Rolf Biehler, Daniel Frischemeier: Daten-Spürnasen auf Spurensuche
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 15.04.2025
Rolf Biehler, Daniel Frischemeier: Daten-Spürnasen auf Spurensuche. Datenanalyse in der Grundschule mit digitalen Werkzeugen. Klett-Kallmeyer (Hannover) 2024. 160 Seiten. ISBN 978-3-7727-1448-1. D: 24,95 EUR, A: 24,95 EUR.
Thema
Mit der automatisierten Digitalisierung vieler Lebensbereiche werden im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Raum zunehmend Daten produziert. Diese stehen als private Datensätze (z.B. aus Loggern und Trackern) und auch aus öffentlich zugänglichen Repositorien (z.B. der statistischen Ämter) zunehmend für jede interessierte Person offen und kostenfrei zur Verfügung. Digitale Umfragen können bereits von Lernenden in der Grundschule mit Hilfe digitaler Werkzeuge nicht nur ausgefüllt, sondern auch konzipiert und programmiert werden. Damit gewinnt das Bildungsziel der „Data-Literacy“ bereits in frühen Bildungsstufen an Bedeutung – als „Schlüsselkompetenz für mündige Bürger:innen“.
Auf Basis des Buches sollen Mathematik-Lehrkräfte an Grundschulkinder mathematisch-statistische Basiskompetenzen für die Datenanalyse vermitteln können, um sie für dieses Themenfeld zu begeistern: „Es ist entscheidend, dass die Kinder sich selbst als aktiv Forschende begreifen und engagiert an der Sammlung und Analyse von Daten teilnehmen“ (S. 122).
Autoren
Daniel Frischemeier und Rolf Biehler sind Professoren für Didaktik der Mathematik. Frischemeier (Universität Münster) konzentriert sich auf die Didaktik der Mathematik in der Primarstufe. Er beschäftigt sich u.a. mit dem Design und der Erprobung von Lehr-Lernumgebungen. Biehler (Universität Paderborn) entwickelt didaktische Konzepte und praxisorientierte Unterrichts- und Fortbildungsmaterialien für alle Schulstufen. Er legt einen Schwerpunkt auf Einsatz und pädagogische Adaption digitaler Werkzeuge.
Entstehungshintergrund
Zugrunde liegt ein mehr als zehnjähriger Entwicklungsprozess, unterstützt durch Qualifizierungsarbeiten Studierender und die Zusammenarbeit mit Mathematik-Lehrpersonen in Schulen. Dies erklärt manche im Buch zu findende sehr praxis- bzw. unterrichtsnahe didaktisch-methodische Aufbereitung.
Inhalt
Das Buch enthält zwei Teile: Teil 1 führt mit Kapitel 1 in zentrale Begriffe für die Datenanalyse ein und stellt zwei digitale Analysewerkzeuge vor. Kapitel 2–5 legen dar, wie verschiedene Datentypen analysiert werden können. Diese ersten Kapitel sind für eine breitere Leserschaft interessant. Teil 2 (Kapitel 6–9) richtet sich exklusiv an Lehrkräfte, setzt das ‚eigentliche‘ Anliegen der Autoren um: Detaillierte Planungsschemata für je eine Unterrichtssequenz zur Analyse der Verteilung kategorialer bzw. numerischer Variablen (in dieser Besprechung ausgelassen). Von der Website des Verlages können durch die Eingabe des im Buch abgedruckten Codes in die Suche weitere Materialien und Datensätze heruntergeladen werden.
Kapitel 1 Einführung in die Nutzung digitaler Werkzeuge zur Daten Exploration baut auf die bereits in der Einleitung gegebene Einführung in „bereits unterrichtsnahe“ kostengünstige digitale Werkzeuge auf: TinkerPlots (für Kinder als benutzerfreundlicher bezeichnet) sowie das kostenfreie CODAP. Anschließend werden Grundbegriffe vorgestellt: die rechteckige „Standarddatentabelle“ mit den „Merkmalsträgern“ (zum Beispiel: Grundschulkinder) in den Zeilen und den für sie erhobenen „Merkmalen“ (zum Beispiel „Geschlecht“ oder „Schulwegoption“ oder „Einstellung zum Gamen“) in den Spalten. Außerdem „Merkmalsausprägungen“ (zum Beispiel „mit dem Fahrrad“) und „Grundgesamtheit“. Unterschieden werden drei Merkmalstypen: kategoriale (zum Beispiel „Schulwegoptionen“), ordinale (zum Beispiel „trifft nicht zu“ – „trifft eher nicht zu“ – „trifft eher zu“ -„trifft zu“ für Antwortoptionen auf „Ich game leidenschaftlich“) sowie numerische (zum Beispiel „Größe in Zentimetern“). Ein geschickter didaktischer Kniff besteht darin, dass Kinder die Ausprägungen zu einer überschaubaren Anzahl von Merkmalen auf quadratischen Haftzetteln notieren, zum Beispiel „Lewandowski“ – „Mädchen“ – „Fahrrad“. Mit diesen Haftzetteln können bereits erste Analysen analog vorgenommen werden, z.B. bezüglich Verteilungen der Merkmalsausprägungen und sogar zu Zusammenhängen. Dies kann, wenn die Daten in der digitalen Standardtabelle erfasst sind, auch in TinkerPlots mit wenigen Klicks digital zweidimensional repräsentiert werden. Der Übergang von den Daten auf Haftzetteln hin zu Verteilungsdiagrammen wird so für die Kinder nachvollziehbar, mitsamt der dabei vorzunehmenden Ordnungsoperationen. Vorgestellt werden Säulen-, Balken- und Kreisdiagramme.
Kapitel 2 Verteilungen kategorialer Merkmale stellt vor, wie man entweder mit Datenkarten oder mit den digitalen Werkzeugen Verteilungsgrafiken erstellen kann. Der Übergang von den analogen Haftzetteln auf die digital erzeugten Grafiken ist hier besonders gut nachvollziehbar. Kleinschrittig und plausibel wird erläutert, wie die drei Analysestufen „Lesen der Daten“, „Lesen zwischen den Daten“ und „Lesen über die Daten hinaus“ bearbeitet werden können.
Kapitel 3 Zusammenhänge von zwei kategorial Variablen verdeutlicht, wie einfache bis hin zu komplexen Zusammenhängen zwischen zwei kategorialen Variablen exploriert werden können.
Kapitel 4 Verteilung numerischer Merkmale zeigt am Beispiel des Merkmals „Körpergröße“ wie Verteilungen durch Balken- und Säulen- oder Punkt-Diagramme dargestellt werden können. Auch das „Histogramm“ als Darstellung zusammengefasster Klassen numerischer Werte und dessen Vorteile für die Erfassbarkeit von Datenverteilungen werden vorgestellt. Als die wichtigsten statistischen Lagemaße zur zusammenfassenden Beschreibung von Verteilungen wird eingeführt in Median, Modalwert und arithmetisches Mittel sowie in deren Ermittlung/Berechnung. Abschließend wird mit der Metapher „Ein Hut für die Daten“ das für das Lernen von Grundschulkindern durch die fachdidaktische Forschung begründbare Konzept des „modalen Klumpens“ vorgestellt. Viele Kinder erfassen intuitiv solche „Bereiche hoher Datenhäufigkeiten“. Dadurch kann die „mittlere Hälfte“ von Verteilungsdaten kindgerecht und mathematisch exakt visualisiert werden. Damit werden die auch für viele Erwachsene schwer verständlichen Begriffe „Quartile“ bzw. „Quartilsabstand“ didaktisch elegant reduziert.
Kapitel 5 Vergleich von zwei numerischen Verteilungen stellt jeweils zwei Punktdiagramme (Anzahl Spiele auf dem Smartphone/Tablet für eine 3. und eine 4. Schulklasse) gegenüber und nutzt für eine erste vergleichende Analyse den „Hutplots“. Daran anschließend wird der in der beschreibenden Statistik weit verbreitete „Box-Plot“ eingeführt. Er kann nun als eine Variante des leichter verständlichen „Hutplot“ entschlüsselt werden. Abschließend wird eine Liste von Datenanalyse-Fragestellungen geboten, die verdeutlicht, mit welchen statistischen Operationen was aufgeklärt werden kann.
Kapitel 6 statistische Fragen im Unterricht – Bemerkungen aus fachdidaktischer Perspektive stellt sehr knapp Fragen im Fragebogen („Fragebogenfragen“) den Datenanalyse-Fragen („Forscher:innen-Fragen“) gegenüber, und führt letztgenannte nochmals systematisch für einzelne oder mehrere kategoriale bzw. numerische Merkmale auf. Die im Umschlagtext angesprochene Datenerhebung wird darüberhinausgehend nicht behandelt.
Diskussion
Vorab eine Warnung: Die folgende Stellungnahme erfolgt nicht aus derjenigen Rolle der zentral intendierten Leserschaft des Buches (Mathematik-Lehrkräfte), sondern aus der Perspektive eines Evaluationswissenschaftlers. Leitende Frage ist, inwieweit das Buch dazu beitragen kann, dass pädagogische Fachkräfte mit seiner Hilfe bei jungen Menschen das Interesse und die Kompetenzen für den besonderen Aspekt der Datenanalyse als Bestandteil der Data-Literacy fördern, und vielleicht darüber hinaus mit ihnen auch ganz praktisch Datenanalysen durchführen können.
Schließt das Buch also die Lücke, die für Lehrkräfte oder in der Kinder- und Jugendarbeit Tätige in Bezug auf die für Ihre jungen Zielgruppen interessante und vielleicht auch wichtige Datenanalyse besteht?
Als jemand, der seine akademische Karriere als Tutor für Statistik in der Soziologie begonnen und seitdem Unmengen von Datensätzen analysiert hat, habe ich durch dieses Buch einige interessante neue Perspektiven kennengelernt (z.B. den „Hut für die Daten“ bzw. „Hut-Plot“). Auch den didaktisch gerahmten Übergang von den Daten-Haftzetteln zu den digitalen Grafiken sehe ich als sehr wertvolle Hilfe an, mit Kindern statistische Analysen vorzunehmen. In meiner einzigen eigenen Arbeit der Datenerhebung- und -analyse mit Grundschulkindern hätte dies sicher geholfen, ein vertieftes Verständnis zur statistischen Analyse bei diesen aufzubauen (Beywl, 2001). Schließlich teile ich mit den Autoren die Intention, sowohl Kompetenz als auch Handlungsmacht von Grundschulkindern zu stärken, indem sie aktiv an der Auswertung und Interpretation von Daten teilnehmen, die für ihr Lernen und Leben relevant sind. Das Buch leistet insofern Pionierarbeit, als es erstmals das Thema Datenanalyse an interessanten Sachfragen für die Grundschule bzw. Grundschullehrpersonen zugänglich macht. Dabei erfolgt dies mit realen, in den jeweiligen Klassen erhobenen Daten, was für die beteiligten Kindes sicher motivationsfördernd ist.
Gewünscht hätte ich mir eine verstärkte interdisziplinäre Vernetzung, mit der Terminologie und Methodologie der empirischen Erziehungs- oder Sozialwissenschaften. So könnten Differenzen bezüglich zentraler Begriffe (z.B. „Grundgesamtheit“ oder „Merkmalstypen“ versus „Skalenniveaus“) vermieden werden. Um die dienende Funktion der Mathematik, und damit letztlich auch das lebenslange Interesse an dieser wichtigen Wissenschaft zu stärken, ist gerade in der auf schulisches Lernen bezogenen Didaktik interdisziplinäre Zusammenarbeit vielversprechend, z.B., um die Denkweisen der beteiligten Disziplinen abzugleichen. Naheliegend ist darüber hinaus der Einbezug kostenfreier (z.B. GrafStat) oder kostengünstiger (z.B. Edkimo) digitaler Werkzeuge zur Erhebung von Daten in Schulen. Diese schließen mit ihren didaktischen Begleitmaterialien bereits viele Lücken, die das besprochene Buch lässt (etwa zur darin sehr reduziert angesprochenen Formulierung von Fragebogen-Fragen). Auch ein zumindest beiläufiger Verweis auf deutschsprachige, didaktisch aufbereitete Daten-Analysetools (zum Beispiel DATAtab) wäre erwägenswert, zumal die beiden schon zu Beginn des Buches sehr prominent eingeführten Datenpakete auf den ersten Blick bezüglich Nutzungsfreundlichkeit Zweifel aufwerfen.
Fazit
Für ein für Mathematik und deren praktischen Einsatz begeistertes und zu begeisterndes Lesepublikum bietet das Buch vielfältige anregende Hinweise, dank seiner gut nachvollziehbaren schrittweisen Hinführungen und den damit verbundenen konsequenten Visualisierungen. Es schließt pionierhaft die für den frühen Aufbau von Data Literacy bislang bestehende Lücke. Um darüberhinausgehend den Stellenwert mathematisch-statistischen Denkens für die Lebens- und Alltagspraxis von Kindern und Jugendlichen auch fächerübergreifend/für außerschulische Bildungsangebote zu verdeutlichen, bedürfte es weiterer, interdisziplinärer Anstrengungen.
Quellen
Beywl, Wolfgang (2001): Wir bewerten unsere Schule mit Fragebogen und Computer. Brühl: Martin-Luther-Schule. http://univation.org/download/Evaluation_Grundschule_Bericht.pdf
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor,
Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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