Tanja Abou: Klassismus im Bildungssystem
Rezensiert von Thomas Barth, 28.06.2024
Tanja Abou: Klassismus im Bildungssystem.
Unrast Verlag
(Münster) 2024.
80 Seiten.
ISBN 978-3-89771-154-9.
D: 8,90 EUR,
A: 9,20 EUR.
Reihe: unrast transparent - soziale krise - 7.
Thema
Wir haben uns daran gewöhnt, dass nach jedem neuen PISA-Ergebnis Enttäuschung, Aufregung und Schuldzuweisungen aus den deutschen Medien schallen. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, kann mal wieder froh sein, in einigen Bildungsbereichen wenigstens noch knapp über dem Durchschnitt zu liegen. Aus dem Bildungsdebakel sticht die mangelnde Chancengleichheit besonders hervor: Wer aus wohlsituierten Elternhäusern kommt, erreicht deutlich bessere Abschlüsse. Für soziale Ungerechtigkeit etabliert sich heute der Begriff „Klassismus“, die Diskriminierung von Menschen aus materiell armen Verhältnissen. Wenn zudem eine gute Bildung als Rezept gegen Armut angepriesen wird, schwingt bereits perfider Klassismus mit: Wer arm ist, hat sich in der Schule nicht genug angestrengt oder war einfach zu dumm. Wer reich ist, verdankt dies Fleiß und Intelligenz. Tanja Abou räumt mit diesen für privilegierte Menschen sehr bequemen Mythen gründlich auf und trifft mit ihrer engagierten Kritik unser Bildungssystem ins Mark. Bildung wird ökonomisch und sozial Abgehängten penetrant als Ausweg aus der (als individuelles Problem hingestellten Misere) präsentiert, doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Klassismus des Bildungswesens schafft, zementiert und rechtfertigt soziale Ungerechtigkeit. Abou unterzieht uns einem instruktiven Social-Justice-Kursus und zeigt Lösungswege auf.
Autorin und Entstehungshintergrund
Tanja Abou arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik der Universität Hildesheim im Projekt: CLS – Care Leaver (Person, die in stationärer Jugendhilfe untergebracht war) Statistics, erste Langzeitstudie zum Thema Leaving Care. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Leaving Care, soziale Ungleichheit, Bewegungsforschung und intersektionale Perspektiven. „Sie ist queere Poverty-Class-Akademikerin, Social-Justice-Trainerin, Care-Leaverin, systemische Therapeutin, DJ und Kinderbuchautorin“ (Verlagsbeschreibung). Ihr Kinderbuch „Raumschiff Cosinus“ ist eine illustrierte Science-Fiction-Geschichte zur Frage, wie Arbeit verteilt wird. Abou ist auch eine der Autor:innen der aktuellen Ausgabe der pädagogischen Fachzeitschrift „UWP – Unterricht Wirtschaft + Politik“ (Nr. 1/2024, Thema Beruf & Orientierung: Diversity).
Aufbau und Inhalt
Das schmale Taschenbuch im Format eines Smartphones unterteilt sich in die Einführung, vier Kapitel mit je zwei bis drei Unterkapiteln, Fazit und Literaturverzeichnis. Einführend beschreibt Abou ihren eigenen, steinigen Bildungsweg, lobt die Ziele der bundesdeutschen Bildungsreform der 1960er/​1970er-Jahre, kritisiert jedoch, der Anspruch auf Chancengleichheit im Bildungssystem sei noch immer weit davon entfernt, realisiert zu sein. Alle wüssten, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nicht gerecht sei und der Zugang zu formeller Bildung von der sozialen Herkunft abhänge. Sie wolle nicht einzelne Verantwortliche suchen, sondern „klassistische Strukturen“: Zuschreibungen, Vorurteile, Selektionsmechanismen, Machtverhältnisse im formellen Bildungssystem. In der Bildungsdebatte dominierten Erklärungsmuster, kritisiert Abou, die „in sich schon klassistisch sind“. Es sei etwa „mangelnder Bildungsstimulation“ in nichtakademischen Haushalten die Rede, Freizeitaktivitäten würden von oben herab abgewertet, besonders das Fernsehen oder die geringe Zahl gelesener Bücher, Armutsbetroffene würden oft „naserümpfend verurteilt“ (S. 6). Wichtiger wäre, auf die Betroffenen selbst zu hören, die wünschten sich mehr Geld für Nahrungsmittel, die oft nicht bis zum Monatsende reichen, kostenfreie Nachhilfe, Mittel für Freizeitaktivitäten usw. Stattdessen würden junge Menschen im Bildungssystem jedoch benachteiligt und entsprechend der (angenommenen) Bildung der Eltern selektiert. Zur Sprache in ihrem Buch sagt Abou, dass sie klassistisch vorgeprägte Begriffe ablehne. Sie kritisiert besonders die Worte „sozialer Brennpunkt“, „Problemviertel“, „bildungsfern“ oder „Unterschicht“; für letzteren verwendet sie die Vokabeln „Arbeiter*innen-“ und „Armutsklasse“, die aus der 1993 in den USA gegründete Bewegung Working Class/​Poverty Class stammten. Sie spricht von „materieller Armut“, weil das Wort „Armut“ oft klassistisch gleichgesetzt würde mit mangelnder Kultur, Wissen und Solidarität.
Den Begriff „asozial“ kennzeichnet Abou als dunkles Erbe des NS-Faschismus und kritisiert, dass unter diesem Begriff Verfolgte und mit schwarzem Winkel stigmatisierte Menschen erst 2020, also mit 75 Jahren Verspätung, als NS-Opfer anerkannt wurden (S. 10). Bildung würde der Armutsklasse konstant als Ausweg aus der (als individuelles Problem hingestellten Misere) präsentiert, doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Klassismus des Bildungswesens schafft, zementiert und rechtfertigt soziale Ungerechtigkeit: „Von wegen »Jede*r kann es schaffen«! – Klassismus bestimmt massiv den Zugang zu formeller Bildung. Alle wissen, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nicht gerecht ist und dass der Zugang zu formeller Bildung von der sozialen Herkunft abhängt. Trotzdem hält sich hartnäckig der Mythos, dass jede*r ›es‹ schaffen könne, wenn er*sie nur wolle.“ (Verlagstext).
Strukturell verhinderte Bildungsmobilität durch Klassismus sei kein neues Phänomen, sondern seit den ersten Sozialerhebungen bekannt. Die klassistische Haltung hänge am meritokratischen Mythos einer „Leistungsgesellschaft“, die Reichtum und Status angeblich nach persönlicher Leistung verteile. Wissen und Kompetenzen dafür vermittele das Bildungssystem, das auch die erste und damit wichtigste Bewertung angeblicher Leistungsfähigkeit vornimmt. Dies alles stellt Abou infrage und beruft sich auf empirische Studien und Pierre Bourdieus Habitustheorie. Die Hradil-Studie habe etwa 2008 den Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe an über 2000 Gundschulkindern in Wiesbaden untersucht und im Ergebnis die soziale Herkunft als wichtigsten Faktor für eine Gymnasialempfehlung ermittelt. (S. 17) Wellgraf (2021) spreche daher von einem „Ausgrenzungsapparat“, der statt auf Bildungsgerechtigkeit auf Statuserhalt ziele und dafür Bildungsübergänge mit massiven Hindernissen versehe. (S. 19) Abou sieht bei vielen Privilegierten eine „habituelle Gewöhnung an Macht“, wobei einige sich diffamierende Wertungen für die Armutsklasse anmaßen, „ohne dass ihnen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vorgeworfen wird“ (S. 21). In Schule, Universität und Bildungsforschung fehle es an kritischer Auseinandersetzung mit eigenen Annahmen, Vorurteilen und Interessen.
Kapitel 1, „Eine kritische Betrachtung des Bildungssystems“, beginnt mit den PISA-Studien, die dem deutschen Schulwesen bezüglich sozialer Gerechtigkeit regelmäßig Mängel bescheinigen. Insbesondere die mit vier Jahren sehr kurze deutsche Grundschulzeit sorge für eine hohe Selektion nach Herkunft, in der EU seien sonst (außer in Österreich) sechs Jahre üblich. Das selektive Aussondern armutsbetroffener Menschen im Bildungsprozess setze sich von der Gymnasialempfehlung über Studium, Promotion und akademische Karrieren fort. Die Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks belege dies seit den 1950er-Jahren, deshalb findet Abou es „verwunderlich, dass die PISA-Studie zu Bildungsungleichheit im Jahr 2000 als ‘Schock’ bezeichnet wurde.“ (S. 28) Deutschland habe da Platz 31 von 31 Ländern belegt, was die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulman (SPD) zum Gelöbnis einer besonderen Unterstützung motivierte. Doch 20 Jahre später belegten wir Platz 33 von 36, womit Abou wohl, anders als einleitend angekündigt, doch eine persönlich Verantwortliche für die (Fortsetzung der) Bildungsmisere benannt hat. „Bildungsvererbung“ zeige sich im maßgeblichen Einfluss der formellen Bildung der Herkunftsfamilie. Auch Eltern sorgen oft für Bildungsungerechtigkeit, wenn sie etwa den Umgang ihrer Kinder nach dem Motto „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ klassistisch reglementieren. Eine in Hamburg angestrebte Bildungsreform, die 2008 die Primarstufe auf sechs Jahre verlängern wollte, stieß auf konservativen Widerstand einer „von Walter Scheuerl daraufhin ins Leben gerufenen Initiative“ und scheiterte (S. 31). Die „elitäre Haltung klassenprivilegierter Eltern“ sei Treiber von Stigmatisierung und Ausschluss. Dennoch würde in der politischen Debatte „kaum mal der Fokus auf die Stärkung von Eltern gelegt, deren Kinder ausgegrenzt werden, und nur wenig Kritik an elitären und unsolidarischen Elterninitiativen wie der in Hamburg geübt, die ihren Klassismus… vor sich hertragen und die eigene Machtposition… zu ihren Gunsten ausnutzen“ (S. 33).
Lehrpersonal von Schulen bleibt nicht unkritisiert, denn „bewusst oder unbewusst“ trage es dazu bei, die Armutsklasse zu diskriminieren. „Glückserzählungen á la 'Lehrer*in-entdeckt-Talent-von-abgehängtem-jungen-Menschen' wirken berührend und werden gern erzählt“, sogar verfilmt. Problematisch sei dabei aber, dass junge Menschen dabei unterteilt werden in (aus Sicht der Schule) „Talente“, die Förderung verdienen, und den Rest, die Übriggebliebenen. Das folgt dem meritokratischen Mythos der Leistungsgesellschaft und stabilisiert elitistische Hierarchien. Gefordert werden müsse als wichtige Berufskompetenz eine „Habitussensibilität“, stattdessen finde sich unreflektierter Klassismus schon in der Bewertung von Namen. Namen wie Kevin oder Chantal würden mit „bildungsfern“ assoziiert, was als „Kevinismus“ bezeichnet wird. (S. 36) Die Mangelfinanzierung von Schulen habe in der Corona-Zeit besonders klassistische Benachteiligung produziert, denn es war Lehrpersonen oft nicht bewusst, wie wenig digitalen Zugang zu Online-Unterricht im Lock-down Armutsbetroffene haben.
Kapitel 2, „Auswirkungen von Klassismus“ beginnt mit der Kritik an individualisierender Zuschreibung, die eine Verbesserung struktureller Mängel des Bildungssystems blockiert. Aktuelles Beispiel sei die derzeit gehypte „Resilienz“, die „gefühlt Teil jedes zweiten Selbstmanagementseminars geworden“ sei, wo man die Teilnehmenden „resilienter“ zu machen verspreche. Abou dazu: „Das ist eine der perfidesten und kapitalismuskonformsten Verkehrungen eines Konzepts, die ich je erlebt habe.“ (S. 42) Suggeriert würde bei solcher Perspektive: „Wenn du nicht klarkommst, ist mit dir etwas falsch, nicht mit dem System.“ Beim Protest gegen individualisierende Ideologien der Benachteiligung hätte man ihr, Tanja Abou, in ihrer eigenen Hochschulausbildung vorgeworfen „ich würde 'meine Betroffenheit wie einen Bauchladen vor mir hertragen'.“ (S. 43) Derartige Herabsetzungen, Entmutigungen und Schuldzuweisungen bezeichnet Abou als „Ent-Powerment“ -ein Gegenbegriff zum von ihr geforderten Empowerment. Auch Jugendhilfe und Sozialbehörden seien Teil dieses klassistischen Systems, wo sich Anfang der 2010er-Jahre Sanktionsandrohungen gegen junge Menschen in Ausbildung gehäuft hätten. (S. 45) Auch mit dem „Imposter-Syndrom“ hätten Armutsbetroffene zu kämpfen, wenn sie trotz aller Hindernisse in höhere Bildungsgänge gelangten: Unterschwelliger oder offener Klassismus vermittle das Gefühl, zu betrügen, nicht wirklich dorthin zu gehören. Unter Bezug auf Bourdieu schlägt Abou für dieses Problem den Begriff „Habitus-Struktur-Konflikt“ vor. (S. 50)
Kapitel 4, „Alles schon gesagt und noch viel zu tun“, wendet sich Lösungsansätzen zu. In der Corona-Pandemie hätten vermehrt junge Menschen das Vertrauen in Staat und Politik verloren, nicht zu Unrecht, denn ihre Belange wurden vernachlässigt. Klassismus verstärkte die Vernachlässigung für weniger Privilegierte, denn das Recht auf Chancengleichheit und gesellschaftliche Teilhabe würde wenig beachtet, besonders bei sozial Benachteiligten. (S. 55) Im Bildungssystem fehlen Ressourcen und diese müssten gerechter verteilt werden, wofür eine klassismus-sensible Evaluierung fehle. Bei der Frage, woher nehmen und nicht stehlen, spricht Abou Verteilungsgerechtigkeit in Wirtschaft, Gesellschaft und Steuersystem an, wenn sie fordert, hohe Einkommen und Vermögen endlich höher zu besteuern und „dass eine Besteuerung von superreichen Personen sowohl möglich als auch überfällig ist“ (S. 59). Besonders die Bildungspolitik müsste mit so erhöhten Einnahmen ausgestattet werden und Chancengleichheit endlich verstärkt anstreben. Als „Beispiele gute Praxis“ verweist Abou abschließend besonders auf selbstorganisierte Projekt und Initiativen wie die „Initiative Kreidestaub“, die seit 2013 für eine bessere Ausbildung von Lehrkräften kämpft, die Kampagne „Bildungswende jetzt“, die Organisation „Arbeiterkind.de“, die Bildungsinitiative „KikK“ („Klassismus ist keine Kunstepoche“), deren Name anprangert, dass die Diskriminierungsdimension „Klassismus“ im deutschsprachigen Raum derart vernachlässigt wurde, dass Google daran Interessierten jahrelang Suchergebnisse zu „Klassizismus“ präsentieren wollte.
Diskussion
Bei aller Zustimmung zu allen Kritikpunkten, ist Abou nur eine etwas zu unkritische Sicht auf die PISA-Studien der OECD (dem „Club der reichen Länder“) vorzuwerfen. PISA bekam große Medienaufmerksamkeit, was zur sogenannten „empirischen Wende“ der Bildungspolitik führte und zu einer Abkehr vom Humboldtschen wie auch kritischen Bildungsgedanken. Es ging tendenziell nur noch um Ausbildung im Sinne wirtschaftlicher Verwertbarkeit. Bildungspolitik und Schulen verpflichteten sich einer „evidenzbasierten“ Unterrichtsentwicklung, wie sie von Andreas Helmke in seinem Standardwerk vertreten wird (Rezension dazu). Helmkes Fokus zeigt sich klar im Stichwortregister seiner „Bibel der Bildungsforschung“: Vier Einträge zu „Disziplin“, „Disziplinlosigkeit“ etc., aber keiner zu „Diskriminierung“, geschweige denn zu „Klassismus“, „Rassismus“, „Sexismus“ usw. „Ideologien“ kritisiert Helmke bei Sozialkonstruktivisten, Apologeten der offenen Teamarbeit, der „progressive education“, aber nicht hinter den PISA-Studien der OECD. Kritisch könnte man dort jedoch nach einer Ideologie namens „Neoliberalismus“ (vgl. Rezension zu Reimer) fragen, die westliche Gesellschaften an Wünschen der Unternehmen ausrichtet und den Bildungssektor dabei seit 50 Jahren zugleich finanziell aushungert und ideologisch vereinnahmt. Abou dokumentiert, wie die neoliberal produzierte Ungerechtigkeit Menschen mit wenig Geld entrechtet und drangsaliert.
Fazit
Das Buch „Klassismus im Bildungssystem“ hinterfragt diskriminierende Zuschreibungen im Bildungswesen. Besondere Kritik trifft die Stigmatisierung von Armutsbetroffenen, individualisierende Schuldzuweisungen und die eklatant mangelhafte Ausstattung des Bildungswesens überhaupt. Insbesondere werden neben einer massiven Mittelaufstockung solidarische Interventionsmöglichkeiten sowie demokratisch selbstorganisierte Initiativen als Lösungswege dargestellt.
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 28.06.2024 zu:
Tanja Abou: Klassismus im Bildungssystem. Unrast Verlag
(Münster) 2024.
ISBN 978-3-89771-154-9.
Reihe: unrast transparent - soziale krise - 7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32351.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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