Ingo Schymanski: Die Sprache der Seele
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 29.08.2024
Ingo Schymanski: Die Sprache der Seele. Psychische, somatische und soziale Signale als Schlüssel zu Gesundheit und Wohlbefinden.
Schattauer
(Stuttgart) 2024.
360 Seiten.
ISBN 978-3-608-40187-5.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Wissen & Leben. .
Thema
Schymanskis Buch ist am ehesten ein Laienratgeber für ein gesundes Leben, es kann aber auch gut gelesen werden als eine erste Auseinandersetzung mit dem Fach Psychosomatische Medizin oder Integierte Medizin; insofern steht er in einer Genealogie mit Thure von Uexküll (1908-2004) oder Reinhard Plassmann. Sein Werk über Suchtprobleme „Im Teufelskreis der Lust. Raus aus der Belohnungsfalle!“ erschien im selben Verlag. In einem Artikel formuliert Schymanski seine zentrale Hypothese, die als primär neuropsychologisch aufgefasst werden kann: Die zerebrale Kreation der Normalität und ihre Störungen: Ein neues Modell zum Verständnis von Stress, Schizophrenie, Borderline, PTBS, Zwängen und Inselbegabungen.
Autor
Dr. med. Ingo Schymanski ist Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Suchtmedizin nach Studium in Marburg und Freiburg und Facharztausbildung auf internistischen und chirurgischen Krankenhausabteilungen in Berlin. Er ist akademischer Lehrarzt für Allgemeinmedizin der Universität Ulm, seit 2017 ist er als Allgemeinmediziner und Psychotherapeut im Kanton Zürich (CH) tätig.
Entstehungshintergrund
Latent findet eine Auseinandersetzung mit der gängigen Versorgungspraxis in Deutschland statt. Schymanski hat das System verlassen und arbeitet heute in der Schweiz; offenbar sichert das Gesundheitssystem dort eine bessere Work-Life-Balance und weniger administrative Regulierung der ärztlichen Tätigkeit: Jedes Einkommen unterliegt der Versicherungspflicht; Besserverdiende können sich nicht aufgrund ihres höheren Einkommens von der Versicherungspflicht freikaufen. So gibt es denn auch wesentlich weniger Budgetierungen und andere gesundheitspolitische Repressionen. Auch Krankenpflegende können von ihrem Einkommen ihr Leben finanzieren, selbst in Genf oder Zürich. In der Praxis der Schymanski tätig ist, arbeiten neben drei Ärztinnen, zwei psychologische Psychotherapeutinnen, eine Physiotherapeutin, eine Ernährungsberaterin in der Primärversorgung. Diese Konstellation dürfte in Deutschland nicht anzutreffen sein.
Aufbau und Inhalt
Vorwort
Einführenden Worten folgen als Selbsttest bezeichnete Fragebögen: Ein Stressbarometer mit 17 Fragepositionen und ein Wohlfühlbarometer mit 19 Fragepositionen. Wer mehr als drei Fragen im Negativbereich zustimmen muss (z.B. Haben Sie häufig Schuldgefühle?), hat offensichtlich eine Indikation für die Lektüre des hier zu besprechenden Texts.
Das Werk ist in drei Abschnitte gegliedert.
Die körperliche – seelisch – soziale Einheit des Menschen
Schymanski entwickelt eine Theorie des psychosomatischen Krankseins. Ausgehend von einem wissenschaftlich wohl überholten Modell der WHO beschreibt er Gesundheit nicht allein als Abwesenheit akuter Krankheiten oder körperlicher Gebrechen definiert, sondern als „Zustand des vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlergehens“ (vgl. WHO 1948). Dabei berücksichtigt er durchaus neue Entwicklungen wie die Sinnperspektive (spirituelle Gesundheit) und damit verbundene Praktiken wie Achtsamkeit, Meditation usw., bleibt aber hinter Antonovskys (1997) salutogenetischem Denken zurück. Gleichwohl kann der medizinische Laie durchaus eine realistische Anschauung davon gewinnen, was der Unterschied zwischen einem Computer- oder Maschinenmodell von Gesundheit und dem Denken der integrierten Medizin oder Psychosomatik ausmacht. Die Rolle der Bindungssicherheit findet ihren Raum wie auch die Rolle von Affekten z.B. bei der Erschütterung des Selbst. Chronischer emotionaler Stress wird ebenso besprochen wie die generativen Aufgaben im Lebenszyklus oder Geschlechterrollen in ihren Beschränkungen und Möglichkeiten.
Wege zur Gesundung
Originellerweise beginnt der Autor die Beschreibung von Strategien zur Wiedererlangung oder Erhaltung der Gesundheit mit einem ganzen Absatz, der sich mit der Bedeutung des Traums und des Träumens befasst. Bewusste und unbewusste Hoffnungen und Strategien in diesem Zusammenhang werden ausführlich gewürdigt, und die Bedeutung der unterschiedlichen psychotherapeutischen Strategien findet Raum. Selbst typische Befürchtungen von Patienten werden behandelt, „Sie meinen also, ich bilde mir meine Beschwerden nur ein“ oder „ich bin doch nicht verrückt“, die ein eher mechanistisches Denken offenbaren.
Beschwerdebilder als Wegweiser zu mehr Gesundheit
Der größte Abschnitt gilt den einzelnen Krankheitsbildern in ihren Beziehungen zu Lebensaufgaben, zu körperlicher Leistungsfähigkeit und menschlichen Herausforderungen. Die Auflistung kann natürlich nicht vollständig sein, sie beschreibt jedoch jeweils typische existenzielle Herausforderungen, die nicht bewältigt werden konnten und über das Beschwerdebild eine Art Lösung herbeiführten, unbewusste Kompromissbildung. Auch im Sinn eines sekundären Krankheitsgewinns, die Krankheit eine Lösung des Problems auf einer symbolischen Ebene dar. Es sind extrem selbst-destruktive Lösungen denkbar (Sucht, Suizid), aber auch reifere Kompromisse, die in einer emotionalen Entwicklung der Persönlichkeit oder der Bewältigungsstrategien bestehen oder einfach nur im Annehmenkönnen. So kann sich dysfunktionaler Umgang mit Leistung, Wettbewerb, Erfolg zu einer Situation entwickeln, in der das Subjekt eine Lebensaufgabe annehmen kann und darin persönlich sinnhafte Strategien entwickelt. Selbst der Tod kann aus dieser Perspektive eine gelingende Herausforderung darstellen. Ich finde als Rezensent vor allem den Abschnitt über Fibromyalgie (gesteigerte Empfindsamkeit) interessant. Monatelang hatte ich mich erfolglos um die Arbeit mit einer jungen Frau bemüht, deren unerschütterliche Überzeugung es war, es müsse eine biochemische Erklärung für ihr Schmerzen geben.
Diskussion
Schymanskis Kompetenz als Suchtmediziner ist evident, so hat mich sein Text „Warum immer mehr nicht immer glücklicher macht“ besonders interessiert; das ist aber das Motto, das er der Erklärung für Zuckkrankheit voranstellt und hier wird u.a. auch die Insulinresistenz erklärt. Über die Erwartung der meisten Menschen hinaus ist moderne Psychosomatik auch neurowissenschaftlich fundiert, und der Autor bezeichnet an anderer Stelle seine wissenschaftliche Orientierung als neurophilosophisch.
Bedauerlich ist die Abwesenheit eines Literaturverzeichnisses. Nicht nur Rezensenten, sondern auch ganz normale Leser wollen gern wissen, woher der Autor seine Kenntnisse bezieht, welche die Referenzen seiner eigenen Bildungsbiografie sind; dieser Mangel setzt sich auf der Homepage fort wo ausschließlich auf eigene Texte verwiesen wird.
Fazit
Resümee: Das Buch ist sehr lesenswert. Es ermöglicht auch Interessierten ohne Medizinstudium eine Auseinandersetzung mit medizinisch-wissenschaftlichen Fragen aus dem Bereich der Psychosomatik, ist wenig guruhaft geschrieben und lässt abweichende Positionen gelten.
Literatur
Antonovsky, Aron ( 1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit (= Forum für Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis. 36). Tübingen: dgvt-Verlag
Thure von Uexküll (1988): Theorie der Humanmedizin. Grundlagen ärztlichen Denkens und Handelns. (mit Wolfgang Wesiack) München: Urban und Schwarzenberg
Reinhard Plassmann, Michel Schütz hg. Von Thure von Uexküll (2002): Integrierte Medizin. Neue Modell für Pychosomatik und Psychiatrie, Gießen: Psychosozial
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Es gibt 37 Rezensionen von Ulrich Kießling.
Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 29.08.2024 zu:
Ingo Schymanski: Die Sprache der Seele. Psychische, somatische und soziale Signale als Schlüssel zu Gesundheit und Wohlbefinden. Schattauer
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-608-40187-5.
Reihe: Wissen & Leben. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32368.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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