Luise Reddemann, Silvia Höfer et al.: PITT mit Kindern und Jugendlichen
Rezensiert von Dr. Sandra Wesenberg, 14.11.2024
Luise Reddemann, Silvia Höfer, Fee Schäfer: PITT mit Kindern und Jugendlichen. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie in der Praxis.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2023.
254 Seiten.
ISBN 978-3-608-89309-0.
D: 30,00 EUR,
A: 30,90 EUR.
Reihe: Leben lernen - [339]. .
Thema
Die therapeutische Arbeit mit Menschen, die frühe und komplexe Traumatisierungen erfahren haben, stellt selbst für erfahrene Psychotherapeut*innen immer wieder eine große Herausforderung dar. Bereits seit Mitte der 1980er Jahre hat Luise Reddemann ein spezifisches Behandlungskonzept für die Arbeit mit dieser Zielgruppe entwickelt: die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT). Das Konzept wurde dabei für die Arbeit mit erwachsenen komplex traumatisierten Personen entwickelt und in der Folge für die Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen adaptiert. Das Buch „PITT mit Kindern und Jugendlichen. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie in der Praxis“ von Luise Reddemann, Silvia Höfer und Fee Schäfer verdeutlicht, wie – aufbauend auf den Prinzipien der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie – psychotherapeutisch mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen gearbeitet werden kann.
Autorinnen
Prof. Dr. med. Luise Reddemann ist Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Sie ist eine international anerkannte Expertin zur traumatherapeutischen Arbeit mit komplex traumatisierten Menschen und hat zahlreiche psychotherapeutische Lehr- und Fachbücher publiziert. In ihrer Zeit als Leiterin der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Ev. Johannes-Krankenhauses in Bielefeld Mitte der 1980er bis Anfang der 2000er Jahre entwickelte sie das Konzept der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT). Gemeinsam mit verschiedenen Kolleg*innen, u.a. Silvia Höfer und Fee Schäfer, wurde das PITT-Konzept weiterentwickelt und für die traumatherapeutische Arbeit mit Kinder und Jugendlichen spezifiziert.
Silvia Höfer ist Pädagogin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie arbeitet therapeutisch in eigener Praxis in Reutlingen und vermittelt als Dozierende die Inhalte des Aufbaucurriculums PITT mit Kindern und Jugendlichen.
Die dritte Autorin, Fee Schäfer, ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie tiefenpsychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Neben ihrer therapeutischen Tätigkeit in eigener Praxis in Kehl, ist sie ebenfalls als Dozierende für das Basiscurriculum PITT sowie für das Aufbaucurriculum PITT mit Kindern und Jugendlichen tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „PITT mit Kindern und Jugendlichen. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie in der Praxis“ umfasst 254 Seiten und ist in sechs inhaltliche Teile mit folgenden Überschriften gegliedert:
- Einleitung
- Psychotherapeutische Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen
- Komplexe Traumatisierung im Kindes- und Jugendalter
- Voraussetzung und Beginn der Behandlung
- Interventionen mit Kindern und Jugendlichen nach PITT-Prinzipien
- Bezugspersonenarbeit und Arbeit mit dem Umfeld
In der Einleitung führt Luise Reddemann in die Grundprinzipien des von ihr gemeinsam mit Kolleg*innen entwickelten Konzepts der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT) ein. In den Folgekapiteln werden dann verschiedene Besonderheiten der traumatherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, insbesondere mit Komplextraumatisierungen, vorgestellt und das konkrete Vorgehen entsprechend des PITT-Konzeptes fachlich fundiert und zugleich sehr praxisnah beschrieben und anhand der umfassenden Praxiserfahrungen von Fee Schäfer und Silvia Höfer veranschaulicht. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei, dem Thema entsprechend, auf Kapitel 5 „Interventionen mit Kindern und Jugendlichen nach PITT-Prinzipien“, welches ca. 110 Seiten des Gesamttextes umfasst.
In der Einleitung werden zunächst die Grundprinzipien von PITT dargelegt. Das traumatherapeutische Vorgehen basiert auf einer Sicherheit gebenden und von Mitgefühl getragenen therapeutischen Beziehung, würdigt Leid und Symptomatik ebenso wie Widerständigkeit und Überlebensleistung, ist ressourcenorientiert und fördert Selbstwirksamkeit und Selbstmitgefühl. Aufbauend auf Erkenntnissen der Ego-State-Theorie stellt die Arbeit mit ‚jüngeren verletzten Anteilen‘ von traumatisierten Menschen und die Zuwendung und Versorgung dieser Anteile durch zunehmend ‚erwachsene Anteile‘ einen grundlegenden Bestandteil der Intervention nach den PITT-Prinzipien dar. Dabei wird speziell mit verschiedenen Imaginationen gearbeitet. Das Vorgehen folgt dabei dem verbreiteten dreistufigen Behandlungskonzept in Traumatherapie – Stabilisierung, Traumakonfrontation, Integration –, wobei ein hohes Gewicht auf die Stabilisierungsphase und ein äußerst behutsames Vorgehen in der Traumakonfrontation gelegt wird. Dieses behutsame Vorgehen bedeutet, dass traumakonfrontatives Vorgehen in der Arbeit mit komplex traumatisierten Menschen hohe Flexibilität erfordert, lange dauern kann und bei nicht wenigen Betroffenen niemals ansteht. An späterer Stelle im Buch im Kapitel 5.4, an welcher die Phase der schonenden Konfrontation in den Mittelpunkt gerückt wird, findet sich nochmals eine treffende Faustformel zur Frage, wann eine Traumakonfrontation indiziert ist (S. 195).
PITT umfasst verschiedene hilfreiche trauma-bezogene Interventionen, wobei es für komplex und früh traumatisierte Kinder und Jugendliche in der Therapie vor allem „um Neubeginn [geht], d.h., wir sollten neue emotionale, aber auch kognitive und Handlungserfahrungen ermöglichen. Und das ist eben nicht nur die Konfrontation mit dem Trauma, sondern vor allem die Erfahrung einer haltgebenden, mitfühlenden Beziehung sowie insbesondere die Erfahrung, Neues zu entdecken und zu erleben.“ (S. 11) Die Autor*innen betonen an verschiedenen Stellen im Buch zudem deutlich, dass in der psychotherapeutischen Arbeit vor allem mit Kindern häufig vom üblichen Phasenablauf von Stabilisierung, Traumakonfrontation und Integration abgewichen wird, insbesondere im therapeutischen Spiel. „Im therapeutischen Spiel tauchen Traumamaterial oder traumarelevante Elemente unvermittelt und sozusagen ungeordnet auf und müssen aufgegriffen werden. Würden wir diese Inhalte übergehen, weil wir z.B. noch in der Phase der ersten Stabilisierung stecken, bestünde die Gefahr, dass der Flow und damit das Spiel unterbrochen werden würde und wirkungslos bliebe. Darüber hinaus wäre das Nichtaufgreifen für das Kind möglicherweise ein Ignorieren wichtiger Anliegen. Deshalb lässt sich das klassische 3-Phasen-Modell von ‚Stabilisierung – Traumabegegnung – Integration‘ mit Spieltherapie-Kindern oft nicht in dieser festen Reihenfolge aufrechterhalten“ (S. 193).
Das Buch vermittelt sehr praxisnah, wie die konkrete therapeutische Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen aussehen kann, gibt wertvolle Hinweise zu hilfreichen Spielsettings und -materialien (z.B. zur besonderen Geeignetheit von therapeutischen Sandkästen, S. 115, sowie zum Einfluss der Wahl des Spielmaterials auf die Distanzierungs- und Beobachtungsfähigkeit, S. 133) und verdeutlicht, wie hilfreich u.a. verschiedene Imaginationsübungen sein können. Das Buch bietet hierfür konkrete Arbeitsmaterialien, z.B. zum „Geborgenheitsort“ als zentrale Imagination im PITT (S. 134 ff.) wie auch zahlreiche weitere Imaginationsübungen, u.a. zur Ressourcensichtbarmachung und -stärkung oder zur psychischen Entlastung.
Traumatherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unterscheidet sich von der Therapie von Erwachsenen zudem insbesondere dadurch, dass junge Menschen unmittelbar auf die Unterstützung von Bezugspersonen angewiesen sind und ihre Lebensbedingungen nur bedingt selbstbestimmt gestalten können. Das Buch widmet entsprechend ein ganzes abschließendes Kapitel der „Bezugspersonenarbeit und Arbeit mit dem Umfeld“, berücksichtigt dieses wichtige Thema aber auch in allen vorangegangenen Ausführungen konsequent. So wird u.a. darauf hingewiesen, dass die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen häufig auch die Arbeit mit Täter- oder Co-Täterbezugspersonen einschließt. Unter der Überschrift „Wenn die Bedingungen für ‚Heilung‘ nicht gegeben sind: ‚Überleben im Dschungel‘“ (S. 105) beschreiben die Autor*innen zudem Fälle, die vielen Psychotherapeut*innen und anderen pädagogischen und therapeutischen Helfer*innen sicher sehr vertraut vorkommen: „Fälle, in denen die Lebensbedingungen unserer jungen Schützlinge suboptimal bis schlecht sind – an der Grenze zur Kindeswohlgefährdung und doch gerade gut genug, dass das Amt wohl nichts sehen und tun könnte oder eben schon involviert ist und nichts tun kann (oder eben nichts tut)“ (S. 105). In diesen Fällen stellt sich in der Praxis oft die Frage, ob die Bedingungen für Psychotherapie gegeben sind. Die Antwort der Autor*innen wird – mit Verweis auf die wegweisende Kauai-Studie von Emmy Werner, die gezeigt hat, welche hohe Bedeutung die stützende und sichere Beziehung zu einer einzigen Bezugsperson für die Entwicklung von Kindern in Hochrisikosituationen haben kann – sehr bestärkend formuliert: „Nach unserem Dafürhalten kann in solchen Fällen der Arbeitsauftrag sein: ‚Linderung‘ zu schaffen“ (S. 105).
Diskussion
Das Buch bietet eine Fülle von fundierten Hintergrundinformationen (u.a. zu komplexer Traumatisierung im Kindes- und Jugendalter, den PITT-Grundprinzipen sowie den notwendigen Rahmenbedingungen gelingender Therapie), konkrete Vorschläge zur (psychoedukativen) Vermittlung von Inhalten an Kinder und Jugendliche wie auch Bezugspersonen (z.B. Grundlagen des Ego-State-Modells, S. 101 f., oder Vorbereitung und Abschluss von Imaginationsübungen S. 130), zahlreiche Arbeitsmaterialien und Praxisbeispiele. Besonders positiv hervorzuheben sind dabei außerdem die vielen Fallvignetten, die einen lebendigen und authentischen Eindruck der konkreten therapeutischen Interventionen vermitteln. Als sehr hilfreich erweisen sich auch die übersichtlichen ‚Infokästen‘, die in stichpunktartiger Auflistung Voraussetzungen und Kontraindikationen sowie konkrete grundlegende Hinweise zur Durchführung der verschiedenen Interventionen/​Schritte in PITT abbilden (z.B. Voraussetzungen und Kontraindikationen für die Durchführung der Versorgung verletzter jüngerer Anteile, S. 157).
Das Buch vermittelt die Grundlagen sowie die Anwendung von „PITT mit Kindern und Jugendlichen“ umfassend, fundiert und praxisnah, kann (und soll!) zugleich aber natürlich keine Weiterbildung nach dem Basis-Curriculum PITT oder dem Aufbaucurriculum PITT mit Kindern und Jugendlichen ersetzen. Das Buch richtet sich vor allem an Psychotherapeut*innen. Ein psychodynamisches Therapieverständnis und Kenntnis der entsprechenden Begriffe und Modelle sowie Einblicke in das PITT-Konzept (für Erwachsene) sind sicher sehr hilfreich und können das Verständnis positiv beeinflussen. Die Rezensentin ist in einem anderen Psychotherapierichtlinienverfahren zugelassen, hat allerdings bereits mehrere themenbezogene Bücher gelesen (u.a. „Imagination als heilsame Kraft“, Reddemann 2017; „Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie. Ein Mitgefühls- und Ressourcen-orientierter Ansatz in der Psychotraumatologie“, Reddemann 2021) und ein viertägiges Einstiegs-Seminar zu PITT (für Erwachsene) absolviert. Vor diesem Hintergrund wurden die Ausführungen des Buches sehr gut verständlich und die Darstellungen haben die (erhofften) Übertragungs- und Anwendungsmöglichkeiten des Konzepts für die Arbeit mit Kindern ermöglicht. Das Buch bietet aus Sicht der Rezensentin zugleich für alle Therapeut*innen, die mit Kindern und Jugendlichen mit (komplexen) Traumatisierungen arbeiten – unabhängig von Richtlinienverfahren, Ausbildungsstand und Vorerfahrungen –, Wissenswertes und Hilfreiches. Die ressourcenorientierte, das Leid und die Überlebensleistung würdigende Grundhaltung und die Grundannahme der zentralen Bedeutung einer vertrauensvollen, Sicherheit bietenden therapeutischen Beziehung können verfahrensübergreifend als eine Basis für gelingende trauma-bezogene Interventionen gelten. Die Autor*innen betonen nachdrücklichst die zentrale Bedeutung von Beziehungsarbeit und verweisen in diesem Zusammenhang u.a. auch auf die hohe Bedeutung der Diagnostikphase, die vielmehr als nur die Ausgabe und Auswertung von Fragebögen umfasst, denn „Diagnostik ist keine technische Angelegenheit – auch in der Diagnostik machen wir Beziehungsarbeit“ (S. 87). Als grundlegend für die therapeutische Arbeit sehr hilfreich erweist sich aus Sicht der Rezensentin zudem auch der Blick auf den ‚Sinn‘ von Symptomen von Komplextrauma. Die Autor*innen beschreiben etwa die für Betroffene häufig unerklärlichen Körperphänomene, die mit Komplextraumatisierungen einhergehen können und „oft eine unglaubliche präzise Verbindung zu ‚Jubiläen‘“ haben, in einem anschaulichen Sprachbild „als ‚Einträge im Kalender des Körpergedächtnisses‘ (auch ohne bewusste Erinnerung an das zugehörige Ereignis)“ (S. 83). Hier wie an vielen anderen Stellen des Buches bieten die Autor*innen hervorragende Anknüpfungspunkte für die psychoedukative Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen sowie ihren Bezugspersonen, um eigenes häufig als ‚sinnlos‘ oder ‚negativ‘ erfahrenes Erleben und Verhalten (für sich selbst und andere) nachvollziehbarer zu machen und so behutsam Selbstverständnis und Selbstmitgefühl zu fördern.
Fazit
Basierend auf ihrer fachlichen Expertise, insbesondere aber auch den langjährigen Erfahrungen in der therapeutischen Arbeit mit Menschen mit (komplexen) Traumatisierungen vermitteln die Autor*innen hervorragend, wie die Prinzipien und Interventionen der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie in der therapeutischen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen angewendet werden können. Für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen eröffnen sie einerseits ein fundiertes und praxisnahes Bild des konkreten Vorgehens, verdeutlichen andererseits aber auch, wie anspruchsvoll die therapeutische Arbeit ist und welche besonderen Herausforderungen z.B. im Umgang mit intrusivem Spiel und der Begegnung mit verletzenden Anteilen auftreten können. Letztlich macht das Buch daher vor allem auch Lust zur weiteren Beschäftigung und der Vertiefung der Inhalte im Rahmen einer PITT-Weiterbildung.
Rezension von
Dr. Sandra Wesenberg
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Leipzig und Lehrbeauftragte an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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Zitiervorschlag
Sandra Wesenberg. Rezension vom 14.11.2024 zu:
Luise Reddemann, Silvia Höfer, Fee Schäfer: PITT mit Kindern und Jugendlichen. Die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie in der Praxis. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-89309-0.
Reihe: Leben lernen - [339]. .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32394.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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