Selma Cejvan, Leonora Gerbeshi et al.: Mitbestimmung in der Grundschule
Rezensiert von Jörg Raeder, 16.10.2024

Selma Cejvan, Leonora Gerbeshi, Sabine Martschinke, Sonja Ertl, Miriam Grüning: Mitbestimmung in der Grundschule. Anregungen aus der Praxis für die Praxis. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 257 Seiten. ISBN 978-3-7799-7746-9. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Das Buch widmet sich der Umsetzung des in der UN-Kinderrechtskonvention verankerten Anspruchs von Kindern auf Mitbestimmung im Schulalltag von Grundschulen. Dabei werden insbesondere die unterschiedlichen individuellen Ausgangslagen der Kinder berücksichtigt. Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung praxisnaher Beispiele. Zudem sollen die Beiträge des Buches dazu beitragen, die in der Praxis gewonnenen Erfahrungen in Bezug auf die Umsetzung partizipativer Pädagogik in Grundschulen zu transferieren. Lehrer:innen sollen befähigt werden, die im Buch versammelten Anregungen auf ihre eigene Berufspraxis zu übertragen.
Herausgeber:innen und Autor:innen
Herausgegeben wurde das Buch von Selma Cejvan, Leonora Gerbeshi, Sabine Martschinke, Sonja Ertl und Miriam Grüning. Die Herausgeberinnen sind überwiegend in Lehre und Forschung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig, während Miriam Grüning an der Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik in Berlin lehrt und forscht. Die Forschungsschwerpunkte der Herausgeberinnen liegen vorwiegend im Bereich der Grundschulforschung, wobei ihre Forschungsinteressen eng mit dem Thema des Buches verknüpft sind.
Den Herausgeberinnen war es ein Anliegen, Autor:innen für die im Buch versammelten Beiträge zu gewinnen, die authentisch aus der Praxis berichten können. Daher stammen viele der Texte von Grundschullehrer:innen und Schulrektor:innen.
Entstehungshintergrund
Das Buch stellt den Nachfolgeband zu Mitbestimmung von Kindern – Grundlagen für Unterricht, Schule und Hochschule (Grüning et al. 2022) dar. Während im ersten Band theoretische und empirische Grundlagen zur Mitbestimmung in verschiedenen Unterrichtskontexten behandelt wurden, zielt der vorliegende zweite Band darauf ab, die im ersten Band gewonnenen Erkenntnisse praxisnah zu konkretisieren.
Aufbau und Inhalt
Der Titel gliedert sich nach einem kurzen Vorwort in vier Kapitel. Jeder Beitrag in diesen Kapiteln enthält praxisnahe Beispiele, die dem Titel des Bandes gerecht werden. Am Ende jedes Beitrags findet sich zudem eine grafisch abgesetzte Übersicht mit Tipps zur Umsetzung von Mitbestimmung im beruflichen Alltag von Pädagog:innen. Im Folgenden wird zur besseren Übersicht jeweils ein Beitrag pro Kapitel zusammengefasst.
1. Praxisbedarfe und Unterstützungsangebote für mehr (und qualitätsvolle) Mitbestimmung in der Grundschule.
Im ersten Teil des Buches werden Ergebnisse empirischer Untersuchungen vorgestellt, die im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführt wurden. Überdies werden Handlungsempfehlungen zur Umsetzung von Mitbestimmung im pädagogischen Alltag von Grundschulen skizziert.
Am Beispiel des ersten Beitrags des Kapitels lässt sich dies veranschaulichen. Die Autor:innen leiten aus den Ergebnissen einer Expert:innen-Befragung die Notwendigkeit einer frühzeitigen Demokratiebildung in Grundschulen ab. Ferner zeigt die Studie einen Bedarf an Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte im Bereich Mitbestimmung auf. Im Kontext der Studie betonen die Autor:innen die Entwicklung spezifischer Grundhaltungen, die auf das Thema Mitbestimmung ausgerichtet sind und sich in der pädagogischen Umsetzung im Arbeitsalltag widerspiegeln sollten. Ferner identifizieren die Autor:innen einen Bedarf an Netzwerkarbeit, da Mitbestimmung Kooperationsprozesse erfordert. An die zentralen Ergebnisse der Studie anknüpfend, geben die Autor:innen gezielte Hinweise für Lehrkräfte und deren Unterrichtsgestaltung.
2. Praxisbeispiele zur Mitbestimmung im institutionell organisierten Rahmen durch Mitbestimmungsgremien.
Der zweite Teil des Buches thematisiert einerseits Mitbestimmung als institutionalisierte Form und beschreibt andererseits verschiedene Beispiele praktizierter Mitbestimmung.
Ausgehend von den Anliegen der Schüler:innenschaft einer Grundschule, die sich auf die Konfliktkultur der Schule beziehen, thematisiert der abschließende Beitrag dieses Abschnitts die Bedeutung von Mitbestimmungsgremien für die schulische Lern- und Streitkultur. Auf Basis der Überlegungen von Derecik, Goutin und Michel (2018) zur Partizipationsförderung in Ganztagsschulen erläutern die Autor:innen, wie Mitbestimmungsgremien interagieren und zielgerichtet eingesetzt werden können. Dabei bestätigen sie den positiven Einfluss der Beteiligung von Schüler:innen in solchen Gremien auf die Entwicklung ihrer Sozial- und Selbstkompetenzen. Zugleich wird hervorgehoben, dass insbesondere in den Anfängen der Mitwirkung von Schüler:innen eine intensive Begleitung durch pädagogische Fachkräfte erforderlich sein kann.
3. Praxisbeispiele zur Mitbestimmung im Schulleben
Im dritten Kapitel des Bandes fokussieren sich die Beiträge auf alltägliche Formen der Mitbestimmung in Grundschulen.
Am Beispiel eines Spendenprojekts wird in einem Beitrag aufgezeigt, wie eine von Kindern einer dritten Klasse initiierte Aktion zur Beteiligung der gesamten Schulgemeinschaft und letztlich zur Selbstorganisation der Schüler:innenschaft führt. Die Autor:innen kommen zu dem Schluss, dass der Erfolg solcher Projekte maßgeblich davon abhängt, dass Pädagog:innen Macht abgeben und die Rolle von Lernbegleiter:innen einnehmen. In diesem Zusammenhang betonen sie die zentrale Bedeutung gegenseitigen Vertrauens, vornehmlich das Vertrauen der Pädagog:innen in die Fähigkeiten und Kompetenzen der Schüler:innen. Unter diesen Bedingungen lassen sich Erfolge messen, etwa in Form eines gestärkten Selbstbewusstseins der beteiligten Schüler:innen.
4. Praxisbeispiele zur Mitbestimmung im Unterricht
Das vierte Kapitel des Buches vereint eine Vielzahl von Beiträgen zur Praxis der Mitbestimmung im Unterricht, wobei in einigen Texten spezifische Schwerpunkte gesetzt werden.
Ein Beispiel hierfür ist der Beitrag zur Bedeutung Gewaltfreier Kommunikation nach Rosenberg (2016) für die Praxis der Mitbestimmung in Schulen. Der Autor des Beitrags nimmt dafür die Giraffensprache in den Blick und erläutert, wie diese zur gelingenden Mitbestimmung im Schulalltag beitragen kann. Er skizziert das Konzept hierfür zunächst in seinen Grundlagen, um anschließend die methodische Umsetzung im Unterricht darzustellen. Der Autor kommt im Fazit des Textes zu dem Ergebnis, dass Gewaltfreie Kommunikation als Voraussetzung für Mitbestimmung in Schulen verstanden werden kann, da sie ein achtsames und respektvolles Miteinander fördert. Voraussetzung hierfür ist, dass Pädagog:innen sich den Herausforderungen stellen, die mit der Einführung einer ungewohnten Kommunikationsform wie der Giraffensprache einhergehen.
Diskussion
Das Buch besticht insgesamt durch eine übersichtliche und gut strukturierte Gestaltung, die sich durch einen klar erkennbaren roten Faden auszeichnet. Hervorzuheben ist die gelungene Auflockerung der Texte durch zahlreiche grafische Darstellungen, die nicht nur ansprechend wirken, sondern auch zur besseren Verständlichkeit der Inhalte beitragen. Die Vielzahl an Beispielen bietet für Leser:innen einen breit gefächerten Überblick über das Thema als auch die Möglichkeit zur individuellen Vertiefung. Besonders positiv fällt auf, dass der Band viele praktische Beispiele gelebter Mitbestimmung in Grundschulen vermittelt und jeder Beitrag mit visuell abgegrenzten Tipps und Handlungsempfehlungen abschließt. Dies weist auf die Praxisrelevanz der Inhalte hin und berücksichtigt das oft für die Pädagogik diskutierte Theorie-Praxis-Problem (vgl. Rothland 2022, Neuweg 2023).
Anzumerken ist, dass nach der Vielzahl an interessanten Beiträgen ein Schlussteil fehlt, der die Erkenntnisse des Buches bespricht und einen Ausblick gibt. Ein weiterer Kritikpunkt ist die Vielzahl an Texten im letzten Kapitel, die verschiedene thematische Schwerpunkte behandeln. Diese thematische Vielfalt könnte einige Leser:innen herausfordern. Gleichzeitig erlaubt sie jedoch, dass Leser:innen nach individuellen Interessen Schwerpunkte setzen und selektiv vorgehen können, was wiederum als Stärke des Buches gewertet werden könnte.
Fazit
Der Band stellt insgesamt eine lohnende Lektüre für Grundschullehrer:innen, aber auch für Pädagog:innen aus anderen Arbeitsfeldern dar, die Mitbestimmung in ihrer Arbeit implementieren wollen. Die vielen praktischen Beispiele und Tipps für die Arbeit bieten dabei einen fruchtbaren Boden für eine gelingende Umsetzung von Mitbestimmung in pädagogischen Einrichtungen. Die leichte Lesbarkeit sowie viele gelungene Illustrationen tragen ebenso hierzu bei. Insgesamt bietet das Buch eine durchdachte und praxisnahe Aufarbeitung des Themas, mit wenigen strukturellen Schwächen, aber einer insgesamt hohen Relevanz für Theorie und Praxis gleichermaßen.
Quellenangaben
Derecik, Ahmet/Goutin, Marie-Christine/Michel, Jana (2018): Partizipationsförderung in Ganztagsschulen. Innovative Ideen und komplexe Praxishinweise, Wiesbaden: Springer.
Grüning, Miriam/Martschinke, Sabine/Häbig, Julia/Ertl, Sonja (Hrsg., 2022): Mitbestimmung von Kindern. Grundlagen für Unterricht, Schule und Hochschule, Weinheim: Beltz Juventa.
Neuweg, Georg H. (2023): Theorie-Praxis-Problem, in: Huber, Matthias/Döll, Marion (Hrsg.): Bildungswissenschaft in Begriffen, Theorien und Diskursen, Wiesbaden: Springer, 621–627,[online]https://doi.org/10.1007/978-3-658-37858-5_77, zuletzt abgerufen am 30.09.2024.
Rothland, Martin (2022): „Theorie“ und „Praxis“ in der Lehrer:innenbildung: Auf der Suche nach fachspezifischen Verhältnisbestimmungen in den Fachdidaktiken. Ein Rezensionsaufsatz, in: Zeitschrift für Bildungsforschung (2023) 13:163–181, [online] https://doi.org/10.1007/s35834-022-00373-3, zuletzt abgerufen am 30.09.2024.
Rosenberg, Marshall B. (2016).: Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens, 12., überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Paderborn: Junfermann.
Rezension von
Jörg Raeder
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