Florian Spissinger: Die Gefühlsgemeinschaft der AfD
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 18.07.2024
Florian Spissinger: Die Gefühlsgemeinschaft der AfD. Narrative, Praktiken und Räume zum Wohlfühlen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
301 Seiten.
ISBN 978-3-8474-3063-6.
D: 68,00 EUR,
A: 70,00 EUR.
Reihe: promotion - 15.
Thema
Wie gelingt es der AfD, dass sich deren Unterstützer*innen bei einer für viele Menschen abstoßenden Partei wohlfühlen? Florian Spissinger hat Vortragsveranstaltungen, Stammtische und Wahlkampfstände der AfD ethnografisch beobachtet und Gespräche vor Ort geführt. Sichtbar geworden ist eine neurechte Gefühlsgemeinschaft, an der kritische Einwände wirkungslos abprallen und für die sich die Ablehnung von Zuwanderung und Klimaschutz gut und clever anfühlt.
Autor
Florian Spissinger ist Politikwissenschaftler der Universität Leipzig. Mit seiner Arbeit war er in diesem Jahr für den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung nominiert und zudem Gewinner des Dissertationswettbewerbs promotion 2023 des Verlags Barbara Budrich, in dem das Buch erschienen ist.
Entstehungshintergrund
Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung um die Dissertation des Autors, die im Fach Politikwissenschaften an der Universität Leipzig verfasst wurde.
Aufbau und Inhalt
Die ethnografisch fundierte Studie entfaltet die normalisierende Gefühlsarbeit der AfD. Dafür nutzt Florian Spissinger emotionssoziologische und affekttheoretische Konzepte und beleuchtet Narrative, Praktiken und Räume. Sichtbar werden moralisch entlastende Selbstnarrative und ermächtigende Gefühlspositionen für AfD-Sympathisant*innen. Die Untersuchung zeigt auch, wie sich rassistische und anti-klimapolitische Untergangsszenarien zu einer selbst bestätigenden Gefühlswelt verdichten. Außerdem interpretiert der Autor das kollektive Schimpfen und spöttische Gelächter bei AfD-Veranstaltungen als ein neurechtes Identitäts- und Gefühlstraining. Nicht zuletzt wird deutlich, wie AfD-Unterstützer*innen Kritik abwehren und daraus die Bestätigung ziehen, ‚die Wahrheit‘ zu vertreten und ‚frei‘ zu denken. Wer es sich in der neurechten Gefühlsgemeinschaft erst einmal bequem gemacht hat, lässt sich daher nur noch schwer zur Umkehr bewegen.
Im Verlauf des Buches entwickelt Spissinger ein Konzept der Ambivalenz der neurechten Gefühlsarbeit, mit dem entlang seiner Beobachtungen gezeigt wird, dass die AfD-Gemeinschaft „bedrohliche und totalitäre Welten“ wahrnimmt und „zugleich als Quelle der Hoffnung und Befreiung“ (S. 251) auftritt. Ein weiterer Ansatz sind fünf Affektive Mechanismen zum rechten Wohlfühlen. So bieten die AfD und ihr Umfeld zum Beispiel eine affektive Verbindung und Anbindung, was nichts anderes meint, als dass Menschen hier eine ideologisch-politische ‚Heimat‘ finden und sie außerdem – zumindest subjektiv – „eine identitätsstiftende Gemeinschaft finden“ (S. 254). Im ‚Wir‘ gegen ‚Die‘ entsteht ein Kohärenzgefühl, das insbesondere für diejenigen, die sich ob ihrer (politischen) Meinung nicht gerechtfertigter Kritik aus ihrem Umfeld ausgesetzt fühlen, eine Art Wohlfühloase ist. Darüber hinaus entsteht eine Art affektiver Auftrieb, wie der Autor es betitelt: „Wer sich selbst im Besitz von Wahrheit und Sachverstand sieht, kann sich denjenigen überlegen fühlen, die man als ‚weltfremde Zuwanderungsfans‘, ‚Gender-Ideologen‘ und ‚Klimafanatiker‘ erachtet“ (S. 255). Nicht außer Acht zu lassen ist, dass auch das Gefühl der Befreiung große Bedeutung hat. Kämpfe gegen Corona-Maßnahmen, staatliche Gängelung oder Bevormundung werden lautstark und gerne als ‚Widerstand‘ beschrieben, was dazu führt, dass diejenigen, die sich dort politisch zu Hause fühlen, „sich in mehrfacher Hinsicht als Freiheitskämpfer*in fühlen“ (S. 255) – und sei es sich nur dem, was ‚Außenstehende‘ als Mainstream für die Wahrheit halten. „Wer es sich in der neurechten Gefühlswelt bequem gemacht hat, braucht sich für rechte Ansichten nicht zu schämen, sondern kann sie als Ausdruck des eigenen Freiheitsgefühls geradezu genießen“ (S. 256). Das spiegelt sich auch darin wider, dass die im Titel des Buches beschriebene Gefühlsgemeinschaft dafür sorgt, dass die Beteiligten gegen Kritik von außen immunisiert und moralisch entlastet werden, was Spissinger zu folgender These zusammenfasst: „Wer Kritik erfährt, kann daraus affektiven Gewinn schöpfen und die Bestätigung erhalten, auf der richtigen Seite zu stehen, noch frei zu denken und moralisch integer zu sein“ (S. 256). Der letzte affektive Mechanismus ist die Selbstbestätigung – heißt im Klartext: Wer will, findet überall Beweise dafür, dass man sich im Widerstand befindet zum Beispiel gegen die ‚Öko-Diktatur‘: als da wären „das 49-Euro-Ticket, Werbung für vegane Produkte oder auch die Zunahme von Lastenfahrrädern“ (S. 257).
Diskussion
Die Ergebnisse dieser ethnografischen Forschung sind beeindruckend, weil es Florian Spissinger in klaren Worten gelingt, sehr genau darzustellen, wie so eine in Teilen rechtsextreme Partei im Deutschland des 21. Jahrhunderts breite Unterstützung gefunden hat. Die Menschen, die sich dort versammeln, fühlen sich wohl. Und gerade das macht es schwer, sie davon zu überzeugen, dass die AfD vielleicht nicht gerade die beste Lösung für alle Probleme ist. Ein großer Pluspunkt dieses Buches ist dabei, dass der Autor zwar nie einen Hehl daraus macht, dass diese Wohlfühlgemeinschaft alles andere als seine Welt ist, trotzdem aber wissenschaftlich-neutral bleibt, die einzelnen Menschen, auf die er trifft und mit denen er letztlich forscht, nicht dämonisiert. So entsteht eine schlüssige Erklärung, was den Reiz der AfD und ihres Umfeldes ausmacht, wenn man einmal dort angekommen ist. Das Buch zeigt aber eben auch, dass es subjektiv ‚gute Gründe‘ gibt, warum sich Menschen aus allen sozio-demografischen Breitengraden in dieser Gefühlsgemeinschaft wohlfühlen. Die für die Demokratie mit all ihren positiven und negativen Begleiterscheinungen und den Pluralismus zurückzugewinnen, dürfte eine große Herausforderung sein. Das Buch zeigt aber auch, dass es zu einfach ist, mit dem Finger auf alle AfD-Sympathiesant*innen zu zeigen und sich über sie erheben, indem man die eigene moralische Integrität wie eine Monstranz vor sich her trägt.
Fazit
Ein wichtiges und faszinierend geschriebenes Buch, das nicht dem großen Risiko erliegt, den Forschungsgegenstand zu dämonisieren, sondern sich ihm wissenschaftlich-neutral begegnet. Und so entsteht eine herausragende Erklärung aus der Mitte einer Welt, die sich für die große Mehrheit der Menschen in diesem Lande nicht erschließt.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 18.07.2024 zu:
Florian Spissinger: Die Gefühlsgemeinschaft der AfD. Narrative, Praktiken und Räume zum Wohlfühlen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
ISBN 978-3-8474-3063-6.
Reihe: promotion - 15.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32352.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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