Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Nora Binder: Kurt Lewin und die Psychologie des Feldes

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 02.08.2024

Cover Nora Binder: Kurt Lewin und die Psychologie des Feldes ISBN 978-3-16-159098-6

Nora Binder: Kurt Lewin und die Psychologie des Feldes. Zur Genese der Gruppendynamik. Mohr Siebeck (Tübingen) 2023. 323 Seiten. ISBN 978-3-16-159098-6. 60,00 EUR.
Reihe: Historische Wissensforschung - 17.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Das Buch soll einen Überblick über die Entstehungszusammenhänge und Anwendungsbereiche der angewandten Gruppendynamik geben.

Autorin

Nora Binder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Konstanzer Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen Europas“, z.Zt. wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsinitiative „Transforming Infrastructure“.

Entstehungshintergrund

Es handelt sich um die überarbeitete Fassung der von der Autorin 2019 in Konstanz vorgelegten Dissertation.

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung wird das Anliegen des Buches, die Herausbildung der (wie Binder meint) partizipativen Psycho- und Soziotechnik auf der Basis der „Lewinschen Gruppenpsychologie“ benannt. Nach Ansicht der Autorin ist es wieder einmal mehr der „Krieg, der das Modell für den Prozess einer effizienten sozialen Steuerung liefert“ (S 22), von den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges (frühe Feldtheorie) zur Action Research des 2. Weltkrieges – eine These, die sie anhand Lewins Erfahrungen als Soldat bildet und in den folgenden Kapiteln aufgreift und vertieft.

 Es folgen vier große, in Abschnitte unterteilte Kapitel:

Aus dem Feld zur Theorie des Feldes, 1914–1933

Lewins Erfahrungen auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges – die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der Landschaft in Krieg und Frieden – legten das Fundament der Feldtheorie. Im Zentrum der frühen Feldtheorie stand das Verhältnis der Person zu seiner Umwelt. Wenngleich Lewins Ansatz die holistische Grundausrichtung der Berliner Schule der Gestalttheorie teilte, bildeten sich doch Unterschiede insbesondere im Hinblick auf Experimentalbegriffe und Zielsetzungen heraus: der im Gegensatz zu den eher naturwissenschaftlich orientierten Gestalttheoretikern rein psychologische Ansatz (Binder S. 28) der Feldtheorie richtete sich auf die Erforschung auf die Affekte und das Verhalten der Person im Feld.

Das Feld kartieren

Die in Lewins topologischer Psychologie zahlreichen Diagramme werden als zentrale Kulturtechnik einer Wissenschaft im Werden (S. 79) bezeichnet. Sie erst erschließen nach Meinung der Verfasserin das Verhältnis der in einer speziellen Situation vorfindlichen Faktoren und machen das Feld mit den darin enthaltenen Kräften nicht nur sichtbar, sondern auch handhabbar.

Die so bestimmten Feldkräfte werden von Lewin anhand ihres Aufforderungscharakters „Annäherung“ und „Abwendung“ unterschieden; ihre Stärke und Richtung werden nicht nur von den materiellen Gegebenheiten und den Bedürfnissen der jeweiligen Person, sondern auch durch das soziale Feld bestimmt. Hierdurch und durch die Betrachtung von Konfliktsituationen des Feldkräfte lassen sich Bewegung im psychologischen Feld, lässt sich Verhalten verstehen und erklären. Ausführlich geht Binder auf die mediale Praxis Lewins ein; sie schildert die Funktion des Films (z.B. „Hanna und der Stein“) für die Entwicklung feldtheoretischer Diagramme (S. 118–123).

Soziale Felder: Demokratie im Experiment

Die Übertragung der feldtheoretischen Betrachtung auf die soziale Konstellation „Gruppe“, die Abkehr von der behavioristisch orientierten Sozialpsychologie, die experimentelle Erprobung und die Anwendung zur Förderung demokratischer Verhaltensweisen ist Gegenstand dieses Kapitels. Damit wird auch der Bogen zur Entwicklung der Aktionsforschung Lewinscher Prägung geschlagen. Ausführlich berichtet wird auch der Vorwurf von Moreno (der die Grundlagen psychodramatischer und soziometrischer Arbeit legte) hinsichtlich der Priorität der Ansätze zu „group dynamics“ und Aktionsforschung.

Ins Feld intervenieren: Die Action Research

In diesem Kapitel soll die Entwicklung der Action Research lewinscher Prägung als demokratische Sozio- und Psychotechnik rekonstruiert werden. Dies beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der Food Habit Studie, in der Hausfrauen zu einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten motiviert werden sollten und in der u.a. auch die Notwendigkeit und Erlernbarkeit von Führungskompetenzen (Leadership Skills) deutlich wurde.

Der zweite Feldkrieg – so argumentiert die Autorin – bot die Gelegenheit der praktischen Anwendung der Feldtheorie: Wieder diente der Krieg als Modell für den Prozess einer effizienten sozialen Steuerung; Binder nennt die Entwicklung selbstlenkender Raketen als Vorbild für die soziale Steuerung des Feldes (S. 260). Als feed-back-gesteuertes Verfahren war die Feldtheorie auf die tatsachengesteuerte Aufklärung des Kriegsgeschehens angewiesen: die „Action Research sammelt im Prozess des Handelns ihre Fakten“ (S. 275).

Im Schlusskapitel gibt es einen zusammenfassenden Überblick sowie den – kritischen und dringend erforderlichen – Hinweis auf die Entstehung kultischer Tendenzen nicht nur bei den Konsumenten gruppendynamischer Veranstaltungen, sondern auch bei den Lewin-Schülern selbst – und auf die Vermarktung dieser Verfahren.

Ferner gibt es eine Danksagung sowie ausführliche Quellen-, Literatur-, Personen- und Sachregister.

Diskussion

Die historisch orientierte Darstellung der Entwicklung der Gruppendynamik ist stringent aufgebaut und äußerst detailreich – dabei gelegentlich überbordend, sodass der Leser auf Nebenschauplätze geführt wird und im Gestrüpp der Einzelheiten das Ziel aus dem Blick zu geraten droht [1].

Über den epistemischen Status der feldtheoretischen Diagramme kann man diskutieren: handelt es sich tatsächlich um die zentrale Kulturtechnik einer Wissenschaft im Werden (Binder S. 79 f) oder doch „nur“ um eine Visualisierung theoretischer Sätze?

Fazit

Nora Binder legt einen umfang- und informationsreichen, manchmal an Details überreichen Einblick in die Entwicklung der Gruppendynamik von Kurt Lewin vor.


[1] nur als ein Beispiel die überaus ausführliche Schilderung von Morenos psychodramatischem Rollenspiel im Mädchenheim, die m.E. wenig Erkenntnisgewinn im Hinblick auf die Hinblick auf die Genese der Gruppendynamik bringt

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
Mailformular

Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245