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Dima Zito, Ernest Martin: Traumasensibler Umgang mit geflüchteten Menschen

Rezensiert von Prof. Dr. Antje Krueger, 19.01.2025

Cover Dima Zito, Ernest Martin: Traumasensibler Umgang mit geflüchteten Menschen ISBN 978-3-7799-7814-5

Dima Zito, Ernest Martin: Traumasensibler Umgang mit geflüchteten Menschen. Ein Leitfaden für Fachkräfte und Ehrenamtliche. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. 104 Seiten. ISBN 978-3-7799-7814-5. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.

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Thema und Zielgruppe

Seit dem Escheinen der ersten Auflage (2015/2016) haben sich Diskurse und Begriffe laut der Autor*innen verändert, die, u.a. eine sprachliche Überarbeitung und Aktualisierung des Buches erforderlich machten. Sie „möchten niemanden abschrecken durch die Verwendung eines heute möglicherweise antiquiert oder unangemessen wirkenden Begriffs“ (S. 7) und haben sich entschieden, aufgrund negativer Konnotationen des Begriffs „Flüchtlinge“ in der vorliegenden Fassung den Begriff „Geflüchtete“ zu verwenden.

Im Zuge der Überarbeitung wurden auch die weitergehenden Literaturempfehlungen ergänzt. Ansonsten finden sich inhaltlich keine weiteren Unterschiede zur ersten Publikation. Im Fokus steht der Wunsch, Fachkräften und Ehrenamtlichen beim Verstehen und Erkennen einer Traumatisierung sowie beim Umgang mit den Betroffenen begleitend zur Seite zu stehen (vgl. S. 7): „Unser Ansinnen ist es, Menschen zu unterstützen, die durch die Konfrontation mit dem Phänomen der Traumatisierung in ihrem (Arbeits-)Alltag nicht die Zeit oder den Raum haben, sich dem Thema in der eigentlich wünschenswerten Tiefe widmen zu können“ (S. 13). Entsprechend richte sich das Buch explizit an Menschen, die ehrenamtlich oder hauptberuflich mit geflüchteten Menschen arbeiten, aber keine Ausbildung in Psychotraumatologie haben. Im Vordergrund stehe die Praktikabilität von Modellen und Theorien sowie die praxisnahe Ableitung von effektiven Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten (vgl. S. 13).

Autorin und Autor

Dima Zito, Dr. phil, ist studierte Sozialpädagogin und hat in Erziehungswissenschaften zum Thema „Kindersoldatinnen und -soldaten als Flüchtlinge in Deutschland – eine Studie zur sequentiellen Traumatisierung“ promoviert. Sie ist psychoanalytisch-systemische Supervisorin (SG), Systemische Therapeutin (DGSF), Traumatherapeutin und Psychodramatherapeutin und war von 2003–2022 Mitarbeiterin des Psychosozialen Zentrums für Geflüchtete in Düsseldorf. Neben Forschungs-, Lehr-, Supervisions- und Publikationstätigkeiten mit den Schwerpunkten Trauma und Flucht, bietet sie seit 2022 in eigener Praxis Supervision und Forschung an (www.zitovision.de)

Ernest Martin ist Diplom-Psychologe, Integrativer Gestalt-Körperpsychotherapeut, Fachberater für Psychotraumatologie (DeGPT) und verfügt über eine Ausbildung in integrierter Ehe- und Familienberatung mit psychologisch-systemischer Orientierung. Nach langjähriger Tätigkeit in verschiedenen Feldern der Jugendhilfe und in einer Beratungsstelle der Diakonie, arbeitet er seit 2012 in eigener Praxis für Psychotherapie, Paarberatung und Körperarbeit in Hückeswagen. Darüber hinaus bietet er Supervision und Fortbildung in psychosozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern an (www.praxislebenswege.de)

Aufbau und Gestaltung

Nach Vor- und Geleitworten findet sich einleitend eine Auseinandersetzung mit der besonderen Lebenssituation von geflüchteten Menschen und den daraus resultierenden Bedürfnissen (S. 15–18). Anschließend gliedert sich das Buch in vier spezifische Teile, die eine Einführung zum Phänomen Trauma bieten (Teil I), traumaspezifisches Basiswissen bereithalten (Teil II), konstruktive Unterstützungsmöglichkeiten in der Arbeit mit geflüchteten Menschen aufzeigen (Teil III) sowie Wege der Selbstfürsorge vorschlagen (Teil IV). Nach einem Schlusswort finden sich zum Ende des Buches Empfehlungen zum Weiterlesen, für alle, die ihr Wissen vertiefen möchten (S. 102).

Durch die Integration von Schlagworten bzw. Auszügen, die am Seitenrand zu finden sind, lassen sich die spezifischen Themen einzelner Abschnitte leicht identifizieren und ggf. auch selektiv auswählen. Gestalterisch abgesetzte Zitate von Betroffenen unterstreichen die Bedeutung der beschriebenen Inhalte. Zusätzlich zu diesen Elementen sind besonders relevante Inhalte und Übungen sowie Arbeitsblätter und Checklisten gesondert gekennzeichnet. Die Kapitel werden zum Teil bebildert.

Inhalt

Nach einem Vorwort der Autor*innen zur aktualisierten Auflage (vgl. S. 7/8), einem Geleitwort von Michela Huber, erste Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD, vgl. S. 9–11), folgt das originäre Vorwort aus der ersten Auflage (vgl. S. 13) und die Einleitung „Fremd in der Fremde – Die besondere Lebenssituation geflüchteter Menschen und daraus resultierende Bedürfnisse“ (S. 15–18).

Teil I Trauma – vom Drang der Seele, wieder ganz zu werden

In diesem Teil stehen die Fragen „Was passiert in einer traumatischen Situation?“ (Kap. 1) und „Wie entstehen Traumafolgestörungen? – Die Stimmen aus dem Gestern hallen ins Jetzt…“ (Kap. 2) im Zentrum. Zunächst werden neben der Unterscheidung zwischen „normalen“ Stressreaktionen und traumatischem Stress, hirnphysiologische Prozesse skizziert und Traumatypen vorgestellt. Folgend gehen die Autor*innen auf das Zusammenwirken von Ereignis-, Schutz- und Risikofaktoren ein, erläutern die Posttraumatische Belastungsstörung als „normale Reaktion auf unnormale Ereignisse“ (S. 32) und geben eine Übersicht auf Symptome, akute, längerfristige und verzögerte Belastungsreaktionen sowie die Bedeutung von Traumatisierung in der Kindheit.

Teil II Traumatisierte Geflüchtete – Basiswissen kompakt

Im Schwerpunkt dieses Kapitels steht zum einen die Frage „Wer ist warum therapiebedürftig?“ (Kap. 3), der sich Erklärungen zu den Zusammenhängen zwischen Nach-Flucht-Bedingungen, zur Entwicklung psychischer Belastungen und zur Traumatherapie anschließen. Zum anderen geht es darum, wie Unterstützende stabilisierend und ressourcenorientiert vorgehen können, indem sie eine traumasensible Haltung einnehmen und belastende Themen sowie belastende Gefühle wahrnehmen und mit ihnen umgehen lernen (Kap. 4).

Teil III Arbeiten mit Geflüchteten – systematisch und konstruktiv helfen

Hier werden sechs traumapädagogische Empfehlungen für den Umgang mit geflüchteten Menschen vorgestellt. Unter den Stichworten Sicherheit (1), die Einrichtung eines „sicheren Ortes“ (2), Wege von der äußeren zur inneren Sicherheit (3), die Bedeutung von sicherer Bindung (4), die Unterstützung positiver Selbstbilder (5) und Ressourcenorientierung (6) finden sich jeweils auf den Inhalt abgestimmte Skizzierungen der wesentlichen Aspekte und deren Übertragung auf die spezielle Situation von Geflüchteten. So werden beispielsweise wichtige Voraussetzungen benannt, die für die Arbeit mit der Zielgruppe essentiell sind (s. S. 66/67), die Relevanz struktureller Klarheit im Hinblick auf Regeln, Zuständigkeiten, Verbindlichkeit und Zeitstruktur hervorgehoben (s. S. 69/70), Verfahren zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes durch Partizipation und schönen Erlebnissen vorgestellt (s. S. 83–85) und Ideen zu Ressourcenförderung vermittelt (s. S. 87–89). Diese Themenfelder können jeweils mithilfe von Checklisten beleuchtet, reflektiert und visualisiert werden. In Kapitel drei werden verschiedene Atem- und Bewegungsübungen sowie Ablenktechniken vorgestellt (s. S. 73–79).

Teil IV Schutz vor eigenen Belastungen

Laut den Autor*innen ist Selbstfürsorge eine unabdingbare Voraussetzung, um mit belasteten Menschen arbeiten zu können (vgl. S. 92). Dieser Teil schlägt sechs Wege der Selbstfürsorge im Umgang mit Nähe und Distanz (1), Grenzen setzen (2), Abstand gewinnen (3), Unterstützung suchen (4), eigene Verletzungen heilen (5) und Auftanken (6) vor. Die Anregungen sind prägnant gestaltet und mit einem Leseaufwand von jeweils etwa einer halben Seite schnell zu erfassen.

Diskussion

Das Buch „soll eine erste Orientierung geben für das Aufeinandertreffen und Arbeiten mit Menschen, die Entsetzliches erlebt haben“ (S. 99). Diesem Anspruch wird es absolut gerecht. Die komprimierte (aber dadurch in keiner Weise zu komplexe) Darstellung relevanter Inhalte ist sehr gut nachvollziehbar und übersichtlich gestaltet. Sowohl Personen, die bislang kaum Berührungspunkte mit dem Thema hatten, als auch solche, die es als Nachschlagewerk nutzen möchten, werden sich durch die lesefreundliche Gestaltung der Kapitel sehr gut in den einzelnen Themenfeldern zurechtfinden und informiert fühlen. Die Checklisten bieten darüber hinaus eine praxisnahe Unterstützung. Dass sie auch als kostenloser Download im DIN A4-Format zur Verfügung stehen, ist zudem sehr serviceorientiert (vgl. S. 4). Da sich das Buch, wie im Vorwort beschrieben, insbesondere an Laien und nicht an Spezialist*innen richtet, muss hervorgehoben werden, dass die Autor*innen den Blick explizit auch auf die ehrenamtliche Arbeit mit geflüchteten Menschen richten und hier u.a. Missverständnisse und (falsche) Erwartungen in der Beziehungsgestaltung und im Bindungsanbot thematisieren (vgl. S. 81f). Ob für diese Zielgruppe, vor allem, wenn sie recht neu als Ehrenamtliche tätig sind und/oder methodisch kaum Erfahrungen in der Anleitung von Techniken haben, die vorgeschlagenen Übungen ausreichend beschrieben sind, ist eine andere Frage. Hier würde ich zumindest zur Vorsicht aufrufen und hätte mir gewünscht, dass die Übungen zur „Orientierung im Jetzt und Hier“ (5-4-3-2-1, s. S. 62) nicht nur abgebildet, sondern auch stärker kontextualisiert worden wäre. Bei der Beschreibung der Atem- und Bewegungsübungen sowie Ablenktechniken gelingt dies deutlich besser, da jeweils auf spezifische und nötige Abwägungen im Vorfeld einer methodischen Integration hingewiesen wird (vgl. Teil III, Kap. 3).

Mit Blick auf die Aufmachung und Gestaltung des Buchs ist die numerische Gliederung im Inhaltsverzeichnis (zumindest) für Wissenschaftler*innen verwirrend angelegt, da sie ein- und ausleitend keine Nummerierung vorsieht, dann, trotz bezifferter Teile eine fortlaufende Kapitelnummerierung durch die ersten zwei Teile anbietet, diese dann im dritten Teil auflöst und mit einer jeweils erneuten Zählreihe beginnt (vgl. 5/6). Trotz dieser eher formalen Irritation ist das Verzeichnis übersichtlich gestaltet, genauso wie das Layout der einzelnen Kapitel. Die Integration von Zeichnungen und Fotos lockert den Text auf, wenngleich die Auswahl relativ beliebig erscheint und keinem einheitlichen Designkonzept folgt. Dies ist wahrscheinlich der Lizenzfreien Verfügbarkeit geschuldet, wie der Bildnachweis nahelegt (vgl. S. 103), und am Ende sicher eine Geschmacks- wie Kostenfrage. Denn gerade mit Blick auf die Zielgruppen der Publikation ist der Kaufpreis überzeugend und macht das kleine Werk auch für Interessierte außerhalb eines wissenschaftlich oder institutionell beschäftigten Publikums erschwinglich.

Fazit

Die lange und breite Expertise der beiden Autor*innen in der Begleitung von geflüchteten Menschen sowie in der Supervision von Fachkräften und Ehrenamtlichen wird sowohl in der Struktur des Buches wie in der gekonnten inhaltlichen Verknüpfung von Theorie, Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten sichtbar: die Inhalte sind sehr verständlich wie Nutzer*innenfreundlich aufbereitet und dargestellt. Der vorliegende Band zeigt sich vor allem für „Laien“ als bereichernder Einstieg in das Thema des traumasensiblen Umgangs mit geflüchteten Menschen, eignet sich allerdings genauso zum Nachschlagen spezifischer Aspekte und methodischer Anregungen. Allen, die aus diesen Motiven heraus einen kleinen und kompakten Leitfaden suchen, sei er ans Herz gelegt.

Rezension von
Prof. Dr. Antje Krueger
Professorin für „Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft“ und „Internationale Soziale Arbeit“ an der Hochschule Bremen.
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Es gibt 12 Rezensionen von Antje Krueger.

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ISSN 2190-9245