Daniel Bogner: Liebe kann nicht scheitern
Rezensiert von Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch, 11.11.2024
Daniel Bogner: Liebe kann nicht scheitern. Welche Sexualmoral braucht das 21. Jahrhundert?
Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2024.
191 Seiten.
ISBN 978-3-451-39850-6.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783451390302.
Thema
Im einleitenden Kapitel seines Buches verweist der Autor darauf, dass mit dem Wort „Liebe“ die Sehnsucht des Menschen nach Zugehörigkeit, Nähe, Getragen-Sein und Solidarität ausgedrückt wird, eine Sehnsucht, welche für die Menschen gerade in unserer Zeit, die von Umbrüchen sowie von innerer und äußerer Zerrissenheit geprägt ist, besonders wichtig ist. Als Theologe sehe er sich der Frage gegenüber: „Hat nicht das Christentum ein ziemlich belastetes Verhältnis zu allem, was Liebe, Sex und Beziehung anbelangt?“ (S. 10). Der Ansatz des Autors ist demgegenüber ausdrücklich nicht „der Blick auf mögliche Defizite und vermeintliche Irrwege. Für mich ist eine Neugier leitend – danach, wie sich in Liebe und liebendem Begehren Spuren eines geglückten Menschseins finden lassen; eine Neugier danach, wie wir besser damit umgehen können, dass das Lieben oft so schwierig ist und wir den Eindruck haben, damit zu scheitern. Mein Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass wir nicht zu schnell vom ‚Scheitern’ des Liebens sprechen sollen. Besser wäre es zu sehen, dass Menschen immer an Grenzen stoßen, weil das eben zum Menschsein gehört. Und dass es ehrlich ist zu sagen: Liebe ist ein kühnes Projekt, der Versuch, den Himmel zu greifen, der Wunsch, das Unmögliche möglich zu machen. Aber ehrlich ist es auch zu akzeptieren: Liebe kann nicht alles“ (S. 12).
Autor
Daniel Bogner (geb. 1972) ist Professor für Ethik an der Universität Fribourg/​Schweiz und Cohost von „OMG. Der Podcasts über mehr als alles“
Entstehungshintergrund
Wie der Autor im einleitenden Kapitel darstellt, sieht er sich als Theologe dem belasteten Verhältnis der katholischen Kirche zu allem gegenüber, was Liebe, Sexualität und Beziehung anbelangt. Dabei ist es sein Anliegen, „sich nicht so sehr an den Fehlern, Sackgassen und Sklerosen einer verknöcherten Tradition abzuarbeiten, sondern nach vorne zu schauen“ (S. 13). Er schreibe dieses Buch „nicht nur als Theologe und ‚Wissender’, sondern – viel wichtiger – als Mensch, der auf seinem bisherigen Weg selbst Erfahrungen gemacht hat. Es sind Erfahrungen großen Glücks: erfüllende Liebe, Wege in Vaterschaft und Familienleben, liebendes Beieinandersein in den Herausforderungen des Lebensweges. Es sind auch Erfahrungen des Stolperns, des verzweifelten Suchens nach möglicher Gemeinsamkeit und der Entscheidung zu getrennten Lebenswegen.(…) Und dann sind es Erfahrungen des Suchens danach, wie Neues möglich sein kann und wie sich Verantwortung inmitten sich ändernder Lebenssituationen ausbuchstabiert“ (S. 13).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst außer den einleitenden Gedanken „Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…“ sechs Kapitel, ein Schlusswort, Anmerkungen, Literaturangaben und Dank.
Im Kapitel 1. (S. 17 – 44) „All in. Warum wir lieben wollen“ geht der Autor von dem Bedürfnis des Menschen aus, zu lieben und geliebt zu werden. „Wir lieben trotz so vieler Enttäuschungen und wollen gelingen lassen, was so oft misslingt“ (S. 17). In sieben Unterkapiteln behandelt er die im Menschen verwurzelte Idee „vom Ganzen, von einem Ganzsein und vom Ganzwerden“ (S. 17), wobei jedoch zu berücksichtigen sei, dass auch das Lieben Faktoren unterworfen ist, die wir nicht in der Hand haben (Kontingenz). Dies gelte ganz besonders für die/den Liebespartner:in. Die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft stellen für den Autor Gefäße dar, um „dem Unfassbaren eine Form zu geben“ (S. 24 ff.). Wichtig bei der Auseinandersetzung mit der Liebe sei auch die Dimension der kulturellen und gesellschaftlichen Kräfte und Energien, denen alle Menschen ausgesetzt seien, unter ihnen, insbesondere „das System der herrschenden Moral“ (S. 32). Das Unterkapitel „Die dunkle Seite des Christentums“ widmet sich der Tatsache, dass das Christentum zwar einen positiven Bezug zur Liebe zu haben scheine, wenn sogar sein Gott als Liebe bezeichnet werde, dass es aber eine „dunkle Rückseite“ dieser Medaille gebe, indem in der christlichen Tradition Liebe und Sex strikt voneinander getrennt würden und „Sexualität und Leiblichkeit als gefährliche Abwege des Menschen auf seinem Weg zu Gott angesehen wurden“ (S. 39). Dies führe zu einer Sprachlosigkeit des Christentums gegenüber dem Menschen, insofern er ein geschlechtliches Wesen sei. Der Mensch werde mit einem solchen Konzept „halbiert“. Dies zeige sich beispielsweise in der Abwertung der Homosexualität, aber auch generell, indem „nichts zu dieser Lebensdimension des Menschen gesagt“ werde (S. 41)
Das Kapitel 2 „Scherbenhaufen. Warum Liebe nicht scheitern kann“ (S. 45 - 65) geht davon aus, dass Liebe in einer Beziehung bedeute, „mit Unvollkommenheit umgehen zu lernen. Mit Unvollkommenheit des Gegenübers und mit der eigenen Unvollkommenheit“ (S. 45). Wenn Beziehungsleben und Liebe mit der Sprache des Scheiterns gelesen würden, müsse sie scheitern. Dies „verstellt den Blick und kennt nur Null oder Eins, Gelingen oder Misslingen“ (S. 49). Es gehe hingegen darum, nach Bedingungen für die Entwicklung der Menschen innerhalb der Partnerschaft und damit auch nach den Möglichkeiten der Entwicklung der Partnerschaft selbst zu fragen. Dabei sei das Bild der Ehe als „sicherer Hafen“ irreführend. „Es tut so, als ob die Entscheidung, an der Seite eines Menschen durch das Leben gehen zu wollen, der Endpunkt und nicht der Beginn eines manchmal sicher auch beruhigten, oft aber riskanten und abenteuerlichen Unterfangens wäre“ (S. 51). Falls es zu einer Trennung komme, realisiere die betreffende Person, dass eine Neuausrichtung und Umstellung erforderlich, ja, notwendig sei, um wieder Atem und Perspektive im Leben finden zu können. Daniel Bogner plädiert für ein erweitertes Treueverständnis, bei dem die Partner:innen darauf achten, dass Entwicklung möglich bleibt und das Paar oder die Einzelperson nicht an einer Stelle stehen bleibt, was zur Erstarrung führen würde.
Im 3. Kapitel „Feldlazarett. Himmlischer Beistand da, wo er gebraucht wird“ (S. 67 – 85) geht es um die Frage, wie es Menschen, die sich als gläubig verstehen, gelingen kann, mit Liebe und Trennung umzugehen. In dieser Situation erweist sich, wie der Autor ausführt, die Kirche als ein Ort „mit verbundenen Augen“ (S. 69). Dies betreffe das Eheverständnis der katholischen Kirche ebenso wie ihren Umgang mit vorehelicher Sexualität, Solo-Sex und die Haltung zur Homosexualität sowie die „angstbesetzte Einstellung zu beinahe allem, was mit dem Begriff ‚Gender’ zu tun hat, oder auch LGBTQ-Themen“ (S. 70). Daniel Bogners kritischer Anfrage an das Modell der kanonischen Ehe liegen zwei Zweifel zugrunde: zum einen, ob die zeitliche Dauerhaftigkeit ein notwendiges Kriterium ist, und zweitens ob die geschlechtliche Differenz der Beteiligten dafür erforderlich ist. Für den Autor ist es ein „befremdlicher Streit“ (S. 80), wenn es um die strikte Unterscheidung zwischen Segen (z.B. für homosexuelle und wiederverheiratete Paare) oder Sakrament (für heterosexuelle Paare) geht. Er stellt deshalb die Frage: „Kann nicht die Fehlerhaftigkeit und Korrekturbedürftigkeit des Menschen in das Verständnis des Ehesakraments aufgenommen werden?“ (S. 84).
Der Frage, ob in verbindlichen, partnerschaftlichen Beziehungen nur die Dauer oder die Qualität das entscheidende Kriterium sein sollte, widmet sich das 4. Kapitel „Ja-Wort. Wem wir treu bleiben sollten“ (S. 87 – 114). Der Autor weist darauf hin, dass Treue nicht nur eine Rolle spiele, wenn es um Liebe und Beziehung in der Partnerschaft gehe, sondern auch „für den Umgang und die Beziehung zu mir selbst“ (S. 88). Es geht seiner Ansicht nach nicht um das Modell des „Ganz-Seins“, sondern um das des „Ganz-Werdens“ (S. 90). „Erst im Nacheinander und in der Abfolge unterschiedlicher Stationen und Etappen lässt sich der Anspruch verwirklichen, der hinter dem Versprechen von Liebe und lebenslanger Beziehung steht. ‚Treue’ ist ein Maßstab, den es nicht im Indikativ gibt, sondern nur im Komparativ“ (S. 92). Für Daniel Bogner ist die Treue zu sich selbst, das „mit mir selbst befreundet sein“ (S. 98), eine wichtige Voraussetzung dafür, Beziehungen leben zu lernen (S. 102). Dabei stellt er die Frage, ob die christliche Moral in ihrer kirchlich vertretenen Version „geeignet und angemessen ist, um heute Orientierung zu vermitteln“ (S. 102). Er sieht die Aufgabe der Kirche in der heutigen Zeit weniger darin, „sich als Agentur für das Eheschließungsritual zu begreifen“, die Kirche sollte stattdessen „Mühe und Fantasie aufwenden, um Beziehungsführungskompetenzen zu vermitteln“ (S. 105).
Dem Thema „Liebe machen. Im warmen Regen gemeinsam wachsen“ (S. 115 – 151) ist das Kapitel 5 gewidmet. Dem Autor erscheint die Formulierung „faire de l’amour“ eine „wunderbare Formulierung“ (S. 115), weil damit Sex als eine Weise dargestellt werde, wie Liebe konkret werde. Kritisch setzt sich Daniel Bogner hier mit der Differenz zwischen den Geschlechtern auseinander: einerseits die „rhetorische Wertschätzung“ der Frauen (Die Kirche lebt von den Frauen) und andererseits die „reale Platzanweisung“ der Frauen. „Krass, wie mehrschichtig hier auf das Geschlecht hin gedacht wird, und besonders kränkend auch für die Frauen“ (S. 120). Ebenso problematisch empfindet er den „entsexualisierten Priester, der nicht Mann sein darf, sondern irgendwie von eigener Art ist. (…) Wo bleibt er selbst als Mann, der er doch auch ist? Und wie darf sein Mann-Sein Eingang finden in seine religiöse Rolle?“ (S. 121). Der Autor stellt diese kritischen Fragen, weil er darin eine problematische Spur des Christentums sieht, nämlich eine Doppelbewegung auf die Sexualität von Menschen hin: „Auf der einen Seite begegnet man einer Entsexualisierung, vielleicht besser einer Verbergung der sexuellen Dimension der Akteure (…). Und auf der anderen Seite wird der Geschlechterunterschied von Mann und Frau mit grimmiger Entschlossenheit verteidigt und daraus eine Herrschaftspraxis gemacht“ (S. 121). Demgegenüber betont Daniel Bogner: Die Dimensionen Leib und Geist ließen sich nicht voneinander isolieren. „Menschen sind weder nur Leib oder nur Geist, sie sind immer beides zusammen“ (S. 122). Wichtig für ihn ist, dass der Mensch sich, unabhängig davon, ob er hetero- oder homosexuell ist oder einen transsexuellen oder transidenten Weg beschreitet, als ein Wesen versteht, „das sich leibhaftig, mit seinem konkreten Körper (…) auf andere beziehen kann“ (S. 124). Sexualität ist dabei Sprache und Ausdruck und dient der Kommunikation. Für ihn als Christen stellt sich dem Autor in diesem Zusammenhang die Frage: „Trägt das Christentum dazu bei, eine Kultur zu errichten, in der Menschen sich als liebend-begehrende Wesen auf Augenhöhe, in treuer Verbindung zu ihren eigenen Bedürfnissen und ohne Angst vor Sanktionen sexuell begegnen und damit ihr Mensch-Sein verwirklichen können?“ (S. 139). Eine Beantwortung dieser Frage müsse drei Ebenen berücksichtigen: Zum einen die Frage nach den Geschlechterrollen und -stereotypen, die durch das Christentum geprägt und vertieft wurden; zum zweiten „die beharrliche Tendenz, Widerstrebendes beinahe um jeden Preis zusammenhalten zu wollen, um damit auf einer abstrakten Ebene ein Ideal zu verteidigen“ (S. 141), z.B. die Ehe „retten“ zu wollen, obwohl beide Partner:innen darin Schaden nehmen, Menschen dazu verleiten, ihr biologisch angeborenes Geschlecht beizubehalten, und Menschen auf ein heterosexuelles Leitbild zu verpflichten; eine dritte Ebene sei der „Blick auf die reale Gestalt des gelebten und kirchlich-praktizierten Christentums“ (S. 143). In seiner Botschaft vertrete der Glaube die gleiche Würde aller Menschen, die barmherzige Gerechtigkeit eines Schöpfergottes, die befreiende Erlösung und Hoffnung in Jesus Christus. „In seiner kirchlich praktizierten Gestalt aber tritt der kirchenamtliche Katholizismus dann auf als geschlechterdiskriminierende Anstalt einer hoheitlich über den männlichen Klerus geregelten Heilsvermittlung“ (S. 144). Für den christlichen Glauben und die Kirchen sieht der Autor Nachholbedarf in drei Feldern: im Spracherwerb (über Leiblichkeit, Körper und Sexualität frei sprechen können), in der Handlungskompetenz (z.B. Angebote religiöser Bildungsträger für verschiedene Gruppen) und in etwas, das er „’Prophetismus der Machtkritik’ auf dem Feld der Sexualität“ (S. 147) nennt (indem das Potenzial des Glaubens genutzt wird, um den Blick zu schärfen für die Unfreiheiten, unter denen Frauen, Farbige, Homosexuelle und Transgender-Menschen leiden).
Im 6. Kapitel „Glanz der Ewigkeit. Ein neues Ethos für Liebe und Beziehung“ (S. 153 – 178) geht der Autor davon aus, dass er „das Format ‚katholische Sexualmoral’ (…) für überholt und dringend reformbedürftig“ hält (S. 154). Seine Vorschläge für eine Neuausrichtung fasst er in fünf Thesen zusammen:
„Grundhaltung 1: Die Grenzen des Lebendigen ernst nehmen“ (S. 156 ff.): Eine Ethik der Liebe brauche Begriffe und Bilder des Weges, des Prozesses, nicht Kategorien der Vorgabe, der Befolgung und der Erfüllung.
„Grundhaltung 2: Dauer und Verbindlichkeit – ja, aber bitte größer denken!“ (S. 159 ff.): Eine Ethik des Liebens „muss ihre Scheuklappen ablegen. (…) Denn es gibt unverkennbare Entwicklungen, die zeigen, dass Nähe, Verbindlichkeit und auch liebende Fürsorge füreinander auch jenseits der lebenslang gedachten, romantischen Paarbeziehung existieren“ (S. 160). Das Bedürfnis der Menschen nach gemeinschaftlicher Einbindung, emotionaler Nähe und wechselseitiger Unterstützung sei in verschiedenen Formen möglich, so neben der traditionellen Ehe in „serieller Monogamie“, zweckorientierten Lebensgemeinschaften, platonischen Freundschaften, neuen Kontaktformen über das Online-Dating, sogenannte Freundschaft-plus-Beziehungen, generationenübergreifende Wohngemeinschaften und viele Konstellationen jenseits der heteronormativen Paar-Norm. Es gehe darum: „den Blick dafür weiten, dass es eine Vielfalt von Beziehungsmodellen gibt, die wertvoll sind“ (S. 162).
„Grundhaltung 3: In vielen Sprachen sprechen! Sexualität“: Aus der Einsicht, dass Sexualität Sprache und Ausdruck ist, resultiert für den Autor: „Sexuelles Miteinander kennt so viele Ausdrucksweisen, wie es Menschen und Begegnungen zwischen ihnen gibt“ (S. 164). Wo das Hören auf sich selbst und die eigenen Grenzen und ein Achten auf die Bedürfnisse und Grenzen des begehrten Mitmenschen gelingen „eröffnet sich ein Stück Himmel auf Erden. Weil es zu einem Miteinander kommt, zu einer Begegnung, die meine eigene Endlichkeit ins ‚Mehr-als-Ich’ hinein aufbricht. Als Theologe sage ich: Das hat sakramentale Qualität. Greifbares Symbol des Heils, etwas Jenseits im Diesseits, ein kurzer Streifen Unendlichkeit zu zweit“ (S. 165).
„Grundhaltung 4: Verpflichtet bleiben! Ernstfall Trennung“: Entgegen dem kirchlichen Denken „vom Gelingen her“ (S. 168) muss es einer christlich motivierten Ethik nach Ansicht des Autors in erster Linie darauf ankommen, „dass Menschen in solchen Krisensituationen (hiermit sind Krisen in Ehe und anderen Liebesbeziehungen gemeint, U. R.) sie selbst bleiben: dass sie die Krise annehmen, sich selbst genau anschauen, bedenken können, was daraus zu lernen ist, und dann allmählich neue Schritte des Wachstums und neuen Lebens gehen. Eine christliche Ethik sollte also person-orientiert und nicht zweckgeleitet vorgehen“ (S. 169). Gerade in solchen Krisensituationen sage die religiöse Institution jedoch: „Das ist nicht vorgesehen! Mit spitzen Fingern fasst sie an, was Menschen existenziell durchleben müssen“ (S. 170).
„Grundhaltung 5: Sexualmoral – what? Worüber man nicht reden muss“: Daniel Bogner postuliert, dass der Mensch verstanden werden muss „als ein Wesen, das sich als Geist, Seele und Leib wahrnimmt; das sich in kulturellen und sozialen Kontexten erlebt und von diesen entscheidend geprägt wird; das immer wieder seine Grenzen, Abhängigkeiten und seine Verletzlichkeit kennenlernen muss, das aber zutiefst in sich den Drang verspürt, darüber hinauszugreifen und seine Enge zu sprengen. Mit einem Wort: Ein solches Verstehen des Menschen ist dynamisch, indem es davon ausgeht, dass Wandlungsfähigkeit und Entwicklung zuinnerst das ausmachen, was man ‚menschlich’ nennt“ (S. 174). Dabei seien einige Themen, mit denen sich die Kirche schwertue, „getrost und definitiv zu den Akten“ zu legen: Keuschheit, Solo-Sex und Homosexualität (S. 176).
Im Schlusskapitel „Schluss: Gott ist die Liebe“ (S. 179 – 184) verweist der Autor darauf, dass für das Christentum doch gelte „Gott ist die Liebe“. „Und dann wird dieser Gott auch noch Mensch“ (S. 181), Mensch mittels eines leibhaftigen Menschen, Jesus von Nazareth. „Und wenn Jesus ganzer Mensch war, dann wird er das gekannt haben: sich zu verlieben, zu begehren, vielleicht auch enttäuscht zu werden in seinem Lieben“ (S. 181). Während Schmerz und Verwundung, die ja auch Zustände des menschlichen Körpers seien, eine zentrale Rolle im Christentum spielten, bestehe gegenüber der Leiblichkeit, die das Lieben angehe, Scheu und Verklemmtheit. Die Kirche habe viel daran getan, „diese so zentrale Dimension des Menschseins im Laufe von Jahrhunderten immer mehr an den Rand zu rücken und darin eine angeblich gefährliche Quelle zur Destabilisierung von Kultur und Gesellschaft zu erkennen. Am Ende haben sie es geschafft, blind zu werden für die vielen Verbindungen zwischen christlichem Glauben und begehrender Liebe“ (S. 182). Das Buch schließt mit den Worten: „Im Sex erfahren wir uns ‚selbst miteinander’, sind – für einen Moment – vereint und verbunden, hinausgestreckt über uns und in der Sehnsucht, gemeinsam zu wachsen. Darin hat sexuelles Begehren etwas von dem, was die Religion ‚sakramental’ nennt. Erde und Himmel wachsen zusammen, sie berühren sich. Es entsteht das Bewusstsein: Meine Welt und deine Welt könnten zu einer gemeinsamen Welt werden“ (S. 184).
Diskussion
Daniel Bogner formuliert, wie die letzten Sätze dieses Buches zeigen, ein Plädoyer für eine Kirche, die sich von engen, verhärteten, die Leiblichkeit des Menschen einengenden Ansichten löst und sich der Liebe in ihren vielfältigen Formen und Konstellationen öffnet. Dabei scheut er sich nicht, Missstände und in Anbetracht der aktuellen Forschung nicht mehr haltbare Positionen beim Namen zu nennen und als „Verklemmtheit“ und „Blindheit“ gegenüber dieser zentralen Dimension des Menschen zu bezeichnen. Es ist ein mutiges Buch, das sich in Anbetracht des im besten Sinne „saloppen“ Stils gut liest, wobei stets spürbar ist, dass den kritischen Argumenten des Autors ein profundes theologisches Wissen zugrunde liegt. In Anbetracht der immer wieder – und zur Enttäuschung vieler Christ:innen immer noch – von den Repräsentanten der katholischen Kirche geäußerten distanzierten bis ablehnenden Haltung gegenüber vorehelicher Sexualität, Selbstbefriedigung, Homosexualität und Transidentität ist es befreiend, hier die Argumente eines Vertreters der Theologischen Ethik zu erfahren, der sich vehement dafür einsetzt, damit aufzuhören, bei Scheidungen und anderen Krisen in Ehen und Liebesbeziehungen vom „Scheitern“ zu sprechen, sondern die damit oft verbundenen – schmerzlichen – Schritte als konstruktive Wege in die Zukunft, als Wachstum, zu verstehen. Gewiss kann man manchen Positionen des Autors entgegenhalten, sie würden der aktuellen Diskussion in der katholischen Kirche nicht voll gerecht, es sei manches doch schon in Bewegung. So hat Papst Franziskus im Jahr 2016 beispielsweise in dem Nachapostolischen Schreiben im Achten Kapitel (Die Zerbrechlichkeit begleiten, unterscheiden und eingliedern) darauf hingewiesen, dass der Weg der Kirche der „Weg der Barmherzigkeit“ sei, der Weg, „niemanden zu verurteilen“. Im Reden „über die heikelsten Themen“ dürfe sich keine „kalte Schreibtisch-Moral“ entfalten, sondern es gehe um eine „pastorale Unterscheidung voll barmherziger Liebe (…), die immer geneigt ist zu verstehen, zu verzeihen, zu begleiten, zu hoffen und vor allem einzugliedern“. Solche Stellungnahmen machen Hoffnung. Dennoch ist Daniel Bogner ohne Einschränkung zuzustimmen, dass dies letztlich nur halbherzige, vage Formulierungen sind, die insbesondere keine praktischen Konsequenzen haben. Und auf eben diese kommt es dem Autor an. Es ist ein sehr lesenswertes Buch, das eine ideale Grundlage für eine kritische Diskussion über Liebe und Sexualität im Raum der Kirche darstellt. Es ist diesem Buch sehr zu wünschen, dass es auch innerhalb der Kirche wahr- und ernst genommen wird und eine innerkirchliche konstruktive Diskussion anregen möge!
Fazit
Ein sehr empfehlenswertes, mutiges, gut lesbares Buch über die konstruktive, entwicklungsfördernde Kraft der Liebe. Es räumt mit vielen Vorurteilen und „blinden Flecken“, die in der katholischen Kirche bestehen, auf und zeigt, dass die lebenslang bestehende Ehe heterosexueller Menschen nicht die einzige lebbare und für die daran beteiligten Partner:innen erfüllende Beziehungsform ist.
Rezension von
Prof. em. Dr. rer. nat. Udo Rauchfleisch
Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Ehem. Leitender Psychologe Psychiatrische Universitätspoliklinik Basel. In privater psychotherapeutischer Praxis.
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Es gibt 19 Rezensionen von Udo Rauchfleisch.
Zitiervorschlag
Udo Rauchfleisch. Rezension vom 11.11.2024 zu:
Daniel Bogner: Liebe kann nicht scheitern. Welche Sexualmoral braucht das 21. Jahrhundert? Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2024.
ISBN 978-3-451-39850-6.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783451390302.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32340.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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