Birthe Bojić: Selbstwahrnehmung von Frauen in nicht-traditionellen Berufsrollen
Rezensiert von Prof. Simone Gretler Heusser, 18.06.2025

Birthe Bojić: Selbstwahrnehmung von Frauen in nicht-traditionellen Berufsrollen. Eine Determinante zur Erklärung der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegregation in Deutschland?
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2024.
256 Seiten.
ISBN 978-3-339-13996-2.
D: 88,90 EUR,
A: 91,40 EUR.
Reihe: Studien zur Berufs- und Professionsforschung - 44.
Thema
Die Dissertation von Birthe Bojic beschäftigt sich mit einem hochaktuellen Thema der Geschlechterforschung und Arbeitsmarktsoziologie: der Selbstwahrnehmung von Frauen in nicht-traditionellen Berufsrollen – insbesondere in männerdominierten Berufsfeldern wie dem Ingenieurwesen, dem Handwerk und den MINT-Berufen. Dabei untersucht Bojic, inwiefern diese Selbstwahrnehmung eine erklärende Variable für die fortbestehende geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarkts in Deutschland darstellen kann. Ihre Arbeit leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um Gleichstellung, Berufsorientierung und soziale Rollenbilder.
Autorin
Birthe Bojic ist Nachwuchswissenschaftlerin mit einem interdisziplinären Hintergrund in Soziologie, Gender Studies und Arbeitspsychologie. Ihre Dissertation, die 2024 im Verlag Dr. Kovač veröffentlicht wurde, ist das Ergebnis mehrjähriger empirischer Forschung. Die Autorin zeichnet sich durch eine präzise, methodisch fundierte und gleichzeitig verständliche Herangehensweise aus. Ihre Arbeit zeigt eine bemerkenswerte inhaltliche Tiefe sowie eine hohe Sensibilität für gesellschaftliche Zusammenhänge.
Entstehungshintergrund
Die Dissertation entstand vor dem Hintergrund persistenter Geschlechterungleichheiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt, insbesondere in MINT-Berufen, wo Frauen nach wie vor stark unterrepräsentiert sind. Gesellschaftliche Entwicklungen wie ein wachsendes öffentliches Interesse an Diversität, zahlreiche Förderprogramme für Frauen in Technikberufen und Einzelerfolge wie der Gewinn der Mathematik-Olympiade durch eine junge Frau aus dem Kanton Uri in der Schweiz (eine von der Rezensentin bemerkte Anekdote) unterstreichen die Relevanz der Fragestellung. Die Autorin verbindet in ihrer Arbeit theoretische Modelle mit aktuellen empirischen Befunden aus Deutschland.
Aufbau
Die Dissertation ist systematisch und klar gegliedert und damit äusserst übersichtlich. Nach einer theoretischen Einführung und der Problemdarstellung (Kapitel 1–2) folgt ein umfangreiches systematisches Literaturreview (Kapitel 3), in dem bestehende Erkenntnisse zur Selbstwahrnehmung von Frauen in männerdominierten Berufen zusammengetragen und kritisch diskutiert werden. Im Anschluss (Kapitel 4–5) präsentiert Bojic ihren qualitativen Forschungsansatz, der auf leitfadengestützten Interviews basiert. Kapitel 6 stellt ein theoretisches Modell unterschiedlicher Bewältigungsstrategien vor (S. 179), während Kapitel 7 eine tiefgehende Diskussion zentraler Ergebnisse bietet – unter anderem mit Bezug auf Begriffe wie Tokenism, Lack of Fit und gesellschaftliche Zuschreibungen. Die Arbeit schliesst mit einem Kapitel zu Limitationen (Kap. 8) und einem Fazit.
Inhalt
Die folgenden vier Punkte fassen die wichtigsten Inhalte der Dissertation von Birthe Bojic zusammen:
Selbstwahrnehmung und Berufswahl
Ein zentrales Ergebnis der Arbeit ist, dass die Selbstwahrnehmung von Frauen in nicht-traditionellen Berufen stark von äußeren Zuschreibungen, Stereotypen und internen Strategien geprägt ist. Frauen in technischen und handwerklichen Berufen erleben sich häufig als „Ausnahme“, was mit Ambivalenz zwischen Anerkennung und sozialer Isolation einhergeht.
Theoretische Konzepte: Tokenism und Lack of Fit
Die Autorin nutzt u.a. zwei zentrale Konzepte zur Analyse:
- Tokenism bezeichnet die Situation von Frauen, die als Einzelpersonen in männerdominierten Umfeldern eine Symbolfunktion erhalten. Diese „Token-Frauen“ werden überrepräsentativ beobachtet, bewertet und häufig als Vertreterinnen ihres Geschlechts behandelt, was enormen Anpassungsdruck erzeugt.
- Lack of Fit verweist auf die wahrgenommene Unvereinbarkeit zwischen dem stereotypen Bild weiblicher Kompetenzen und den Anforderungen des jeweiligen Berufs (z.B. Technikverständnis, Führungsstärke), was zu Diskriminierung und Selbstzweifeln führen kann.
Systematische Literaturreview
Das systematische Review umfasst Studien zu Frauenanteilen in männerdominierten Berufen (vgl. Tabelle S. 75–77), zu Erwerbstätigkeit und Geschlechterstereotypen (S. 91–96) sowie zur Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz (S. 128). Besonders hervorzuheben ist Bojics Fähigkeit, disparate Studienergebnisse kohärent zusammenzuführen.
Empirische Ergebnisse
Die qualitativen Interviews zeigen, dass Frauen vielfältige Strategien entwickeln, um sich im Beruf zu behaupten: Verhaltensanpassung, Leistungsüberkompensation, gezielte Abgrenzung oder bewusste Sichtbarkeit. Die Interviewten berichten zugleich von fortbestehenden Barrieren und subtilen Formen der Ausgrenzung. Das auf S. 179 entwickelte Modell der Bewältigungsstrategien ist ein innovativer Beitrag zur qualitativen Genderforschung.
Diskussion
Im Diskussionskapitel (Kap. 7) argumentiert Bojic, dass die Persistenz von Geschlechterungleichheiten nicht nur strukturell bedingt ist, sondern auch mit individuellen Konstruktionen von Identität, Leistung und Zugehörigkeit zusammenhängt. Interessant ist der von ihr vorgenommene Perspektivwechsel: Frauen in Männerberufen sind nicht ausschliesslich „Leidtragende“ eines Systems, sondern auch Akteurinnen, die durch ihre Strategien bestimmte Normen mitformen oder hinterfragen. Die Autorin diskutiert zudem den symbolischen Gehalt von Erfolgsgeschichten als Indikator für gesellschaftlichen Wandel – ohne dabei auf eine naive Fortschrittsgläubigkeit zu verfallen.
Ein weiterer spannender Aspekt ist der kritische Blick auf Männer in frauentypischen Berufen, sowie auf die unterschiedlichen Entwicklungen in der DACH-Region – etwa die steigenden Studierendenzahlen an der ETH Zürich im MINT-Bereich, jedoch eine geringere Diversität im SAGE-Bereich (Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung).
Empfehlung: empfehlenswert für Fachpublikum, Bildungspolitiker:innen, Diversity-Beauftragte und Interessierte an Gender- und Arbeitsforschung.
Fazit
Birthe Bojics Dissertation ist eine sehr sorgfältig recherchierte, durchdachte und methodisch sauber umgesetzte Arbeit, die sich wohltuend von rein statistischen oder rein aktivistischen Beiträgen abhebt. Die Verbindung von qualitativen Interviews mit systematischer Literaturarbeit macht sie sowohl theoretisch fundiert als auch empirisch nahbar. Besonders hervorzuheben sind die klaren Begriffsklärungen, die kritische Diskussion gängiger Narrative und das aufschlussreiche Modell der Bewältigungsstrategien. Die Arbeit bietet wertvolle Einsichten für Wissenschaft, Gleichstellungspolitik und Berufsorientierung gleichermassen.
Rezension von
Prof. Simone Gretler Heusser
Sozialwissenschafterin, Coaching Praktikerin, Dozentin, Hochschule Luzern
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