Martina Hehn-Oldiges: Wege aus Verhaltensfallen
Rezensiert von Jaqueline Simon, 09.07.2024

Martina Hehn-Oldiges: Wege aus Verhaltensfallen. Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen.
Beltz Verlag
(Weinheim, Basel) 2024.
2. überarbeitete und aktualisierte Auflage.
213 Seiten.
ISBN 978-3-407-63317-0.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Reihe: Pädagogik.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Anliegen des Buches besteht darin, Pädagog*innen auf Basis einer ethischen Orientierung zu unterstützen, für sie fordernde Verhaltensweisen von Kindern, Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen vielfältig in den Blick zu nehmen, zu analysieren und ihnen professionell zu begegnen. In der Form einer Handreichung wird der Ansatz „Wege aus Verhaltensfallen“ vorgestellt, der sowohl auf theoretisch fundierten Auseinandersetzungen mit pädagogischen Konzepten als auch auf jahrzehntelangen Erfahrungen der Autorin in Praxis, Leitung, Beratung, Lehre und Erkenntnissen empirischer Studien basiert. Der Ansatz wurde in diversen pädagogischen Settings erprobt und evaluiert.
Autorin
Martina Hehn-Oldiges ist Diplom-Pädagogin und externe Referentin für Diversität und Unterrichtsentwicklung an der Goethe-Universität Frankfurt. Vor Ihrer Pensionierung war sie als Förderschullehrerin, Schulleiterin, Mentorin in der 2. Phase der Lehrer*innenbildung im Studienseminar GHRF Marburg, pädagogische Mitarbeiterin sowie Mitarbeiterin in Forschungsprojekten an der Goethe-Universität Frankfurt und Fortbildnerin tätig. Seit 2013 arbeitet sie im interdisziplinären Arbeitskreis „Menschenrechtsbildung“ in der Rochow- Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische Forschung an der Universität Potsdam mit.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in fünf Kapitel untergliedert. Einführend vorangestellt ist ein Vorwort von Annedore Prengel sowie eine Einleitung samt Klärung von für das Buch notwendigen Begrifflichkeiten von Martina Hehn-Oldiges.
In Kapitel 1 „Beziehung und Beruf“ (S. 19–37) stellt die Autorin die Bedeutung der Beziehungsebene für pädagogisches Handeln dar. Dabei geht sie anhand konkreter Fallbeispiele auch auf die Entstehung von Verhaltensfallen ein. Unter diesem Begriff fasst die Autorin Denkmuster und Einstellungen, die in schwierigen Situationen das professionelle Handeln erschweren, zu Fehldeutungen und Reaktionen führen können, die der Situation und dem Gegenüber nicht gerecht werden (S. 17). Beispiele hierfür können Sätze sein wie: „Selbst schuld, wenn du dich nicht an die Regeln hältst!“ (S. 24), „Das ist doch gar nicht schlimm!“ (S. 52), „Stell! dich nicht so an!“ (S. 152), „Das muss sie jetzt aber mal aushalten!“ (S. 156). Im Kapitel wird weiterhin ein Überblick über mögliche persönliche und fachliche Faktoren, die das professionelle Handeln beeinflussen können, gegeben. Es werden zudem die Relevanz der Selbstsorge und -reflexion beschrieben und Anregungen zur individuellen Reflexion persönlicher Bewertungen von herausfordernden Situationen bzw. Verhaltensweisen gegeben. Das Kapitel abschließend werden die Notwendigkeit einer Ethik pädagogischer Beziehungen und in diesem Zusammenhang die Reckahner Reflexionen (https://paedagogische-beziehungen.eu ) erläutert.
In Kapitel 2 „Wege aus Verhaltensfallen – ethisch begründete Rahmungen für pädagogisches Handeln“ (S. 38–74) werden allgemeine Grundlagen zur präventiven und interventiven Gestaltung pädagogischer Situation basierend auf diversen pädagogischen Konzepten vorgestellt. Hierbei werden ausgehend von Bedürfnissen nach Strukturierung, Sicherheit und Orientierung, die Personen der Zielgruppe pädagogischer Arbeit haben können, Anregungen für die Gestaltung pädagogischer Situationen sowie haltgebender Interaktionen gegeben. Zudem wird aufgezeigt, wie ethisch orientiertes pädagogisches Handeln zu gelingenden pädagogischen Beziehungen beitragen kann.
In Kapitel 3 „Wege aus Verhaltensfallen – Verhalten verstehen und schwierige Situationen analysieren“ (S. 75–85) stellt die Autorin konkrete Methoden vor, die Pädagog*innen unterstützen können, sich möglichst wertfrei dem subjektiven Sinn herausfordernder Verhaltensweisen zu nähern, sowie deren Funktion zu verstehen.
In Kapitel 4 „Wege aus Verhaltensfallen – pädagogisches Handeln an besondere Bedarfe anpassen“ (S. 86–171) werden vielfältige Faktoren aufgezeigt, die die Entwicklung sozio-emotionaler Fähigkeiten beeinflussen und zur Entstehung herausfordernder Verhaltensweisen führen können. Hierbei gibt Martina Hehn-Oldiges eine Übersicht über verschiedene Entwicklungsmodelle, führt diese in einem eigenen Modell zusammen und stellt mögliche Verschiebungen der Entwicklung durch kognitive und oder emotionale Beeinträchtigungen dar.
In den Kapiteln 2, 3 und 4 werden die verschiedenen Inhalte durch zahlreiche Beispiele möglicher Verhaltensfallen und konkrete, entwicklungsorientierte Handlungsalternativen zugänglich gestaltet.
In Kapitel 5 „Strukturierte Analysen und Fachgespräche zur Sozio-Emotionalität – ein Leitfaden“ (S. 172–180) stellt die Autorin ein Instrument vor, dessen Nutzung Pädagog*innen individuell und kollegial unterstützen kann, schwierige Situationen und herausfordernde Verhaltensweisen sachbezogen und fachlich betrachten und analysieren zu können. Dieser Leitfaden kann auch eine Struktur für Fachgespräche über herausfordernde Verhaltensweisen sowie für interne Organisationsentwicklungen bieten.
In den zwölf Anhängen und zusätzlichen Online-Materialien werden Vorlagen für Analysen und Reflexionen vorgestellt, mit Hilfe derer die einzelnen Bereiche der Handreichung durchlaufen werden können, um „Wege aus Verhaltensfallen“ finden und gute pädagogische Beziehungen (wieder) aufbauen sowie nachhaltig pflegen zu können.
Diskussion
Die Autorin adressiert mit ihrem Buch alle Pädagog*innen unabhängig ihres konkreten Tätigkeitsfeldes, die individuell heraus- oder gar überfordernde Situationen erleben und selbst in Verhaltensfallen gelangen. Anhand der in den Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven betrachteten „Verhaltensfallen“ macht die Autorin gelungen deutlich, dass nicht das „störende“ oder „schwierige“ Kind Grund für misslingende Situationen ist, sondern dass mögliche Ursachen für problematische Handlungen komplex und von vielen Faktoren bedingt sein können. Martina Hehn-Oldiges schafft es, auf Basis einer breiten theoretisch-empirischen Fundierung sowie ihren vielfältigen Erfahrungen die Sinnhaftigkeit herausfordernder Verhaltensweisen zugänglich darzustellen. Pädagog*innen erhalten mit der vorliegenden Handreichung eine gut verständliche, ethisch fundierte Orientierung für pädagogisches Handeln, um pädagogische Beziehungen (wieder) aufzubauen und zu stabilisieren, die emotionale Sicherheit geben und auf Wertschätzung und Anerkennung basieren. Insgesamt zeigt die Handreichung Möglichkeiten, auch aus gefestigten Handlungsmustern und Verhaltensfallen ausbrechen zu können. Auch durch den „Leitfaden zur Analyse der Sozio-Emotionalität“ können Pädagog*innen ermutigt werden, Krisensituationen professionell zu analysieren und alternative, ethisch orientierte pädagogische Handlungsweisen reflexiv umzusetzen.
Fazit
Die im Buch angebotenen Materialien zur Analyse schwieriger Situationen sowie zur Planung und Gestaltung pädagogischer Settings geben die Möglichkeit, im Sinne professionellen Handelns eine reflexive Haltung zu möglichen, komplexen Ursachen für herausfordernde Verhaltensweisen, zu eigenen Perspektiven sowie zum eigenen Handeln im Umgang mit Kindern, Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen einzunehmen, um in konfliktreichen Situationen individuell förderlicher sowie beziehungsorientierter zu handeln. Die Handreichung eignet sich als Grundlage für individuelle und kollegiale Reflexionen in allen pädagogischen Arbeitsfeldern, für den Aus-, Fort- und Weiterbildungsbereich pädagogischer Berufe, aber auch durchaus für den familiären Kontext, wenn es um das Verstehen kindlicher bzw. jugendlicher Verhaltensweisen und um Reflexionen eigener Verhaltensfallen geht.
Rezension von
Jaqueline Simon
Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Schulpädagogik und Grundschuldidaktik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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