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Emanuel Richter: Was ist heute Politik?

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schröder, 09.04.2025

Cover Emanuel Richter: Was ist heute Politik? ISBN 978-3-593-51935-7

Emanuel Richter: Was ist heute Politik? Merkmale, Handlungsfelder, Problemstellungen. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 353 Seiten. ISBN 978-3-593-51935-7. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.

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Thema

Emanuel Richter untersucht in seinem Buch die Frage, was Politik heute bedeutet, und betont ihre zentrale Rolle für unser Zusammenleben, insbesondere in Krisenzeiten. Er stellt fest, dass vielen Menschen ein tiefgehendes Verständnis von Politik fehlt, wodurch oft einseitige und unzureichende Einschätzungen vorherrschen. Dies birgt die Gefahr, Politik ausschließlich als Herrschaftsgewalt zu begreifen und ihr mit Misstrauen zu begegnen. Für eine funktionierende Demokratie ist es jedoch essenziell, dass Bürger*innen Politik verstehen, sie bewerten, kontrollieren und mitgestalten. Richter kritisiert das weit verbreitete Missverständnis, Politik lediglich als etwas zu betrachten, das man passiv erträgt – tatsächlich betrifft sie uns jedoch alle unmittelbar. Das Buch verfolgt das Ziel, die oft unterschätzte Bedeutung von Politik aufzuzeigen und klarzumachen, was Politik insbesondere in krisenhaften Zeiten ist – und was sie sein sollte.

Autor

Emanuel Richter, Prof. Dr., ist Politikwissenschaftler, Publizist und Kommentator des politischen Geschehens in Fernsehen, Rundfunk und Presse. Von 2000 bis 2020 war er Professor für Politische Wissenschaft an der RWTH Aachen mit dem Schwerpunkt Politische Systeme und Comparative Politics. Seit 2000 ist Richter Vertrauensdozent und seit 2012 Mitglied des Auswahlausschusses der Friedrich-Ebert-Stiftung. Zudem gehört er seit 2015 dem Wissenschaftlichen Beirat der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik an. Seine Fachgebiete umfassen die vergleichende Systemforschung mit Fokus auf Westeuropa und den atlantischen Raum, Demokratietheorie, trans- und supranationale Demokratie, republikanische Politiktheorie sowie die europäische Integration.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die von der grundlegenden Neubestimmung des Politikbegriffs über emotionale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Einflussfaktoren bis hin zu aktuellen Herausforderungen wie Populismus, Digitalisierung und Klimakrise eine Analyse politischer Gestaltungsmöglichkeiten bieten.

Kapitel 1 zeigt auf, dass unser Verständnis von Politik neu bestimmt werden muss, da sie oft unterschätzt oder missverstanden wird. Viele Menschen begegnen ihr mit Halbwissen, Klischees oder sogar Ablehnung, weil sie Politik nur als unerwünschten Eingriff in ihr Privatleben wahrnehmen. Gleichzeitig löst das politische Geschehen starke Emotionen wie Frustration, Enttäuschung und Wut aus. Das größte Missverständnis besteht – laut Richter – darin, sich lediglich als betroffene*r Zuschauer*in zu sehen, obwohl Politik jede*n Einzelne*n direkt betrifft und Gestaltungsspielräume bietet, wenn man sich einbringt.

Kapitel 2 beschäftigt sich mit der politischen Ordnung, die den Alltag der Menschen prägt und vor allem durch das Handeln von Parteien und Amtsträger*innen sichtbar wird. Obwohl diese Ordnung als unverzichtbar gilt, führt ihre Machtfülle oft zu Missverständnissen – sie wird entweder überschätzt oder als einschränkend empfunden. Das Gewaltmonopol des Staates sorgt für die Durchsetzung von Regeln, wodurch der Staat sowohl als Garant der Stabilität als auch als autoritäre Instanz wahrgenommen wird. Gleichzeitig zeigt sich, dass Bürger*innen ihren Einfluss auf die politische Ordnung oft unterschätzen und sich eher als passive Betroffene statt als aktive Gestaltende erleben. Der Föderalismus trägt dazu bei, politische Entscheidungen bürgernäher zu gestalten und regionale Unterschiede zu berücksichtigen, um demokratische Akzeptanz zu erhöhen. Dennoch besteht eine wachsende Entfremdung zwischen Bürger*innen und politischen Parteien, was sich in Wahlenthaltung, Protestverhalten und der Kritik an der Professionalisierung der Politik zeigt.

Kapitel 3 beleuchtet die emotionale und körperliche Dimension der Politik, die oft als fremd oder unheimlich wahrgenommen wird. Politik beeinflusst nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Gefühle, wie Hoffnung oder Angst, und kann dadurch unbewusst unser Handeln steuern. Diese emotionale Wirkung birgt die Gefahr der Instrumentalisierung, wenn Menschen sich unreflektiert einer politischen Idee oder Führungsfigur verschreiben. Gleichzeitig basiert Politik auf zwischenmenschlichen Wechselwirkungen und prägt unser Zusammenleben tiefgreifend. Der sogenannte common sense spielt dabei eine zentrale Rolle, da er als gemeinschaftliches Verständnis das politische Handeln beeinflusst – positiv in Form von Empathie und Verständigung, aber auch negativ, wenn er populistische Strömungen verstärkt. In diesem Kontext wird auch der Patriotismus kritisch betrachtet: Wenngleich der Begriff Patriotismus, im Sinne von „Liebe zum Vaterland“, grundsätzlich problematisch erscheint, braucht es in abgeschwächter Form dennoch ein Gefühl der Verbundenheit mit einer politischen Ordnung. In populistischen Bewegungen wird Patriotismus häufig mit nationaler Abgrenzung und Fremdenfeindlichkeit verknüpft. Der Verfassungspatriotismus hingegen versucht, das Zusammengehörigkeitsgefühl auf eine rationale Zustimmung zu gemeinsamen politischen Werten zu stützen. Insgesamt zeigt das Kapitel, dass Politik keine rein rationale Sphäre ist, sondern tief in unsere Emotionen und sozialen Beziehungen eingreift.

Kapitel 4 untersucht das Gefühl der Zugehörigkeit und die Bedeutung des Volkes in der Demokratie. Demokratie bedeutet wörtlich „Herrschaft des Volkes“, doch bleibt unklar, wer genau das Volk ist und wie sein Wille wirksam wird.Politische Repräsentation bringt den abwesenden Volkswillen in das politische Geschehen ein, schafft jedoch auch Herrschaftsstrukturen, die regulierend oder sogar bevormundend wirken können. Direkte Demokratie, etwa durch Volksentscheide oder Bürger*inneninitiativen, dient der Korrektur politischer Repräsentation, birgt aber auch Gefahren. Populistische Bewegungen verklären den Volkswillen und nutzen ihn selektiv für eigene Zwecke, während politische Eliten berechtigte Anliegen des Volkes manchmal als übertrieben abtun. Das Kapitel zeigt, dass eine funktionierende Demokratie soziale Ungleichheit, kulturelle Entfremdung und mangelnde soziale Absicherung ernst nehmen muss, um eine Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verhindern.

Kapitel 5 behandelt aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, die eine stärkere politische Steuerung erfordern. Insbesondere die Marktwirtschaft führt zu erheblichen Ungleichheiten, weshalb regulierende Eingriffe notwendig sind. Große Unternehmen nutzen den Markt oft nur für eigene Gewinne, wodurch die Politik an Einfluss verliert und die soziale Absicherung geschwächt wird. Einige Konzerne erwirtschaften dabei so große Umsätze, dass sie eigene Parallelgesellschaften aufbauen, die sich staatlicher Kontrolle zunehmend entziehen und eigene Regeln etablieren. Eine funktionierende Wirtschaft benötigt jedoch politische Kontrolle, um das Gemeinwohl zu sichern und ein gerechtes Miteinander zu gewährleisten. Auch die Digitalisierung verändert die politische Landschaft, indem sie den persönlichen Austausch durch datenbasierte Prozesse ersetzt und demokratische Entscheidungsfindung gefährdet. Die Politik darf sich – so Richter – nicht von reiner Informationsverarbeitung verdrängen lassen, sondern muss den menschlichen Austausch und die soziale Interaktion bewahren. Daher ist es notwendig, die Digitalisierung bewusst zu steuern, um ihre Vorteile zu nutzen, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die demokratische Selbstbestimmung zu gefährden.

Kapitel 6 betont die Notwendigkeit einer grundlegenden Neubestimmung der Politik, die politische Gestaltung als gemeinsame Anstrengung begreift. Am Beispiel der Corona-Pandemie wird deutlich gemacht, dass der Staat in Krisenzeiten sowohl fürsorglich als auch überwachend agieren kann, was zu heftigen Debatten über Grundrechtseinschränkungen führte. Die politische Mitwirkung der Bürger*innen beschränkte sich meist auf das Befolgen staatlicher Vorschriften, wodurch individuelles Engagement und gemeinschaftliches Handeln in den Hintergrund traten. Zudem verstärkte die Pandemie soziale Ungleichheiten, da Menschen mit geringem Einkommen oder schlechter Gesundheitsversorgung deutlich stärker betroffen waren. Diese Ungleichheiten zeigen sich auch in der unterschiedlichen Wertschätzung systemrelevanter Berufe, die in Krisenzeiten besonders sichtbar wird. Die Klimakrise, Umweltzerstörung und soziale Ungleichheit stellen existenzielle Herausforderungen dar, die eine umfassendere politische Gestaltung erfordern. Dabei müssen auch bislang marginalisierte Perspektiven stärker eingebunden werden, um eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu ermöglichen. Schließlich plädiert das Kapitel für eine Politik, die über rein menschliche Interessen hinausgeht und auch Rechte der Natur, Tiere und Umwelt mitdenkt.

Diskussion

Richter argumentiert, dass Politik nicht nur als Steuerungsinstrument oder Krisenreaktion verstanden werden sollte, sondern als ein gemeinschaftlicher Prozess, an dem Bürger*innen aktiv teilhaben müssen. Besonders in Krisenzeiten zeigt sich jedoch eine Tendenz, Verantwortung vollständig an den Staat abzugeben, was populistische Forderungen nach autoritären Entscheidungen verstärkt. Diese Entwicklung kann demokratische Prinzipien aushöhlen, wenn etwa Gewaltenteilung und mediale Kontrolle zugunsten schneller Entscheidungen eingeschränkt werden. Gleichzeitig muss Politik klare Grenzen haben und sollte nicht alle Lebensbereiche regulieren. Während Richter einerseits vor einer Entpolitisierung warnt, stellt er andererseits heraus, dass nicht jede persönliche oder private Entscheidung politisiert werden sollte. Letztlich plädiert das Buch für ein ausgewogenes Politikverständnis, das die Notwendigkeit von Steuerung mit der Wahrung individueller Freiheit und bürgerschaftlicher Mitgestaltung verbindet.

Richter ist in seinem Grundargument zuzustimmen, jedoch verliert sich in der Zuspitzung seiner Argumentation manchmal der Blick auf das durchaus vorhandene gemeinsinnstiftende, nachbarschaftliche Engagement, das gerade während der Corona-Pandemie dort Lücken staatlicher Maßnahmen füllte, wo Wohnungslose oder von Armut Betroffene Unterstützung benötigten. Solches Engagement kann den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf Gemeinwesenebene in Krisenzeiten stärken, ist jedoch keineswegs selbstverständlich. Offen bleibt im Buch zudem die Frage, wie sich ein neues Politikverständnis konkret in der Gesellschaft verankern ließe – jenseits der nur kurz erwähnten direkten Demokratie könnten mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten auf kommunaler Ebene oder eine Demokratisierung staatlicher Einrichtungen, insbesondere von Schulen, helfen, um frühzeitig die gemeinsinnstiftende und zusammenhaltende Dimension demokratischer Gesellschaft erfahrbar zu machen. Nichtsdestotrotz ist das Buch eine wertvolle Anregung, Politik nicht nur aks von oben gesteuerte Verwaltung zu sehen, sondern als zentrales Element gemeinschaftlicher Verantwortung und Gestaltung.

Fazit

Das Buch entwickelt die Frage „Was ist Politik heute?“ entlang zentraler Spannungsfelder: zwischen Bürger und Staat, Emotion und Rationalität, Demokratie und Populismus sowie Markt und politischer Steuerung. Es zeigt, dass Politik nicht nur institutionelle Prozesse umfasst, sondern auch soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Machtverhältnisse und ökologische Verantwortung einschließen muss, um den Herausforderungen der Gegenwart gerecht zu werden.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schröder
Professor für Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule für Technik und Wirtschaft des Saarlandes, Fakultät für Sozialwissenschaften
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Es gibt 24 Rezensionen von Christian Schröder.

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ISSN 2190-9245