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Julia Schröder: Eine Sozialpädagogik der Pflege

Rezensiert von Franziska Weiser, 22.11.2024

Cover Julia Schröder: Eine Sozialpädagogik der Pflege ISBN 978-3-7799-8386-6

Julia Schröder: Eine Sozialpädagogik der Pflege. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 128 Seiten. ISBN 978-3-7799-8386-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.

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Thema

Julia Schröder greift in ihrem Werk „Eine Sozialpädagogik der Pflege“ die dringende und gesellschaftlich relevante Frage auf, wie Pflege im Sinne der Sozialpädagogik/​Sozialen Arbeit [1] als multidimensionales Handlungsfeld verstanden und gestaltet werden kann. Schröder schlägt dabei eine Brücke zwischen den traditionellen Konzepten von Pflege, die oft auf medizinische und pflegerische Aspekte fokussieren, und den sozialen Dimensionen von Care/Sorge, wie sie in der Sozialpädagogik diskutiert werden. Sie argumentiert, dass ein sozialpädagogischer Pflegebegriff nicht nur Hilfe und Unterstützung meint, sondern auch ein Menschenbild fordert, das Pflegebedürftigkeit als Lebensphase anerkennt, die Rechte, Selbstbestimmung und Teilhabe einschließt​.

Autorin

Die Autorin Frau Dr. phil. Julia Schröder arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit (sexualisierter) Gewalt und Schutzkonzepten, Pflege und Care, aber auch mit Queer Studies und metaphorischer Kommunikation.

Aufbau

Das Buch ist in sechs Kapitel gegliedert und strukturiert sich entlang theoretischer Grundlagen, empirischer Befunde und praxisorientierter Überlegungen, die die Rolle der Sozialpädagogik in der Pflege aufzeigen.

Inhalt

In der Einleitung positioniert Schröder die Pflege als zentrale gesellschaftliche Aufgabe, die eine interdisziplinäre Perspektive benötigt. Sie betont, dass die Sozialpädagogik als Theorie und Praxis eine notwendige Ergänzung zur herkömmlichen, Pflege bietet, da sie die Pflegebedürftigkeit nicht isoliert als medizinisches Problem, sondern als sozial und gesellschaftlich geprägten Prozess versteht. Die Autorin hebt hervor, dass die Sozialpädagogik wichtige Konzepte einbringen kann, um Pflegebedürftigen soziale Teilhabe, Selbstbestimmung und Würde zu ermöglichen und gleichzeitig die pflegenden Strukturen zu stärken​.

Im zweiten Kapitel „Care/Sorge vs. Pflege: Schritte zur Systematisierung eines sozialpädagogischen Pflegebegriffs“ untersucht Schröder die Begriffe Care/Sorge und Pflege und setzt sie in einen sozialpädagogischen Kontext. Sie stellt fest, dass im deutschen Sprachraum der Begriff „Care“ mehrdimensional ist und sowohl familiäre als auch professionelle Pflegeleistungen umfasst, während „Pflege“ oft auf medizinische Hilfe reduziert wird. Schröder plädiert dafür, Care und Pflege als zwei sich ergänzende Perspektiven zu betrachten, die die Bedürfnisse der Pflegenden und die der Gepflegten gleichwertig einbeziehen. Sie zeigt auf, dass die Soziale Arbeit von einer „pädagogischen Sorgeethik“ profitieren kann, die Care als Beziehungsarbeit versteht und somit die sozialen, emotionalen und intergenerationellen Perspektiven von Pflege explizit berücksichtigt. Schröders Ansatz, Care und Pflege zusammenzuführen, verdeutlicht die gesellschaftliche Verantwortung, die über rein gesundheitliche Aspekte hinausgeht und die Lebensqualität und soziale Anerkennung von Pflegebedürftigen betont​.

Im nachfolgenden Kapitel „Bildung, Alter und Demenz: Bildung braucht Pflege, Pflege braucht Bildung“ widmet sich die Autorin dem oftmals wenig in Verbindung gebrachten Verhältnis von Bildung und Pflege. Sie argumentiert, dass Bildung im Alter eine wichtige Ressource darstellt, um soziale Isolation zu verhindern und Identität auch bei Demenzerkrankung zu bewahren. Pflege sollte daher nicht nur auf physische Unterstützung beschränkt sein, sondern auch Bildungsaspekte einbeziehen, die auf Selbstbestimmung und soziale Teilhabe zielen. Schröders Forderung nach einer ganzheitlichen Pflege ermutigt dazu, die individuellen Ressourcen und Fähigkeiten der Pflegebedürftigen zu respektieren und sie in Bildungsangebote einzubinden, die ihren Bedürfnissen gerecht werden​.

Im vierten Kapitel mit dem Titel „Sichere Orte? Schutzkonzepte in der stationären Altenpflege“ thematisiert Julia Schröder die Problematik von organisationalen Schutzkonzepten in Pflegeheimen. Anhand der Daten aus dem Forschungsprojekt „Sichere Orte? Schutzkonzepte in Pflegeheimen für Demenzkranke“ zeigt sie empirisch auf, dass durchaus Schutzmaßnahmen implementiert sind. Allerdings kritisiert sie hierbei die oft paternalistischen Ansätze, die die Rechte der Pflegebedürftigen vernachlässigen, und fordert eine partizipative Pflegekultur. Diese Kultur sollte nicht nur durch institutionelle Regelungen, sondern durch eine wertschätzende und menschenrechtsorientierte Haltung geprägt sein, die ältere Menschen als aktive Mitgestaltende ihres Lebensraums einbindet. Schröder zeigt auf, dass Schutz in Pflegeeinrichtungen nicht allein durch Sicherheitsmaßnahmen, sondern durch die Förderung von Autonomie und Mitbestimmung gewährleistet werden kann​.

Das anschließende Kapitel „Partizipatives Forschen mit alten, pflegebedürftigen Menschen“ beleuchtet die methodischen und ethischen Herausforderungen partizipativer Forschung im Bereich der Pflege älterer Menschen. Die Autorin weist darauf hin, dass pflegebedürftige Menschen oft von der Forschung ausgeschlossen bleiben, was ihre Subjektivität und ihr Recht auf Mitwirkung verletzen. Sie diskutiert verschiedene Ansätze partizipativer Forschung, die pflegebedürftigen Menschen die Möglichkeit geben, an der Festlegung von Forschungsthemen und -fragen mitzuwirken und ihre Perspektiven aktiv einzubringen. Julia Schröder betont, dass die Partizipation pflegebedürftiger Menschen nicht nur ethisch notwendig ist, sondern auch zu einer Demokratisierung des Wissens beiträgt, indem es neue Einsichten aus der Sicht der Betroffenen ermöglicht. Schröder zeigt, dass partizipative Forschung dabei helfen kann, Forschungsprozesse an die Bedarfe und Lebenswelten der Menschen anzupassen und ihnen so eine Stimme im wissenschaftlichen Diskurs zu geben​.

Im abschließenden Kapitel „Was am Ende bleibt oder: Perspektiven einer sozialpädagogischen Theorie der Pflege“ führt die Autorin die zuvor benannten verschiedenen Diskurse zusammen. Hierbei formuliert Schröder eine sozialpädagogische Theorie der Pflege, die sich an den Prinzipien von Schutz/​Protection, Teilhabe/​Participation und Bildung/​Provision orientiert. Sie argumentiert, dass diese Prinzipien auch auf andere Lebensphasen und Altersstufen anwendbar sein sollten und dass Pflege als intergenerationale Aufgabe betrachtet werden muss, die gesellschaftliche Verantwortung und gegenseitige Anerkennung einschließt. Damit skizziert sie eine sozialpädagogische Theorie der Pflege, die auf gegenseitiger Verantwortung und der Anerkennung der Würde des Einzelnen basiert und eine neue, menschenrechtsorientierte Pflegekultur einfordert​.

Diskussion

Der Autorin Julia Schröder gelingt es, eine differenzierte Analyse der sozialpädagogischen Dimensionen in der Pflege zu entwickeln, die auf mehreren Ebenen innovativ ist. Ihre Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Care und Pflege verdeutlicht, dass beide Konzepte wechselseitig voneinander profitieren können, um Pflege als integrativen sozialen Prozess zu verstehen. Schröder betrachtet Care und Pflege nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Ansätze, die Pflegebedürftigen Autonomie und Würde ermöglichen und die ethischen sowie menschenrechtsorientierten Prinzipien der Sozialpädagogik in der Pflegepraxis verankern.

Besonders hervorzuheben ist Schröders kritische Auseinandersetzung mit der oft fehlenden Partizipation pflegebedürftiger Menschen in der Forschung. Sie zeigt, dass viele Studien lediglich über, nicht aber mit den Betroffenen durchgeführt werden, und fordert eine Einbeziehung pflegebedürftiger Menschen als „Co-Forschende“. Diese partizipative Forschung ist aus Sicht der Autorin nicht nur ethisch geboten, sondern methodisch fruchtbar, da sie die Wissensproduktion demokratisiert und neue Erkenntnisse ermöglicht.

Ein weiterer bedeutsamer Beitrag ist Schröders sozialpädagogische Verankerung des Partizipationsbegriffs als zentrales Element der Pflegepraxis. Der Ansatz, Partizipation auch für pflegebedürftige Menschen zu fordern, verdeutlicht, wie Pflege als aktiver Prozess des Empowerments und der sozialen Inklusion verstanden werden kann. Dieser Punkt stellt eine bedeutende Weiterentwicklung des Pflegeverständnisses dar und bietet der Sozialen Arbeit neue Perspektiven, um marginalisierten Gruppen mehr Teilhabe zu ermöglichen.

Kritisch könnte man anmerken, dass Schröder weniger auf die praktischen Herausforderungen für Pflegekräfte und pflegenden Angehörigen eingeht, die mit der Umsetzung ihrer Konzepte verbunden sind. Der Fokus des vorliegenden Buches liegt stark auf theoretischen und sozialpädagogischen Grundlagen von Pflege sowie auf der Perspektive von Pflegebedürftigen, wodurch die Sichtweise der Pflegenden weniger Beachtung finden. Ein weiterer Punkt, der das Verständnis erschweren könnte, ist die teils anspruchsvolle Formulierung des Buches, die für Studierende oder Fachkräfte in der Praxis oder auch Fachkräfte aus anderen Disziplinen wie der Pflege eine Hürde darstellen könnte. Da es sich jedoch um eine Habilitationsschrift handelt, ist dies nachvollziehbar.

Insgesamt bietet Julia Schröders Buch eine bedeutende Erweiterung des Pflegebegriffs und liefert wertvolle Impulse für die sozialpädagogische Theorie und Praxis in der Altenpflege. Ihre Argumentation, Pflege als soziale Verantwortung mit strukturellen und politischen Dimensionen zu betrachten, regt zur Reflexion und Neuorientierung in der Pflegewissenschaft an und stellt eine praktische Orientierungshilfe dar, die das Potenzial hat, die Pflegekultur nachhaltig zu verändern.

Fazit

Mit „Eine Sozialpädagogik der Pflege“ legt Julia Schröder eine durchdachte und tiefgreifende Untersuchung vor, die die konventionellen Grenzen der Pflege erweitert und diese als umfassende soziale Praxis neu begreift. Schröders fundierte Analyse und ihr interdisziplinärer Ansatz eröffnen neue Perspektiven für die Praxis und Forschung in der Pflege, die die Rechte, Teilhabe und Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen ins Zentrum stellen. Ihr Buch ist ein wesentlicher Beitrag zur sozialpädagogischen und pflegewissenschaftlichen Diskussion und liefert wertvolle Anstöße für eine menschenwürdige und partizipative Pflegekultur.


[1] Die Autorin verwendet die beiden Begriffe Sozialpädagogik und Soziale Arbeit synonym, weshalb die beiden Begriffe in dieser Rezension ebenfalls synonym verwendet werden.

Rezension von
Franziska Weiser
M.A. Soziale Arbeit, freie Doktorandin (Universität Vechta & ASH Berlin) sowie psychosoziale Beraterin in einer Frauenberatungsstelle
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Es gibt 4 Rezensionen von Franziska Weiser.

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Zitiervorschlag
Franziska Weiser. Rezension vom 22.11.2024 zu: Julia Schröder: Eine Sozialpädagogik der Pflege. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. ISBN 978-3-7799-8386-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/32401.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.


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