Lars Alberth, Christoph T. Burmeister et al. (Hrsg.): Politiken der Kindheit
Rezensiert von Agata Skalska, 18.03.2025

Lars Alberth, Christoph T. Burmeister, Nicoletta Eunicke, Markus Kluge (Hrsg.): Politiken der Kindheit.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
244 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7547-2.
D: 39,00 EUR,
A: 40,10 EUR.
Reihe: Kindheiten. .
Thema
Der Sammelband ist Teil der von Helga Kelle herausgegebenen Reihe „Kindheiten“ und verfolgt das Ziel, die vielfältigen Dimensionen der Beziehung zwischen Kindheit und Politik systematisch zu beleuchten und die gesellschaftsanalytische Relevanz von Kindern und Kindheit aufzuzeigen. Dabei steht nicht nur die Untersuchung spezifischer Kinderpolitiken im Mittelpunkt, sondern insbesondere die generelle gesellschaftliche Aushandlung von Kindheit als fundamentale Strukturkategorie, in der öffentliche und private Interessen, Ressourcen und Identitäten kontinuierlich neu verhandelt werden. Die Kategorie Kindheit rückt dabei immer wieder in den Fokus politischer Prozesse – oftmals ohne, dass Kinder selbst zu Wort kommen. Da Kinder und Kindheiten in den politikwissenschaftlichen Dimensionen – Polity, Policy und Politics – sichtbar werden, schließen sich Politik und Kindheit nicht gegenseitig aus (S. 9). Folglich wird in den Beiträgen des Sammelbandes herausgearbeitet, dass Kindheit per se immer politisch ist – sowohl als Gegenstand staatlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen als auch als analytischer Schlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher Ordnungen.
Herausgeber:innen
Lars Alberth (Leuphana Universität Lüneburg) forscht zur Soziologie der Kindheit, Gewalt, generationale Ordnung, Kinderschutz sowie Herrschaft und Kulturfabrikation.
Christoph T. Burmeister (HU Berlin) beschäftigt sich mit soziologischen Theorien, Poststrukturalismus, Subjektivierung, Bio-Politik und sozial-ökologischen Fragen.
Nicoletta Eunicke (Uni Mainz) arbeitet zu Kindheits-, Familien- und Ungleichheitsforschung, Familie und Schule sowie qualitativen Methoden, insbesondere Biografieforschung mit Kindern.
Markus Kluge (Uni Münster) fokussiert sich auf Kindheitsforschung, frühpädagogische Grundlagen und erziehungswissenschaftliche Ratgeberforschung.
Aufbau
Die Beiträge des Bandes gliedern sich in drei thematische Schwerpunkte. Im ersten Teil „Das politische der Kindheit“ werden empirische und konzeptionelle Ansätze vorgestellt, die das wechselseitige Verhältnis von Kindheit und politischen Prozessen beleuchten. Die Beiträge zeigen, wie Kindheit in verschiedenen politischen Arenen und sozialen Sphären institutionell verankert wird und gleichzeitig als Objekt politischer Maßnahmen fungiert – etwa durch die Integration in diskursive und materielle Ordnungen sowie durch Praktiken des „Silencing“ (S. 13). Der Abschnitt eröffnet mit einer Kritik essentialistischer Perspektiven durch Kluge und Burmeister, die mithilfe poststrukturalistischer und neumaterialistischer Ansätze eine Theorie des politischen Kindes entwickeln. Weitere Beiträge analysieren die mediale Berichterstattung zur Corona-Pandemie (Grunau), die Auswirkung urbaner Verkehrsorganisation auf kindliche Mobilität in New York (Freutel-Funke) und thematisieren mittels kritischer Alltagstheorien die institutionelle Organisation kindlicher Routinen (Schröder/Obitz). Im zweiten Teil des Sammelbandes, das sich mit „Politiken ungleicher Bildungskindheiten“ beschäftigt, wird der Zusammenhang zwischen Bildungskindheit und sozialer Ungleichheit empirisch untersucht. De Moll und Schwarzenthal invertieren den klassischen bildungssoziologischen Blick, indem sie die Perspektiven von Schulkindern auf Leistungsbewertung und soziale Ungleichheit analysieren. Nienhaus beleuchtet anhand von Leitfadeninterviews, wie Akteur:innen in der frühen Bildung die Wirksamkeit von Bildungsplänen in Bezug auf die Reduktion von Ungleichheiten einschätzen, während Kämpfe in Gruppendiskussionen mit Grundschulkindern das Spannungsfeld zwischen selbstbestimmter Partizipation und der fremdbestimmten Logik institutioneller Bildungsprozesse herausarbeitet. Der dritte Abschnitt des Sammelbandes mit der Überschrift „Demokratie, Partizipation und Kinderrechte“ präsentiert theoretische und empirische Perspektiven auf Kinder als politische und rechtliche Subjekte sowie auf Prozesse der Demokratisierung. Mühlbacher plädiert für eine Politik der Sorge als alternatives Konzept zu liberalen Kinderrechten, während Hübenthal und Kluge die paradoxen Dimensionen demokratischer Partizipation in der frühen Bildung kritisch diskutieren. Birnbacher und Durand untersuchen die normative Konsistenz von Leitbildern zwischen Makro- und Mikroebene, Dreke betont die historische Dynamik der politischen Akteurschaft von Kindern, und Franz plädiert für die Professionalisierung der Kindheitswissenschaften als eigenständige Kinderrechtsprofession.
Inhalt
In dieser Rezension werden aus jedem der drei Abschnitte jeweils ein Beitrag genauer beleuchtet, um einen adäquaten Eindruck von dem Sammelband vermitteln zu können.
Der Beitrag von Thomas Grunau „Die Soziale Arena um Kindheit in der Covid-19-Pandemie. Über die Unterbrechung und Restauration des sozialinvestiven Kindheitsmusters“ untersucht, wie in der Covid‑19‑Pandemie Kinder und Kindheit in medialen Diskursen als zentrale Elemente politischer Auseinandersetzungen konstruiert wurden.
Der Text führt damit ein, dass die Covid‑19‑Pandemie widersprüchliche Positionen zur Rolle von Kindern hervorgebracht hat. Während etwa in den Medien einerseits Kinder als potenzielle „Virenschleudern“ (S. 49) dargestellt wurden, führten politische Maßnahmen zur Eindämmung des Virus – wie die Schließung von Kitas und Schulen – zu tiefgreifenden Veränderungen im Alltag der Kinder. Diese Eingriffe unterbrachen das sozialinvestive Kindheitsmodell, das in den vergangenen Jahrzehnten als Schlüsselinstrument zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten etabliert war. Der Beitrag positioniert sich dabei innerhalb des theoretischen Rahmens, in dem soziale Arenen als öffentliche Diskursräume verstanden werden, in denen die Richtigkeit und Angemessenheit politischer Maßnahmen (z.B. Pandemiemaßnahmen) ausgehandelt werden.
Aufbauend auf dem Wandelpotenzial von Kindheit als gesellschaftliche Institution veranschaulicht Grunau, wie sich das traditionelle Ideal der Familienkindheit – das den Schutz und die behütete Entwicklung innerhalb der Familie betont – hin zu einer sozialinvestiven Kindheit gewandelt hat. Frühzeitige Investitionen in öffentliche Bildungs- und Betreuungseinrichtungen gelten dabei als entscheidend für die langfristige Reduktion sozialer Ungleichheiten. Studien, beispielsweise von Bühler‑Niederberger, Mierendorff und Klinkhammer, belegen, dass politische Diskurse und staatliche Dokumente Kinder überwiegend als Objekte administrativer und präventiver Maßnahmen konstruieren, während ihre eigene Perspektive weitgehend unberücksichtigt bleibt. Vor diesem Hintergrund wird das sozialinvestive Kindheitsmuster in diesem Beitrag als „sensitizing concept“ herangezogen, um zu analysieren, wie Kindheit als normatives Kultur- und Strukturmuster in politischen Diskursen reproduziert wird.
Grunau bedient sich eines methodischen Ansatzes, der sowohl situative als auch korpuslinguistische Verfahren kombiniert. Grundlage der Analyse ist ein Korpus von 1.138 Print- und Onlineartikeln aus renommierten überregionalen Medien (u.a. „Der Spiegel“, „Bild“, „Die Zeit“ und die FAZ), der den Zeitraum von Frühjahr 2020 bis Frühjahr 2021 abdeckt. Dieser Zeitraum wird in zwei Phasen unterteilt. Die erste Phase (März 2020 – August 2020) erfasst den Beginn der Pandemie und die anfängliche Reaktion in den Medien, währen die zweite Phase (September 2020 – April 2021) die zeitliche Verschiebung in der Diskursstruktur dokumentiert und in der virologische Argumente zunehmend durch pädagogische und ökonomische Rechtfertigungen abgelöst werden. Zur Analyse werden Kookkurrenzanalysen durchgeführt, bei denen die lexikalische Umgebung von Begriffen wie „Kind“ untersucht wird, um dominante Diskursmuster und hegemoniale Forderungen zu identifizieren.
Die empirischen Ergebnisse werden anhand der beiden Pandemiephasen dargestellt. So kam es in der Frühphase der Pandemie zu einer radikalen Irritation des sozialinvestiven Kindheitsmusters und in den Medienberichten dominieren insbesondere generationale Differenzierungen, virologische Argumentationen und politische Legitimationen. Mit fortschreitender Pandemie verschiebt sich der Diskurs, so nimmt die virologische Fachterminologie ab, während Wörter wie „Schnupfen“ und „mild“ in den Vordergrund treten. Kinder werden zunehmend nicht mehr als Gefahr, sondern als schutzbedürftige Subjekte dargestellt. Begriffe wie „Wohlbefinden“, „belasten“ oder „leiden“ spiegeln eine Sorge um die psychische und physische Gesundheit der Kinder wider. Hinzu kommt die Betonung von kontinuierlicher institutioneller Betreuung, um langfristige Bildungs- und Entwicklungseinbußen zu vermeiden. Im weiteren Verlauf der Pandemie wird zwischen verschiedenen Risikogruppen differenziert: Kinder aus einkommensschwachen Familien, Familien mit Migrationshintergrund oder solche mit begrenzten Wohn- und Bildungsressourcen werden als besonders gefährdet herausgestellt. Insgesamt zeigt der Beitrag, wie in der Pandemie das sozialinvestive Kindheitsmuster zunächst unterbrochen und dann – unter Hinzunahme pädagogischer, ökonomischer und politischer Rechtfertigungen – wiederhergestellt wurde. Dabei dient die Untersuchung der medialen Diskurse als Beispiel für die Funktion sozialer Arenen, in denen öffentliche und hegemoniale Aushandlungen über das Wesen und die Zukunft von Kindheit geführt werden.
Der Beitrag von Frederick de Moll und Miriam Schwarzenthal mit dem Titel „Bildungschancen und soziale Ungleichheit aus der Sicht von Kindern“ befasst sich mit der Wahrnehmung von Bildungschancen und sozialer Ungleichheit aus der Perspektive von Kindern. Während Kinder in gesellschaftlichen Diskursen häufig auf ihre zukünftige Rolle als Erwerbstätige und Steuerzahlende reduziert werden, bleibt ihre eigene Sicht auf soziale Ungleichheiten weitgehend unberücksichtigt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund relevant, dass Kinder in erheblichem Maße von gesellschaftlichen Problematiken wie Armut, Bildungsungleichheit und Diskriminierung betroffen sind. Die Autor:innen argumentieren, dass gesellschaftliche Strukturen und soziale Hierarchien in die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von Individuen eingeschrieben sind und sich folglich auch in den Überzeugungen von Kindern manifestieren. Trotz dieser theoretischen Annahmen existiert bislang wenig empirische Forschung dazu, inwiefern Kinder soziale Ungleichheiten im Bildungssystem wahrnehmen und bewerten.
Diese Forschungslücke adressieren die beiden Autor:innen mit ihrer Studie, welche die Überzeugungen von Grundschulkindern zu ungleichheitsrelevanten Fragen untersucht und auf der Annahme basiert, dass soziale Ordnung und deren Reproduktionsmechanismen nur unter Einbezug kindlicher Perspektiven vollständig erfasst werden können. Dabei werden klassenspezifische und migrationsbezogene Ungleichheitsdimensionen berücksichtigt, um zu analysieren, wie Kinder schulische Phänomene wie die Notengebung im Kontext von Leistungsgerechtigkeit und sozialer Ungleichheit bewerten. Die Untersuchung erfolgt auf Grundlage einer quantitativen Sekundäranalyse der EDUCARE-Studie, in deren Rahmen Dritt- und Viertklässler an deutschen Grundschulen zu ihren Einstellungen gegenüber Bildungsungleichheit befragt wurden. Im Mittelpunkt der Analyse stehen drei zentrale Ungleichheitsdimensionen: der materielle Wohlstand der Familie, das kulturelle Kapital und die Einwanderungsgeschichte der Eltern.
Die Ergebnisse zeigen, dass viele Kinder den schulischen Erfolg als unabhängig vom Einkommen der Eltern wahrnehmen, gleichzeitig jedoch eine Benachteiligung von Kindern mit Einwanderungsgeschichte erkennen. Die stärkste Korrelation besteht zwischen der wahrgenommenen Notengerechtigkeit, der angenommenen Unabhängigkeit des Lernerfolgs vom Einkommen und der Bedeutung individueller Leistung. Dies deutet darauf hin, dass Kinder an die Fairness des Schulsystems glauben. Die Benachteiligung von Kindern mit Einwanderungsgeschichte wird dabei jedoch eher auf individuelle als auf strukturelle Ursachen zurückgeführt.
Die Analyse der Hypothesen zeigt, dass sozioökonomisch benachteiligte Kinder eher erkennen, dass materielle Ressourcen den Bildungserfolg beeinflussen, während privilegierte Kinder dies seltener wahrnehmen. Ein signifikanter Unterschied zeigt sich darin, dass benachteiligte Kinder häufiger angeben, dass der schulische Erfolg nicht unabhängig vom Wohlstand der Eltern ist. Bei der Betrachtung des kulturellen Kapitals ergibt sich ein widersprüchliches Bild: Während Kinder mit geringerem kulturellem Kapital die Bedeutung von Anstrengung stärker betonen und die Notenvergabe eher als gerecht empfinden, nehmen sie dennoch Bildungsgerechtigkeit kritischer wahr als privilegierte Kinder.
Kinder mit Einwanderungsgeschichte bewerten Anstrengung als entscheidend für den Gymnasialübertritt, sehen jedoch gleichzeitig größere schulische Schwierigkeiten für Kinder „aus anderen Ländern“. Dies deutet darauf hin, dass sie Benachteiligungen eher individuellen als strukturellen Faktoren zuschreiben. Insgesamt ergibt sich kein kohärentes Muster ungleichheitskritischer Einstellungen, da Benachteiligungen zwar erkannt, aber nicht unbedingt mit systemischer Ungerechtigkeit verknüpft werden.
Die Ergebnisse werfen zudem demokratietheoretische Fragen auf. Insbesondere der systemkonforme Habitus sozial benachteiligter Kinder könnte sozialer Mobilität und politischer Partizipation im Wege stehen. Politische Maßnahmen sollten daher darauf abzielen, ein kritisches Bewusstsein für soziale Ungleichheiten zu fördern. Zudem bleibt offen, inwieweit Kinder mit Einwanderungsgeschichte in der Schule weiterhin Barrieren und stereotypisierten Erwartungen ausgesetzt sind. Hier bedarf es weiterer Forschung sowie einer stärkeren Berücksichtigung kindlicher Perspektiven.
Der Beitrag von Claudia Dreke mit dem Titel „Gesellschaftliche Umbrüche: Kinder als Akteur:innen und Statisten politischer Zukunftsprojekte“ untersucht, wie gesellschaftliche Erwartungen an Kinder je nach sozialer Gruppierung variieren und welche Handlungsspielräume sich für Kinder in hierarchischen generationalen Strukturen ergeben. Dabei wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Umbrüchen und Kindheit analysiert, da nach Dreke Umbrüche bestehende Erwartungen verändern und neue hervorbringen können. Theoretisch stützt sich die Argumentation auf die Konzepte der Agency als Resultat sozialer Relationen sowie der generationalen Ordnung und verknüpft diese mit Popitz' Begriff der sozialen Einheiten, die normative Erwartungen prägen.
Als Ausgangspunkt wird von der Autorin ein Transparent aus der DDR-Umbruchszeit 1989/90 mit der Aufschrift „WIR KINDER SIND AUCH das VOLK“ vorgestellt, das Kinder als politische Akteur:innen sichtbar macht. Es verweist sowohl auf die gemeinsame Zugehörigkeit von Kindern und Erwachsenen zum „Volk“ als auch auf die hierarchische generationale Ordnung, die ihre politische Teilhabe begrenzt.
Fokussiert wird die Rolle von Kindern im politischen Protest während der DDR-Umbruchszeit 1989/90, insbesondere im Kontext der Montagsdemonstrationen. Kinder nahmen an diesen Protesten teil, oft gemeinsam mit ihren Eltern, und waren Teil eines komplexen Wechselspiels von Wahrnehmungen, Erwartungen und politischen Handlungsräumen. Das bereits erwähnte Transparent verdeutlicht ihren Anspruch auf politische Mitbestimmung, wobei sich die Botschaft eng an die Forderungen des reformorientierten Alternativmilieus anlehnt.
Dreke zeigt auf, dass Kinder in diesem Milieu als „kompetente Komplizen“ (S. 211) agierten, indem sie die revolutionären Erwartungen progressiver Erwachsener erfüllten. Gleichzeitig widersprach ihr Protest jedoch den offiziellen Normen des DDR-Erziehungssystems, in dem öffentlicher Widerstand als Erziehungsversagen galt. Während die Reformbewegung Kinder als Akteur:innen der gesellschaftlichen Erneuerung ansah, hätte das sozialistische Establishment deren Beteiligung als Normverstoß gewertet. Das Umbruchsgeschehen eröffnete somit auch Kindern die Möglichkeit, das bestehende System zu hinterfragen und eigene Zukunftsvorstellungen einzubringen. Welche Protestformen als legitim galten, hing jedoch von den dominierenden gesellschaftlichen Normensetzungen ab – sei es durch den Staat, reformorientierte Erwachsene oder durch Gleichaltrige.
In Krisenzeiten reflektieren Medien, Schulbücher und politische Debatten konkurrierende Erwartungen an Kinder. Das hier erwähnte Transparent „WIR SIND AUCH das VOLK“ reiht sich in diese Tradition ein, indem es Kinder als politische Subjekte in der DDR-Umbruchszeit positioniert. Ähnliche Muster zeigen sich in aktuellen Debatten, etwa bei Fridays for Future, wo konservative und progressive Medien unterschiedliche Deutungen kindlicher Proteste liefern. Auch rechtspopulistische Bewegungen nutzen idealisierte Kindheitsbilder, um politische Narrative zu formen. In all diesen Prozessen bleibt Kindheit ein umkämpftes Terrain, das gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegelt und politische Handlungsspielräume von Kindern zugleich eröffnet und begrenzt.
Dies wird u.a. über Untersuchungen zu „Ego-Dokumenten“ (S. 218) von Kindern aus historischen Umbruchzeiten deutlich, wie etwa zur Oktoberrevolution 1917 oder den osteuropäischen Umbrüchen ab 1989/90. Die Analyse zeigt, dass Kinder politische Ereignisse individuell und abhängig von sozialen Zugehörigkeiten unterschiedlich wahrnahmen. Zeichnungen, Erinnerungen und Berichte dokumentieren sowohl Verwirrung als auch bewusste politische Positionierungen, etwa durch Protesthandlungen im Schulkontext. In der Forschung sind Dreke zufolge die langfristigen Folgen solcher Erfahrungen für das spätere politische Handeln bislang wenig untersucht. Es wird angeregt, Ego-Dokumente stärker in die Analyse einzubeziehen, um Zusammenhänge zwischen Kindheitserfahrungen in Umbruchszeiten und politischen Orientierungen im Erwachsenenalter besser zu verstehen.
Die Autorin diskutiert in dem Beitrag die Relevanz politischer Sozialisation für die Kindheitssoziologie und betont die Bedeutung kindlicher Erfahrungen in gesellschaftlichen Umbrüchen für spätere politische Handlungsorientierungen. Hier könnte die Kindheitssoziologie dazu beitragen, politische Sozialisation im Kontext generationaler Machtverhältnisse und unterschiedlicher sozialer Einheiten zu untersuchen. Dies wäre anschlussfähig an die Transformationsforschung sowie an die historische Kindheitsforschung. Dabei sollte der Begriff Sozialisation nicht normativ, sondern als Analyseinstrument zur Untersuchung der Entstehung gegenwärtiger politischer Orientierungen verstanden werden.
Diskussion
Der Sammelband „Politiken der Kindheit“ leistet einen bedeutenden Beitrag zur interdisziplinären Erforschung der vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Kindheit und politischen Prozessen. Besonders hervorzuheben ist der Ansatz, Kindheit nicht nur als Objekt staatlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen zu betrachten, sondern sie auch als analytische Kategorie zur Untersuchung sozialer Ordnungen fruchtbar zu machen.
Die Bandbreite der behandelten Themen – von der Konstruktion kindlicher Subjektivität in politischen Diskursen über Bildungsgerechtigkeit bis hin zu Partizipation und Kinderrechten – verdeutlicht die Vielschichtigkeit politischer Aushandlungsprozesse um Kindheit. Die empirischen und theoretischen Analysen zeigen eindrücklich, dass Kindheit nicht außerhalb des Politischen steht, sondern stets von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt ist.
Die Beiträge sind insgesamt gut verständlich, richten sich jedoch vor allem an ein wissenschaftliches Fachpublikum mit Interesse an den vielfältigen Dimensionen von Kindheit.
Fazit
Der Sammelband untersucht die politische Dimension von Kindheit und zeigt auf, wie Kindheit als gesellschaftliche Strukturkategorie verhandelt wird. Durch empirische und theoretische Analysen wird verdeutlicht, dass Kindheit nicht nur Gegenstand politischer Prozesse ist, sondern auch ein Schlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher Ordnungen darstellt.
Rezension von
Agata Skalska
Kindheitspädagogin M. A. Nachwuchsprofessorin an der Hochschule Düsseldorf
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