Dieter Röh, Barbara Dünkel et al. (Hrsg.): Hochschulentwicklung und Akademisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Eleonore Oja Ploil, 30.04.2025
Dieter Röh, Barbara Dünkel, Friederike Schaak (Hrsg.): Hochschulentwicklung und Akademisierung in der sozialen Arbeit 1960-1980. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 155 Seiten. ISBN 978-3-7799-7331-7. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband entstand als Ergebnis der historischen Tagung „1960 – 1980: Die bewegten und bewegenden Jahre in Ausbildung, Praxis und Wissenschaft der Sozialen Arbeit“ im Mai 2022 an der HAW Hamburg, Department Soziale Arbeit und stellt eine Auswahl der Vorträge der Tagung dar. Nur der Beitrag von Peter Buttner entstammt nicht der Tagung. Die Herausgeber_innen sind Prof. Dr. Röh, MA Barbara Dünkel und BA Friederike Schaak. Bei den Beiträgen handelt es sich um Aufsätze von Hochschullehrer_innen und Disserationsprojekte.
Aufbau
Der Sammelband ist untergliedert in die Themenschwerpunkte
- Entwicklungen an den Hochschulen
- Entwicklung der Wissenschaft Sozialer Arbeit/der Sozialpädagogik und
- Internationaler Seitenblick.
Inhalt
Entwicklungen an den Hochschulen
1. Von der höheren Fachschule zur evangelischen Fachhochschule Bochum – Akademisierung (auch) aus der Perspektive ehemaliger Student*innen. Carola Kuhlmann zeichnet die Entwicklungslinien der Akademisierung der Ausbildung von Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik nach. Besonders gelungen sind die Passagen in denen die Aufbruchstimmung, die Bereitschaft zur Rebellion aber auch die Demokratisierung der sozialen Proteste beschrieben werden. Das komplizierte Verhältnis Sozialwesen – Soziale Arbeit- Sozialpädagogik bedürfte deutlich mehr Raum als es in einem Sammelband möglich ist. Kuhlmann gibt hier einen kurzen Überblick.
2. Von der Unwahrscheinlichkeit des Erfolgs: Eine Prüfung von Ambivalenzen in der frühen Phase der Akademisierung Sozialer Arbeit durch Gründung der Fachhochschulen. Der Schwerpunkt des Beitrags von Dieter Röh ist die Gründung der Fachhochschulen mit den Studiengängen Soziale Arbeit//Sozialpädagogik auf Basis der Analyse von Dokumenten und Interviews von Zeitzeug_innen am Beispiel Hamburg. Drei Thesen werden bezogen auf folgende Themen verfolgt: erstens Prozess der Akademisierung, zweitens Praxis-Theorie Entwicklung und drittens politische Kontroversen an FHs als Zeichen der Zeit. Konfliktlinien, Lösungsversuche und Entwicklungen werden auf Basis der Thesen und der zur Verfügung stehenden Forschungsmaterialien im Anschluss anschaulich und schlüssig dargestellt.
3. „Roter Fleck auf grüner Wiese“ – zum Gründungsmythos der Fachhochschule Ostfriesland. Der Titel des Beitrags von Carsten Müller des roten Fleckes bezieht sich sowohl auf das rote Gebäude als auch auf politische Orientierungen und beschreibt auch den Inhalt des Beitrages: Das Spannungsfeld zwischen Hochschule, Region und Politik. Die Basis des Beitrags sind vielfältige Quellen von Flugblättern, Zeitschriften, Zeitungen und Protokollen. Die Methode ist bildhermeneutisch. Dabei geht es überwiegend um den Kampf um den Erhalt und den Ausbau der Fachhochschule in Ostfriesland, dem „Armenhaus Niedersachsens“.
4. Supervisionsweiterbildungen der katholischen Akademie für Jugendfragen in Münster als Beitrag zur Professionsbildung im Vorfeld der Fachhochschulgründungen (1960–1970) Volker Jörn Walpuski zeichnet die Entwicklung der Akademien für Jugendfragen in Münster in den 60er und 70er Jahren nach. Diese Akademien bildeten eine Schnittstelle zwischen Universität und Praxis im Vorfeld der Fachhochschulgründungen. Die Akademie für Jugendfragen in Münster sei laut dieses Beitrags besonders für die Verknüpfung von Casework mit Supervision bekannt gewesen. Inwieweit die Begegnung von Baltussen mit Karl Rogers ausgerechnet zur Öffnung für psychoanalytische Anteile in Casework führte (Seite 59) ist erklärungsbedürftig. Ottos Kritik am mangelnden Theoriegehalt der Fortbildungen wird erläutert.
Entwicklung der Wissenschaft Sozialer Arbeit/der Sozialpädagogik
5. Das Wissen des kritisch‐alternativen pädagogischen Milieus um 1968. Laut Friederike Thole fanden nicht nur an Universitäten sondern auch in der pädagogischen Praxis innerhalb der kritisch -alternativen Projekte um 1968 pädagogische und politische Diskurse statt. Der Austausch dieser Diskussionsergebnisse zwischen Universitäten und Praxis wird im Beitrag nachvollzogen. Die angewandte Forschungsmethode entspringt der Biografieforschung und der Diskursanalyse. Der Abschnitt über Gewalt als Thema in der (sozial)pädagogische Praxis beschreibt sehr gut wie zum Teil diffus der Diskurs der Gewalt war.
6. Staatliche Unordnung und Zähmung des Individuums Zur Bedeutung der Psychoanalyse für Berthold Simonsohns Begriff der Sozialpädagogik Norman Böttchers Ausführungen zu Simonsohns Begriff von Pädagogik und dessen Aussage, dass sich in Strafen zeige, in welchem Maße es (das Volk) auf Höhe der Kultur überhaupt steht, kann als wesentliches Grundthema des Beitrags bezeichnet werden. Tiefenpsychologisch basierte Pädagogik statt Strafe. Simonsohns Überlegungen zu Aggression und Aggression der Massen sowie der in Tiefenstrukturen verankerte Gewalt und Unterdrückungsmechanismen werden prägnant dargestellt. Erschreckend aktuell sind auch Simonsohns Überlegungen zur „Erziehung der Erzieher“.
7. Ein Resultat von Konflikten: die Akademisierung der Sozialen Arbeit Dieser Beitrag von Buttner erschien bereits im Archiv für Wissenschaft und Praxis der Sozialen Arbeit 4/2020 die Entwicklung und Spannungslinien werden auf der hochschulpolitischen der allgemeinen politischen Situation in der Gründungszeit der FHs nachvollzogen. Ebenso der Theorie – Praxis-Diskurs und die Entwicklung hin zur Forschung und Promotion.
Internationaler Seitenblick
8. Methodos, der Weg! Vom Methodenimport in der Sozialen Arbeit aus den USA und der Suche nach einem integrierten Methoden‐ und Praxismodell Joachim Wieler ist es zu verdanken, dass der Blick wieder auf die vielfältigen gegenseitigen Beeinflussungen zwischen USA und Deutschland in der Zwischenkriegszeit gewandt wird. Aus dieser Perspektive und der Zwangsmigration wichtiger Personen der Entwicklung der Sozialen Arbeit während des Nationalsozialismus spricht Wieler von Re-Import der Entwicklungen in der Sozialen Arbeit Daraus ergibt sich auch konsequent das Plädoyer der prozesshaften Integration und Verschränkung der Methoden Soziale Einzelhilfe, Gemeinwesenarbeit und Case Management. Diese Idee wird anhand eines Praxisbeispiels konkretisiert. Die Frage, wie dieses Konzept in der Lehre der Sozialen Arbeit genutzt werden könnte, rundet den Beitrag ab.
9. Die Akademisierung Sozialer Arbeit unter dem Einfluss der Frauenbewegungen in den USA und der BRD Edith Bauer beschreibt die Bedeutung und den Einfluss der Frauenbewegung auf die curriculare Entwicklung und das Lehrangebot. Sie leitet die historischen Bezüge von der Settlement Bewegung – Hull House – Jane Addams ab.
10. Soziale Arbeit auf dem Weg in die Professionalisierung – Konsolidierung, Aufruhr, Akademisierung zwischen 1960 und 1980, Manfred Neuffer’s Beitrag lässt sich in zwei Teile unterteilen: 1. Die Einführung und andere inhaltliche Entwicklung der Trias der Methoden: Soziale Einzelhilfe, Soziale Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit. 2. Darstellung der Entwicklung des Faches „Methoden in der Sozialen Arbeit“, der Kämpfe um eine Einführung der Methodenlehre, die Randständigkeit an vielen Fachhochschulen und die Professionalisierung in Lehre und Forschung.
Diskussion
Nicht herausgearbeitet wird, dass sexualisierte Gewalt z. B in der Frauenbewegung diskutiert wurde. Aber es gab noch kein Erkennen von sexuellen Missbrauch. Im Gegenteil wurde in links orientierten Kreisen zum Teil die Forderung aufgestellt Pädophilie zu legitimieren. Diese Forderung entstand meiner Erinnerung nach aus dem im Artikel von Thole angesprochenen Diskurs über Stigmatisierung (Labeling) und dem nicht angesprochenen Diskurs über den Freiheitsbegriff und der Selbstbestimmung. Dies erscheint mir besonders von Bedeutung, da sich die Begründung der Nichtveröffentlichung des Beitrags von Hans Thiersch auf diese Thematik bezieht. Gleichzeitig ist das Thema ein blinder Fleck im gesamten Sammelband. Von den HerausgeberInnen hätte ich mir gewünscht, wenn in einigen Beiträgen mehr Wert auf Primärquellen gelegt worden wäre. Für einen wichtigen Beitrag zur Geschichte Sozialer Arbeit wäre dies ein Gewinn gewesen.
Fazit
Die gesammelten Beiträge sind sehr unterschiedlich angelegt, was wohl in der Tagungsstruktur begründet liegt. Es wird deutlich, dass viele Aspekte noch beforscht werden müssten.
Rezension von
Prof. Dr. Eleonore Oja Ploil
Emeritierte Professorin für Geschichte und Theorien Sozialer Arbeit zuletzt FH Wiesbaden.
Mailformular
Es gibt 3 Rezensionen von Eleonore Oja Ploil.





