Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 02.10.2024
Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 7., aktualisierte Auflage. 188 Seiten. ISBN 978-3-17-045373-9. 29,00 EUR.
Thema
Der Autor dieses Buchs vertritt einen modernen Ansatz, der sich im deutschsprachigen Raum allmählich zu etablieren beginnt: Autismus ist keine seltene schwere Behinderung. Autismus ist vielmehr ein relativ häufiges Phänomen mit einem breiten Spektrum von geistig behindert bis hochbegabt, mit milden bis hin zu ausgeprägten Formen. Dies wird mit einem leicht verständlichen Farbschema veranschaulicht. Das Buch gibt Antworten auf viele Fragen seitens der Betroffenen wie auch der Fachleute: Wie wird Autismus diagnostiziert? Wie entsteht eine Störung des autistischen Spektrums? Welche bewährten Strategien unterstützen im Erziehungs- und Schulalltag? Zur Illustration der Vielfalt von Autismus dienen eine Reihe von Fallgeschichten bzw. Portraits. Zudem sind praktische Anleitungen für Kinder des Autismus-Spektrums sowie für deren Eltern und Therapeuten als ausführliches Arbeitsmaterial zum Download enthalten.
Autor
Dr. med Thomas Girsberger ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiater. Er arbeitet seit über 30 Jahren in eigener Praxis in der Nähe von Basel in der Schweiz und beschäftigt sich als Schwerpunkt mit dem Autismus-Spektrum, hierbei insbesondere dem Asperger-Syndrom.
Aufbau und Inhalt
Nach dem Prolog, der das Leben eines mittlerweile Erwachsenen mit einer Autismus-Diagnose, nachzeichnet, folgt eine umfangreiche Einleitung, bevor es mit der entscheidenden Frage losgeht: Wie entsteht eigentlich Autismus? Der Weg zu einer Antwort ist nicht einfach, das wird deutlich. Einfach dagegen ist eine Feststellung, die sich wie ein roter Faden durch das Bich zieht: „Autismus ist keine Krankheit oder Behinderung, sondern eine Besonderheit bzw. ein Anderssein“ (S. 31), das erst im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Ansprüchen und dem daraus resultierenden Druck bei den Betroffenen zu Stress und besonderen Verhaltensweisen führt. Im zweiten Kapitel stellt der Autor dann das Konzept vor, das sein fachliches Handeln prägt: Den verschiedenen Entwicklungsstörungen kommt bei der Entwicklung von kindlichen Problemen eine erhebliche Bedeutung zu, was an dieser Stelle sowohl textlich als auch grafisch beschrieben wird. Wie beim Verdacht einer Störung aus dem Autismus-Spektrum, die Abklärung Diagnostik erfüllt, lässt sich im dritten Kapitel ausführlich nachlesen. Wie sich Autismus und Asperger-Syndrom über die Lebensspanne entwickeln und vor allem – teilweise erheblich – verändern, steht im Fokus des vierten Kapitels. Was in welchem Alter von Bedeutung ist, wird dabei an einigen Fallbeispielen dargestellt.
Wie Einzelfall geeignete Hilfen für Betroffene aussehen könnten, zeigt Thomas Girsberger im fünften Kapitel. Schließlich ist das genau das Ziel einer Diagnose: Es sollen geeignete Handlungsstrategien gefunden werden, um dafür zu sorgen, dass die Krankheit beziehungsweise in diesem Fall Besonderheit das Leben des Einzelnen nicht zu stark beeinflusst. Welche Therapieform die richtige ist, lässt sich nicht pauschal sagen, zumal bei Kindern auch die Eltern eine wichtige Rolle einnehmen: „Die wichtigsten ‚Therapeuten‘ für autistische Kinder sind deren Eltern“ (S. 28). Das sechste Kapitel behandelt die sogenannten Komorbiditäten. Häufig wird eine Autismus-Diagnose nämlich noch von einer weiteren Diagnose begleitet, wozu Ängste, Zwänge, Depressionen oder Aufmerksamkeitsstörungen gehören können. Diese zusätzlichen Störungsbilder sind es, die in der Praxis häufig den Therapiebedarf ausmachen, was in diesem Kapitel deutlich wird. Im siebten Kapitel steht dann die problematische Kombination zwischen Schule und Autismus-Spektrum im Mittelpunkt. Warum das autistische Kind nahezu zwangsläufig mit dem regulären Schulsystem in Konflikt kommt, wird hier deutlich – aber auch, wie das verhindert oder aufgelöst werden kann. Den Abschluss des Buchs bildet ein Fachbegriff-ABC sowie ein Anhang mit Kontaktdaten zu Selbsthilfegruppen, Internetforen und weiterführender Literatur. Die Downloads bieten praktische Anleitung für Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern und Therapeut:innen.
Diskussion
Mit seiner langjährigen Erfahrung schafft es Thomas Girsberger Wissen zu vermitteln, das verständlich formuliert ist. Ein großes Plus ist dabei sicherlich das große Glossar am Ende, das Fachbegriffe nachvollziehbar erklärt. Dass es außerdem einen großen Fundus an Download-Material über die Verlagshomepage gibt, rundet das sehr positive Gesamtbild ab. Das Besondere an diesem Buch ist die Tatsache, dass hier auch großen Wert auf die Sicht der Betroffenen gelegt wird. Wer die Geschichte im Prolog liest, der bekommt ein Gefühl dabei, was es bedeutet, ein Mensch aus dem Autismus-Spektrum zu sein. Das gelungene Layout mit vielen grafischen Elementen trägt dazu bei, dass die Leser:innen zumindest ein bisschen in die Welt des Autismus-Spektrums eintauchen können. Dafür gebührt dem Autor großer Dank. Wünschenswert wäre lediglich eine Übersicht gewesen, inwieweit die Neuauflage gegenüber der Auflage von 2021 aktualisiert wurde.
Fazit
Auch wenn es sich primär an Eltern wendet, ist das wichtige Buch, denn dem Autismus-Spektrum wohnt auch bei Fachkräften häufig noch ein gewisses Un- oder Missverständnis inne – inklusive Berührungsängste. Dem kann dieses Buch mit seiner klaren Sprache abhelfen.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 02.10.2024 zu:
Thomas Girsberger: Die vielen Farben des Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnose, Therapie und Beratung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024. 7., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-17-045373-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32339.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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