Tobias Bernasconi (Hrsg.): Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung
Rezensiert von Marina Lenk, 19.09.2024
Tobias Bernasconi (Hrsg.): Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung. Autonomie, Unterstützung, Verantwortung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2024. 205 Seiten. ISBN 978-3-17-043630-5. 36,00 EUR.
Thema
Auch Menschen mit geistiger Behinderung werden in Deutschland immer älter. Durch diesen demografischen Wandel entstehen neue Fragestellungen wie das Erwachsenwerden, Partnerschaft, Familie, Wohnen und die Bedürfnisse im Alter von Menschen mit geistiger Behinderung. Das Buch greift diese Fragestellungen auf und setzt sich mit diesen kritisch vor dem gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Hintergrund auseinander.
Autor:in oder Herausgeber:in
Herausgeber und Autor des Buches ist Prof. Dr. Tobias Bernasconi, er ist Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger und komplexer Behinderung an der Universität Köln, Förderschullehrer und Kommunikationspädagoge.
Der Herausgeber wird in seinem Buch von 9 weiteren Fachautor*innen unterstützt, welche jeweils ein Kapitel des Buches verfasst haben. Im Ernst Reinhardt Verlag sind außerdem folgende Fachbücher des Herausgebers Tobias Bernasconi erschienen:
- Diagnostik und Interventionsplanung in der unterstützten Kommunikation (2023)
- Pädagogik und Rehabilitation bei geistiger Behinderung (2024)
Entstehungshintergrund
Der Herausgeber und seine Co-Autor*innen greifen in dem vorliegenden Fachbuch verschiedene Spannungsfelder in unterschiedlichen Lebensbereichen von Menschen mit geistiger Behinderung auf. Die verschiedenen Themenfelder und Fragestellungen werden aus unterschiedlichen Perspektiven in den jeweiligen Kapiteln beleuchtet. Das Buch soll einen Denkanstoß geben zum Thema Inklusion, Teilhabe, Selbstverwirklichung und der Umsetzung in der heutigen Gesellschaft, vor allem auch beim Erwachsenwerden und Älter werden mit geistiger Behinderung.
Inhalt
Kapitel 1 beinhaltet das Vorwort zum Buch von Tobias Bernasconi. Das Kapitel 2 widmet sich der Einleitung zum Buch und wurde vom Autor selbst verfasst. In der Einleitung werden auch die Co-Autor*innen des Buches und ihre jeweiligen Kapitel, welche sie im Buch verfasst haben, vorgestellt.
Kapitel 3 ist vom Herausgeber Tobias Bernasconi selbst verfasst. Das Kapitel greift die Aspekte Erwachsenwerden und Erwachsensein, allgemeine Aspekte des Erwachsenwerdens, Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung sowie Aufgaben und Ambivalenzen beim Prozess des Erwachsenwerdens bei geistiger Behinderung auf.
Das 4. Kapitel wurde von einem Co-Autor verfasst. In diesem Kapitel werden verschiedene Themenbereiche kritisch betrachtet. Behinderung im kulturellen, historischen und sozio-ökonomischen Kontext gegenübergestellt, sowie die Bereiche Benachteiligung, Diskriminierung und Bevormundung. Des Weiteren wird die Bedeutung der Rollen von Peer-Groups, Eltern und Geschwisterkindern bei heranwachsenden geistig behinderten Menschen beleuchtet.
Beim Erwachsenwerden spielen in der Regel sogenannte Peer-Groups, also Gleichaltrige, eine große Rolle, um die Problemstellungen des Erwachsenwerdens mit Gleichaltrigen zu besprechen und Fragen zu klären, um sich nach und nach selbstständig vom Elternhaus abzuspalten. Bei Menschen mit geistiger Behinderung hingegen sind diese Berater in Lebensfragen häufig die eigenen Eltern oder erwachsene Betreuer, Pädagogen oder Ähnliches. Erwachsene Menschen sind allerdings häufig nicht die idealen Ansprechpartner für Probleme von Jugendlichen und Heranwachsenden, da sie eine andere Sichtweise auf Dinge haben. Diese Situation und auch ein häufig sehr kleiner Freundeskreis von Menschen mit geistiger Behinderung wirkt sich nicht unbedingt förderlich auf den Autonomieprozess von Menschen mit geistiger Behinderung aus.
Kapitel 5 wurde von einer Co-Autorin verfasst. Sie beleuchtet die Aspekte der Selbstbestimmung, Probleme und Spannungen bei geistiger Behinderung und Selbstbestimmung sowie das Erwachsenwerden im Kontext der Selbstbestimmung.
Im Kapitel 6 stellen der Autor Tobias Bernasconi und eine Co-Autorin die allgemeine Gesundheitssituation von Menschen mit geistiger Behinderung sowie die Gesundheitsveränderungen und den Zugang zu medizinischen Versorgungsangeboten für heranwachsende Menschen mit geistiger Behinderung vor. Menschen mit geistiger Behinderung sind häufig sehr anfällig für verschiedene Erkrankungen, sie leiden meist auch schon sehr früh an chronischen Erkrankungen wie Lungen-, Herz- oder auch Krebserkrankungen. Auch akute und chronische Schmerzen sind häufiger vorhanden als bei gesunden Menschen, da Menschen mit geistiger Behinderung meist noch begleitende Spastiken, Fehlhaltungen etc. haben. Auch ist das Erkrankungsrisiko für Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung, vor allem Trisomie 21, erhöht und tritt in einem früheren Lebensalter ein als bei gesunden Menschen. Allerdings wurde durch verschiedene Studien belegt, dass der Zugang zum Gesundheitswesen für Menschen mit geistiger Behinderung erschwert ist, und verschiedenen Barrieren aufweist z.B. unzureichende Qualifikation des Personals um auf die Bedarfe, Bedürfnisse und ggf. Kommunikationsprobleme einzugehen, fehlende Zeit oder ungeeignete Untersuchungsräume.
Kapitel 7 wurde durch zwei Co-Autoren verfasst und widmet sich den Themen Recht und Gesetz. Hier werden Bereiche aufgegriffen wie Volljährigkeit und geistige Behinderung, Betreuungsrecht und Bundesteilhabegesetz, Leistungen zur Sicherung der Existenz und sozialen Teilhabe.
Im 8 Kapitel beleuchtet eine Co-Autorin die Rolle der Familie beim erwachsenen Kind mit geistiger Behinderung, die Herausforderungen und (emotionalen) Belastungen sowie finanziellen Unsicherheiten. Kapitel 9 wurde ebenfalls von einer Co-Autorin verfasst und diskutiert die Probleme und Zusammenhänge zwischen Auszug aus dem Herkunftshaushalt und Wohnformen zum allein wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung. Inklusive Erwachsenenbildung ist das Thema des 10. Kapitels, welches von einer Co-Autorin geschrieben wurde. Hier werden die Begrifflichkeiten des lebenslangen Lernens, Erwachsenenbildung und Erwachsenenbildung im Kontext mit Inklusion vorgestellt.
Das 11. Kapitel wurde vom Autor Tobias Bernasconi verfasst und beschäftigt sich mit dem Themenbereich der Kommunikation. Menschen mit geistiger Behinderung haben häufig Probleme, sich verbal, d.h. in Lautsprache auszudrücken. Es werden in dem Kapitel verschiedene Methoden zur unterstützenden Kommunikation (UK). Methoden wie z.B. Biographiearbeit, Talking Mats, Ich-Bücher sowie unterschiedliche Medien wie elektronische und nicht elektronische Kommunikationshilfen zur unterstützenden Kommunikation im Erwachsenenalter von Menschen mit geistiger Behinderung.
Der Themenbereich Sexualität, Identität und sexuelle Selbstbestimmung werden im Kapitel 12 von einer Co-Autorin dargestellt.
Im Kapitel 13 werden die Bereiche und Problematiken der Arbeit im Erwachsenenalter, Teilhabe in der Arbeitswelt von Menschen mit geistiger Behinderung ebenfalls von einer Co-Autorin ausgeführt.
Im letzten Kapitel beschreibt ein Co-Autor die politische Partizipation und politische Bildung im Kontext von Menschen mit geistiger Behinderung. Jedes Kapitel ist in sich thematisch abgeschlossen und endet mit jeweils einem eigenen Literaturverzeichnis.
Diskussion
Der Herausgeber Prof. Dr. Tobias Bernasconi gibt als Autor und Herausgeber in seinem Buch, zusammen mit seinen Co-Autor*innen einen guten Überblick über verschiedene Themenbereiche und Spannungsfelder, in welchen sich heranwachsende Menschen mit geistiger Behinderung und deren engste Bezugspersonen bewegen. Sehr anschaulich werden in den einzelnen Kapiteln relevante Begrifflichkeiten erklärt, Problematiken und Herausforderungen in verschiedenen Bereichen dargestellt.
Fazit
Das Buch gibt einen kompakten, aber dabei sehr umfassenden Einblick und kritischen Überblick über die verschiedenen Zeitspannen und die besonderen Herausforderungen im Leben eines Menschen mit geistiger Behinderung. Beleuchtet werden hierbei Bereiche wie das Erwachsenwerden, Autonomie, Selbstbestimmung, Sexualität, aber auch die Begleitung und die Herausforderungen aus der Perspektive durch die engsten Bezugspersonen.
Rezension von
Marina Lenk
Gesundheits- und Pflegemanagerin (B.A.), Fachkrankenschwester für Anästhesie- und Intensivpflege, Palliative-Care-Fachkraft, freiberufliche Fachautorin und Dozentin
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Zitiervorschlag
Marina Lenk. Rezension vom 19.09.2024 zu:
Tobias Bernasconi (Hrsg.): Erwachsenwerden mit geistiger Behinderung. Autonomie, Unterstützung, Verantwortung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-17-043630-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32386.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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