Johanna Hess: Zwischen Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Torsten Linke, 04.10.2024
Johanna Hess: Zwischen Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit : zur Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
520 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3349-9.
D: 69,90 EUR,
A: 71,90 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 41.
Thema
Der Band „Zwischen Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit. Zur Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.“ geht der Frage nach, welchen Einfluss die Selbstsorge (sozial-)pädagogischer Fachkräfte auf deren professionelles Handeln, speziell die Sorge für Kinder und Jugendliche, hat. Ausgehend von einer theoretischen Basis und einer empirischen Analyse werden Vorschläge für Theorie und Praxis erarbeitet.
Autorin und Entstehungshintergrund
Hess, Johanna, Dr. rer. pol., ist Diplom-Soziologin, Systemische Coachin und Mediatorin. Johanna Hess studierte Soziologie an der Freien Universität Berlin und promovierte am Institut für Soziale Arbeit an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Geschlecht, Diversität, Macht, sexualisierte Gewalt und biografisch-narrative Methoden.
Die vorliegende Publikation wurde 2023 als Dissertation unter dem Titel: „Zwischen Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit. Eine sorge- und geschlechtertheoretisch fundierte, rekonstruktive Studie zur Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte im Kontext von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ an der BTU Cottbus-Senftenberg angenommen.
Aufbau und Inhalt
Die Monographie gliedert sich in acht Kapitel. Der Einleitung folgen zwei Kapitel, in denen der Forschungsstand dargelegt und eine theoretische Gründung der Arbeit vorgenommen wird; in den anschließenden zwei Kapiteln wird auf die Methodologie und das methodische Vorgehen eingegangen. Daran schließt sich ein Kapitel zur Fallrekonstruktion an, und im nächsten Kapitel erfolgt eine zusammenfassende Ergebnisdarstellung. Der Band endet mit einem Kapitel, in dem die Autorin ihre Schlussfolgerungen präsentiert.
In der Einleitung (S. 13–20) nimmt die Autorin eine Gründung der Arbeit vor und legt ihr Forschungsinteresse und die Fragestellung dar. Mit Ausblick auf das dritte Kapitel wird mit Verweis auf Arbeiten von Michel Foucault und Meike Baader et al. das Verständnis von Selbstsorge umrissen, welches Johanna Hess „als reflexives und praktisches Selbstverhältnis und als spezifische Rückbezogenheit pädagogischer Fachkräfte auf sich selbst“ (S. 16) beschreibt. Im Kontext des Forschungsthemas nimmt die Autorin eine subjektive Positionierung als Forschende vor und beschreibt vier Spannungsverhältnisse (S. 18 ff.), die sie für eine reflexive Betrachtung ihres Forschungsprozesses als relevant betrachtet. Dabei benennt Johanna Hess u.a. den wichtigen Punkt, der auch auf das erste von ihr beschriebene Spannungsverhältnis verweist, der nötigen Balance aus einer wissenschaftlich-analytischen Haltung und zugleich der normativen Einordnung bzgl. des Kindeswohls. Dabei spielen eigene Erfahrungen und subjektive Einordnungen, auch emotionale Verfasstheiten von Forschenden, eine wichtige Rolle. Die Überlegungen verweisen auf die Praxisrelevanz der Arbeit, denn normative Einordnungen zum Kindeswohl, gesetzliche Vorgaben und fachliche Standards beeinflussen im Kontext mit biografischen Erfahrungen und aufkommenden Emotionen bei Fachkräften den Umgang mit sexualisierter Gewalt in der Praxis.
Im zweiten Kapitel legt die Autorin den Forschungsstand (S. 21–68) dar. Die Autorin nimmt hier eine zeitliche Eingrenzung vor und betrachtet den Stand ausgehend vom Jahr 2010. Auch wenn es bereits vorher Forschungen zu sexualisierter Gewalt gab, kann dieser Zeitpunkt als ein Wendepunkt betrachtet werden, der zu einem deutlichen Anstieg von Forschungsprojekten und daraus hervorgehenden Publikationen führte (S. 21). Johanna Hess betrachtet die Forschung mit Blick auf fünf Kategorien (Adressierungsweisen) und legt einen differenzierten wie fundierten Überblick zur aktuellen Forschung vor. Ausgehend von diesem Stand und den analysierten Leerstellen der Forschung (bspw. die Forschungslücken in Bezug auf Disclosure-Prozesse in Familien mit Migrationserfahrung, S. 46) werden drei Fragestellungen für die Arbeit formuliert (S. 68).
Für den Theoretischen Zugang (S. 69–122) wählt die Autorin drei Perspektiven unter denen sie sich dem Thema (Selbst-)Sorge nähert und dieses theoretisch rahmt: Geschlechterperspektiven, pädagogische Generationenbeziehungen und die Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte. In Bezug auf das professionelle Handeln im Kontext sexualisierter Gewalt und die Sorgearbeit von Fachkräften, wird der Frage nachgegangen, wie Geschlecht, Geschlechterordnungen und -strukturen auf Subjektkonstitutionen wirken und die professionelle Sorgearbeit beeinflussen. Der Begriff der Selbstsorge wird ausgehend vom erarbeiteten theoretischen Stand differenziert für die empirische Analyse entwickelt. Selbstsorge wird als Erfahrungskategorie pädagogischer Fachkräfte, als Beziehungskategorie und als gesellschaftliche Kategorie verstanden (S. 118 f.). Abschließend erfolgt eine Präzisierung der Forschungsfragen mit Blick auf die empirische Untersuchung (S. 121).
Im vierten Kapitel wird die Methodologie (S. 123–146) dargelegt. Die Arbeit wird im Bereich der interpretativen, qualitativen Sozialforschung verortet. Ausgehend vom Konzept der narrativen Identität „wird methodologisch eruiert, inwiefern die sich im Erzählen herausbildende narrative Identität sich als Selbstsorge fassen lässt“ (S. 124). Die Erzählungen der Fachkräfte werden als Basis für eine empirische Analyse mit Blick auf die Selbstsorge der Fachkräfte bei sexualisierter Gewalt betrachtet.
Das Methodische Vorgehen (S. 147–184) wird im fünften Kapitel beschrieben. Transparent werden im Kapitel die einzelnen Schritte im Forschungsprozess dargelegt. Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen eines Forschungsprojektes zu berufsbiografischen Identitätskonstruktionen und Sexualität an der Universität Kassel. In diesem wurden 33 qualitative Interviews mit Fachkräften aus Schule und Sozialer Arbeit geführt. Ausgehend von einer im Rahmen der Dissertation durchgeführten Analyse aller Interviews, erfolgte durch die Autorin eine Eingrenzung und die Entscheidung in der Arbeit vier ausgewählte Fälle einer tiefgründigen Analyse zu unterziehen (S. 147 f., 166 ff.). Die vier Fälle bieten die Möglichkeit einer Kontrastierung in Bezug auf Geschlecht, Berufserfahrung und Handlungsfeld (Schule, Soziale Arbeit) (S. 170). Mit dieser Entscheidung erfolgt ein Fokus auf ein tiefgründiges qualitatives Vorgehen an Stelle der Nutzung einer breiteren Datenbasis (S. 183). Für die Umsetzung der Analyse der ausgewählten Kernfälle werden mehrere methodische Konzepte genutzt, Rekonstruktion narrativer Identität, Positionierungsanalyse, Agency-Analyse, fallübergreifende Analyse und geschlechterreflektierende Analyse (S. 171 ff.).
Im sechsten Kapitel Empirische Fallrekonstruktionen (S. 185–392), welches das umfassendste Kapitel der Arbeit ist, breitet die Autorin die Analyse der vier Kernfälle aus. Schlüssig und strukturiert erfolgt im Kapitel die Darlegung der fallbezogenen Analysen. Das Vorgehen folgt einem stringenten Plan, ausgehend von einem berufsbiografischen Kurzportrait werden die Erfahrungen und Selbstpraktiken analysiert und am Ende jeder Fallanalyse erfolgt eine Zusammenführung in einer Fallstruktur, in der auch die in Bezug auf das Phänomen der Selbstsorge gebildeten Kategorien pointiert zusammengefasst werden.
Im folgenden Kapitel Fallübergreifende Ergebnisse (S. 393–468) erfolgt eine Kontrastierung der Ergebnisse aus den einzelnen Fallanalysen in drei Unterpunkten, an deren Ende jeweils ein Zwischenfazit gezogen wird. In Bezug auf Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte, wird auf das Verhältnis von professioneller Handlungsfähigkeit und Vulnerabilität, auf die Beziehungserfahrungen und auf die Bedeutung des Geschlechts eingegangen.
Im achten Kapitel Schluss (S. 469–482) fasst die Autorin die Ergebnisse gestrafft zusammen und erarbeitet ausgehend von diesen Ableitungen. Diese werden in zwei Unterpunkten Anschlüsse für die Theorie (S. 472 ff.) und Anschlüsse für das pädagogische Feld (S. 478 ff.) dargelegt.
Diskussion
Die Ergebnisse der Arbeit verweisen darauf, dass Fachkräfte sich selbst weitgehend als handlungsfähig erfahren, wenn sie herausgefordert sind, mit sexualisierter Gewalt umzugehen. Diese subjektive Einschätzung einer vorliegenden Handlungsfähigkeit entspricht, so Johanna Hess (S. 469), jedoch nicht immer der professionellen Logik des Kinderschutzes. Ebenso gibt es auch Erlebnisse, in denen eine Handlungsohnmacht empfunden wird. Gründe, die von der Autorin hier herausgearbeitet werden, sind eine unzureichende institutionelle Verantwortungsübernahme und damit eine Verantwortungsverschiebung hin zu den Fachkräften, die hier individuell herausgefordert werden. Als wichtige Kriterien, die Fachkräfte für die Herstellung und Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit anwenden, werden von der Autorin fachliche und ethische Grundlagen, wie Wissen über sexualisierte Gewalt und ethische Normen, genannt sowie ein ressourcen- und beziehungsorientiertes Handeln. Das Geschlecht und die eigenen Erfahrungen mit Beziehungen und Vulnerabilität sind weitere Kriterien die das professionelle Handeln beeinflussen.
In der Arbeit kann aufgezeigt werden, dass die professionelle Sorge für Heranwachsende im Kontext sexualisierter Gewalt vor allem in der individuellen Verantwortung von Fachkräften liegt. Die Ausgestaltung dieser Verantwortung hängt mit der individuellen Selbstsorge von Fachkräften zusammen, wobei sich geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen. Damit werden wichtige Punkte für eine Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen herausgearbeitet, an denen angesetzt werden müsste. Hier schließt sich der Kreis zum Beginn der Arbeit und es kommen die in der Einleitung aufgemachten Punkte in den Blick, zum einen Selbstsorge als ein „reflexives und praktisches Selbstverhältnis und als spezifische Rückbezogenheit pädagogischer Fachkräfte auf sich selbst“ (S. 16) zu verstehen und zum anderen das beschriebene Spannungsverhältnis und die herzustellende Balance zwischen der normativen Einordnung des Kindeswohls und den eigenen Erfahrungen, subjektiven Einordnungen und emotionalen Verfasstheiten von Professionellen. Wenn einerseits Wissen und fachliche Kompetenzen und andererseits individuelle Erfahrungen der Fachkräfte, auch im Kontext der Einrichtungskultur und ihres Geschlechts, Kriterien sind, die den Schutz beeinflussen, dann verweist dies auf eine notwendige Unterstützung durch die jeweiligen Institutionen. Johanna Hess zeigt auf, dass es hier entsprechende Angebote und Konzepte braucht und dass diese unter einer geschlechterreflektierenden und -sensiblen Perspektive gedacht werden müssen.
Eine Frage, die sich mit Blick auf die Praxis stellt (und in weiteren Forschungsarbeiten in den Blick genommen werden könnte), wäre der Bereich der ehrenamtlich Tätigen. Dies ist vor allem im Kontext der Sozialen Arbeit von Bedeutung; hier werden, bspw. in der Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit, Hauptamtliche von Ehrenamtlichen unterstützt bzw. auch Angebote in alleiniger Verantwortung ehrenamtlicher Personen durchgeführt. Ausgehend von der Annahme, dass hauptamtliche Fachkräfte mehr Unterstützung brauchen und Institutionen mehr Verantwortung im Kinderschutz übernehmen müssen, stellt sich die Frage, wie sich dies im Bereich der ehrenamtlichen Arbeit zeigt und wie sich das Selbstsorgekonzept Ehrenamtlicher auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen auswirkt.
Die Arbeit von Johanna Hess stellt einen wichtigen Beitrag zur Forschung sexualisierter Gewalt in pädagogischen Kontexten im deutschsprachigen Raum dar. Der Band liefert eine sehr gute Zusammenfassung zum aktuellen Forschungsstand ab 2010 und wartet mit neuen Erkenntnissen zur Selbstsorge von Fachkräften in Schule und Sozialer Arbeit im Kontext sexualisierter Gewalt auf. Johanna Hess wendet sich einer bisher nicht bearbeiteten Forschungslücke zu und nimmt ausgehend von der Befassung mit der Selbstsorge Professioneller Verknüpfungen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt unter Einbeziehung der Kategorie Geschlecht vor. Insofern bietet sich die Publikation für verschiedene Gruppen von Leser:innen an. Für Forschende kann der Band, neben der Verwendung der Ergebnisse, aufgrund des fundierten Vorgehens und der transparenten Darlegung als Ressource zur Planung eines eigenen Projekts (bspw. einer Dissertation) genutzt werden und Ideen für Forschungsthemen und -fragen liefern. Für Studierende ergeben sich hier ebenfalls Anschlussmöglichkeiten, bspw. um einen Überblick zum Forschungsstand zu erhalten und hinsichtlich des methodischen Vorgehens im gesamten Prozess und vor allem bei der Auswertung der Daten – speziell bei einem wissenschaftlichen und praktischen Interesse bzgl. des professionellen Handelns im Kontext sexualisierter Gewalt. Die Autorin sensibilisiert auch bzgl. der Besonderheiten bei der Durchführung von Forschungsprojekten im Kontext sexualisierter Gewalt und für die Bedeutung der Selbstreflexion von Forschenden.
Fazit
Auf der Basis einer fundierten theoretischen Befassung und einer empirischen Analyse werden Ideen entwickelt, wie die sich aus den Erkenntnissen der Arbeit ergebenden Forschungslücken und die Herausforderungen und Notwendigkeiten für die Praxis bearbeitet werden könnten. Es wird deutlich, welche Bedeutung die Selbstsorge und die diese beeinflussenden und mit ihr zusammenhängenden Faktoren für das professionelle Handeln haben. Der Umgang mit sexualisierter Gewalt bedarf einer professionellen Basis, auf der entsprechend gehandelt werden kann: Hier macht der Band konkrete Vorschläge zur Stärkung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen.
Rezension von
Prof. Dr. Torsten Linke
Hochschule Zittau/Görlitz - Fakultät Sozialwissenschaften
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Es gibt 7 Rezensionen von Torsten Linke.
Zitiervorschlag
Torsten Linke. Rezension vom 04.10.2024 zu:
Johanna Hess: Zwischen Vulnerabilität und Handlungsfähigkeit : zur Selbstsorge pädagogischer Fachkräfte im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
ISBN 978-3-8379-3349-9.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft - Band 41.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32334.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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