisierten Karte in der Form eines Gehirns, in welche die zehn farblich voneinander abgesetzten Kapitel eingetragen sind, erschließt sich die Struktur des Buches. Die im Überblick aufgeführten zehn Überschriften sind die Phänomene des Anderlands. Das elfte Phänomen ist nicht eingetragen, in den Kapiteln des Inhaltsverzeichnisses aber enthalten: Es richtet sich an die Normalier, die professionell oder als An- und Zugehörige im Anderland unterwegs sind. „Das Wichtigste auf einen Blick“ (S. 133), ein Glossar (S. 134–136), die Vorstellung des Herausgebervereins „Glücksmomente stiften e.V.“ (S. 137–138), Impressum (S. 140) und Bildnachweis (S. 141) schließen sich an. In den folgenden 11 nicht nummerierten Abschnitten werden folgende Charakteristika beschrieben.

In „Anderland, das Land der Freude und Tränen“ (S. 12–22) wird die Unabhängigkeit von Gefühlen und Verstand thematisiert. Während letzter zunehmend versagt, bleiben die Gefühle bzw. scheinen sie stärker zu werden. Weil deren verstandesgetriebene Kontrolle nicht mehr funktioniert, kommen sie ungefiltert ehrlich und intensiv zum Ausdruck.

„Anderland, das Land sinnvoller Sinnlosigkeiten“ (S. 24–33) verdeutlicht, wie Gegenstände aufgrund des nicht mehr gegebenen „originären“ Verständnisses, eine andere (nicht sinnlose) Bedeutung erhalten, die von außen nicht gleich oder nicht in Gänze zu verstehen ist. Sie werden benutzt, um im Körpergedächtnis tief eingeschliffene Handlungsabläufe vollziehen zu können.

„Anderland, das Land der wortlosen Sprache“ (S. 34–45) erläutert, wie es ist, wenn Worte gehört, aber nicht mehr (ganz) verstanden und damit Aufforderungen nicht mehr umgesetzt werden können. Und umgekehrt, wenn die Suche nach Worten nicht gelingt und beängstigt. Umso wichtiger werden die genaue Beobachtung und die non-verbale Sprache.

In „Anderland, das Land des Lächelns“ (S. 46–55) werden urkomische Situationen geschildert, die zustande kommen, weil Situationen und Gegenstände anders interpretiert werden als sie für Normalier erscheinen. So entstandene Anlässe zum Lachen befreien – durchaus beide Seiten – und erzeugen ansteckende Fröhlichkeit.

„Anderland, das Land der Aggressionen“ (S. 56–69) gibt Einblick in das Entstehen von aggressivem Abwehrverhalten, wenn Menschen mit Demenz sich selbst behaupten wollen und müssen, weil ihnen jemand (zu schnell) zu nahekommt, zu viel verlangt bzw. überfordert oder etwas macht, was nicht nachvollzogen werden kann.

Mit „Anderland, das Land der verdrehten Tabus“ (S. 70–79) wird ein oft unausgesprochenes Thema von Menschen mit Demenz behandelt: Sie erkennen ihre Exkremente nicht als solche und attribuieren ihnen einen anderen Sinn – je nach Beschaffenheit. Entsprechend herausfordernd ist das Verhalten für die Normalier, weil diese Ekel empfinden und Tabus beachten.

Wer „Anderland, das Land der Peinlichkeiten“ (S. 80–89) nennt, hat (noch) nicht begriffen, dass für die dort Lebenden unsere sozialen Erwartungen und kulturellen Überformungen nicht gelten. Frei heraus wird gesagt, was gesehen und empfunden wird – Maßregelungen sind zwecklos, weil sie den Verstand adressieren und Gegenreaktionen erzeugen.

Normalier haben Probleme damit „Anderland, das Land der Wahrheitsliebe“ (S. 90–103) zu akzeptieren angesichts von Unvereinbarkeiten mit dem, was sie sehen. Anderländer dagegen geben sich größte Mühe, in ihrem Handeln und Erklären konsistent zu bleiben: Wer etwas nicht mehr findet, muss bestohlen worden sein!

Weil „Anderland, das Land der ver-rückten Selbstbestimmung“ (S. 104–117) ist, bleibt den Normaliern nichts anderes übrig, als sich die Frage zu stellen, ob das (vielleicht nicht nachvollziehbare) Verhalten des Menschen mit Demenz ihn glücklich und zufrieden macht, ohne jemanden anderen zu gefährden – die Antworten sind mit Überraschungen verbunden.

„Anderland, das Land des Genießens“ (S. 118–129) enthält einen Appell an die Zeitlosigkeit des Empfindens und der Empfindsamkeit. Gefühle richten sich nicht nach der Tages- oder Lebenszeit. So können sich kindliche Erinnerungen mit Dingen mischen, die an den Genuss des Lebens (z.B. anhand von Gerüchen) hervorrufen.

„Anderland – Selbstpflege“ (S. 130–132) ruft dazu auf, in „Anderland auf sich Acht [zu] geben“ (S. 130), sich nicht zu verausgaben in dem Wissen, dass menschliche Beziehungen – auch bei Menschen mit Demenz – „hochgradig kompliziert“ (S. 130), sehr herausfordernd und leidvoll sein können. Sie auszuhalten geht nur, wenn die Normalier ihr Wohlergehen nicht vernachlässigen.

Die einzelnen Kapitel sind (bis auf das letzte, das kürzer ist) gleich aufgebaut. Auf jeweils einer Doppelseite erhalten die Überschriften eine Hauptbotschaft und eine Zusammenfassung, die mit dazu passenden Bild- oder Fotomontagen, Symbolen, Schriftzügen und anderen Stilelementen gestaltet ist. Es folgen die Rubriken „erklären“ (wesentliche Aussagen), „beobachten“ (in Erzählungen/​Beschreibungen verpackt), „erleben“ (lyrische Anteile aus Sicht Betroffener) „Hinweise“ (Tipps und Tricks für Angehörige, Pflegepersonen) und manchmal Raum für „Erfahrungen“ (Notizseiten). Das vom Drucker, Designer und Maler Raimund Spierling gestaltete Layout gibt dem Buch eine auch ins Visuelle übertragene eigene Note. In den Gestaltungselementen sind viele kleine Details zu entdecken, die auf die Welt der Anderländer schließen lassen.

Diskussion

Dieses Buch über die sog. Anderländer ist wirklich anders: Im Vordergrund stehen nicht Zahlen und Fakten pharmakologischer, medizinischer, pflegerischer oder geriatrischer Provenienz noch Ergebnisse wissenschaftlicher Studien. Es spricht zunächst mit den Überschriften die Normalier an, verdeutlicht ihnen, wie es ist, z.B. rational oder emotional, apollinisch oder dionysisch, zeitgetaktet oder zeitlos, kontrolliert oder unkontrolliert zu sein, womit eine Offenheit eingefordert wird für das eine, das andere oder beides als Basis für das, was in den Beobachtungen zu den jeweiligen Phänomenen wiedergegeben wird. Die Berichte sind so gehalten, dass sie bei gewiss vielen Leser:innen Momente des Wiedererkennens eigener Erfahrungen erzeugen. In der Rubrik „Hinweise“ werden danach Deutens- und Verstehensalternativen angeboten und damit die Perspektive auf das Verhalten der Menschen mit Demenz erweitert. Besonders anrührend sind die Beiträge unter „Erleben“, in welche die Sicht der Betroffenen eingewoben ist. Hier wie im Text und der grafischen Umsetzung des gesamten Buchs bleiben die Autoren ihrem Prinzip treu, sich dem Feld des Anderlands und dort lebenden Menschen ethnografisch zu nähern, sich auf sie einzulassen, sie nicht defizitär darzustellen oder vorzuführen. Trotz aller Leichtigkeit, die sich aus dem Werben um Verständnis für das Verhalten manchmal einstellt, verschweigen die Autoren die Peinlichkeiten nicht, die sich aus der ungefilterten und gegen Konventionen verstoßenden Offenheit der Menschen mit Demenz ergeben können. Die damit einhergehenden Herausforderungen, weil sich Menschen verletzt fühlen, weil Situationen eskalieren können, weil auch dem Willen von Menschen mit Demenz nicht entsprochen werden kann, sind mit inbegriffen. Verschiedene Hinweise zu möglichen Auswegen (Verhaltensempfehlungen) werden angesprochen, niemals jedoch mit der Absicht der Besserwisserei, sondern mit Blick auf situatives Handeln. Insofern ist das letzte Kapitel, auch wenn es die Perspektive wechselt, ein Schlusspunkt der Botschaft des Buches, das eigene Wohlergehen in der Fürsorge um Menschen mit Demenz zu pflegen.

Aufbau des Buches, Konzept und Gestaltung transportieren eine wohltuende und gelungene Variante, sich der Besonderheit der Menschen mit Demenz verständnisvoll, emphatisch und einladend zu nähern. Gerade auch Informations- und Schulungsveranstaltungen ließen sich damit anreichern. Impulse zur Reflexion sind für alle Normalier enthalten.

Fazit

Dieses Buch ist eine Art „schöne Literatur“, eine Hommage an die Würde des Menschen. Es liest sich leicht und transportiert tiefgründig heilsame Botschaften – für in der Altenhilfe professionell Tätige wie im familiären Kontext pflegende Menschen gleichsam hilfreich.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 74 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 16.08.2024 zu: Erich Schützendorf, Jürgen Datum: Anderland entdecken, erleben, begreifen. Ein Reiseführer in die Welt von Menschen mit Demenz. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2024. 2. Auflage. ISBN 978-3-497-02898-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32333.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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